An den Leser
[...]
Kirchlichkeit - das ist die Bezeichnung für jene Zufluchtsstätte,
wo die Unruhe des Herzens sich legt, die Anmaßung des Verstandes
gebändigt wird und ein großer Friede sich auf die
Vernunft niedersenkt. Zwar vermag niemand zu definieren, was
Kirchlichkeit ist, und natürlich wird auch in Zukunft niemand
dazu imstande sein. Alle, die das versuchen, widerlegen einander
und verneinen gegenseitig die Formel der Kirchlichkeit. Gerade
diese Undefinierbarkeit der Kirchlichkeit, ihre Unerfaßbarkeit
durch logische Begriffe, ihre Unaussagbarkeit beweist, daß
die Kirchlichkeit Leben ist, ein besonderes, neues, den
Menschen gegebenes Leben, jedoch, wie alles Leben, dem Verstande
unzugänglich. Die Meinungsverschiedenheiten bei der Definition
der Kirchlichkeit, die Möglichkeit vieler Begriffsbestimmungen,
in denen von verschiedenen Seiten versucht wird, in Worten festzustellen,
was Kirchlichkeit ist, diese Buntheit unvollständiger und
immer ungenügender Wortformeln für die Kirchlichkeit
bestätigen ihrerseits empirisch, was der Apostel schon gesagt
hat; ist doch die Kirche der Leib Christi, "die Fülle
(to plhxwma) des alles in allem
Erfüllenden" (Eph. 1, 23). Wie kann also diese
Fülle des göttlichen Lebens in den engen Sarg einer
logischen Begriffsbestimmung eingebettet werden? Es wäre
lächerlich zu meinen, daß diese Unmöglichkeit
etwas wider das Bestehen der Kirchlichkeit beweisen könnte.
Im Gegenteil wird letzteres dadurch weit eher begründet.
Insofern die Kirchlichkeit früher ist als ihre einzelnen
Manifestationen, insofern sie jenes göttlich-menschliche
Element ist, aus dem sich in dem geschichtlichen Gang der kirchlichen
Menschheit die Rangfolgen der Sakramente, die Formulierungen
der Dogmen, die kanonischen Regeln und zum Teil sogar die fließende
und zeitliche Ordnung des kirchlichen Lebens sozusagen verdichten
und herauskristallisieren - insofern bezieht sich vornehmlich
auf diese Fülle die Prophezeiung des Apostels: "Es
muß auch Meinungsverschiedenheiten unter euch geben"
(1. Kor., 11, 19) - Meinungsverschiedenheiten in der Auffassung
der Kirchlichkeit. Nichtsdestoweniger nimmt ein jeder,
welcher nicht aus der Kirche flieht, schon durch sein Leben das
einheitliche Element der Kirchlichkeit in sich auf und weiß,
daß es eine Kirchlichkeit gibt und was sie ist.
Dort, wo das geistige Leben fehlt, ist etwas Äußeres
zur Sicherung der Kirchlichkeit notwendig. Ein besonderes Amt,
der Papst, oder eine Gesamtheit, ein System von Ämtern,
die Hierarchie - das ist das Kriterium der Kirchlichkeit für
den Katholiken. Eine bestimmte konfessionelle Formel, das Symbol
oder ein System von Formeln, der Text der Schrift - das ist das
Kriterium der Kirchlichkeit für den Protestanten. Letzten
Endes ist hier wie dort entscheidend der Begriff - der kirchlich-juristische
bei den Katholiken, der kirchlich-wissenschaftliche bei den Protestanten
-. Aber dadurch, daß er zum obersten Kriterium wird, macht
der Begriff jede Äußerung des Lebens überflüssig.
Und mehr noch als das: weil kein Leben mit dem Begriff kommensurabel
sein kann, so vollzieht sich alle Bewegung des Lebens unvermeidlich
jenseits der vom Begriff bezeichneten Grenzen und erscheint
dadurch schädlich; unduldbar. Für den Katholizismus
(natürlich meine ich sowohl den Katholizismus wie den Protestantismus
in ihrem Grundprinzip) ist jede selbständige Äußerung
des Lebens unkanonisch, für den Protestantismus ist
sie unwissenschaftlich. Hier wie dort wird das Leben durch
den Begriff beschnitten, von vornherein im Namen des Begriffes
abgelehnt. Wenn man dem Katholizismus gewöhnlich die Freiheit
abstreitet und sie dem Protestantismus entschieden zuschreibt,
so ist beides gleich ungerecht. Auch der Katholizismus anerkennt
die Freiheit, aber ... eine vorher festgelegte; jedoch alles
was außerhalb dieser Grenze liegt, ist ungesetzlich. Und
auch der Protestantismus anerkennt den Zwang, aber ... ebenfalls
nur außerhalb der vorher bezeichneten Grenzen des Rationalismus;
alles, was außerhalb ihrer liegt, ist unwissenschaftlich.
Wenn man in dem Katholizismus den Fanatismus einer kanonischen
Denkart erblicken kann, so in dem Protestantismus den nicht geringeren
Fanatismus der Wissenschaftlichkeit.
Die Undefinierbarkeit der orthodoxen Kirchlichkeit - ich wiederhole
es - ist der beste Beweis ihrer Lebendigkeit. Natürlich
sind wir nicht imstande, ein kirchliches Amt anzugeben, von welchem
wir sagen könnten, daß es in sich die Kirchlichkeit
vereinige; wozu dienten dann auch alle übrigen Ämter
und Betätigungen der Kirche! Auch können wir keine
Formel und kein Buch angeben, das das kirchliche Leben in seiner
ganzen Fülle erfaßt; wenn es aber ein solches Buch
oder eine solche Formel gäbe, wozu wären dann alle
andern Bücher, Formeln und Betätigungen der Kirche!
Es gibt keinen Begriff der Kirchlichkeit, aber es gibt die Kirchlichkeit
selbst, und für jedes lebendige Glied der Kirche ist das
kirchliche Leben das bestimmteste und greifbarste, was er kennt.
Aber das kirchliche Leben läßt sich nur lebensmäßig
aneignen und erfassen - nicht durch Abstraktion und verstandesmäßig.
Wenn es sich als notwendig erwiese, es in irgendwelchen Begriffen
auszudrücken, so wären nicht juristische und archäologische,
sondern biologische und ästhetische Begriffe am passendsten.
Was ist Kirchlichkeit? Sie ist ein neues Leben, ein Leben im
Geiste. Welches ist das Kriterium der Echtheit dieses Lebens?
Die Schönheit. Ja, es gibt eine besondere geistige Schönheit,
und, obwohl für logische Formeln unerfaßbar, ist sie
zugleich der einzige sichere Weg zur Bestimmung dessen, was orthodox
ist und was nicht. Die Kenner dieser Schönheit sind die
geistigen Ältesten [die geistig führenden Christen],
die Meister der "Kunst um der Kunst willen", wie die
heiligen Väter die Asketik bezeichnen. Die geistigen Ältesten
haben eine große Fähigkeit erlangt in der Erkenntnis
der wahren Beschaffenheit des geistigen Lebens. Die orthodoxe
Sinnes- und Wesensart kann wohl empfunden, aber nicht zergliedert
werden; die Orthodoxie wird aufgezeigt, aber nicht bewiesen.
Daher gibt es für jeden, der die Orthodoxie erfassen will,
nur einen Weg - die direkte orthodoxe Erfahrung. Es wird erzählt,
daß man gegenwärtig im Ausland das Schwimmen an Geräten
erlernt - auf dem Boden liegend. Gerade so kann man katholisch
oder protestantisch werden nach Büchern, ohne auch nur im
geringsten mit dem Leben in Berührung zu kommen - im eigenen
Arbeitszimmer. Um aber orthodox zu werden, muß man in das
Element der Orthodoxie selbst untertauchen, anfangen orthodox
zu leben - einen anderen Weg gibt es nicht.
[Übersetzung
Nikolai von Bubnoff]
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