pavel florenskij

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band 5 raum und zeit

 

 

 

 

 

 

 

Herausgegeben und aus dem Russischen übersetzt von Olga Radetzkaja und Ulrich Werner
392 Seiten / Format 205 x 125 mm / Pappband
Ê 29,65
ISBN 3-931337-29-4

Mit einer Beilage zum Leben und Werk Pawel Florenskis, einer Chronik, Text- und Briefauszügen, zusammengestellt von Sieglinde und Fritz Mierau

 

 

Inhalt

Die Bedeutung der Räumlichkeit
Die umgekehrte Perspektive
Analyse der Räumlichkeit und der Zeit in Werken der bildenden Kunst

 

 

 

In seinen berühmten Aufsätzen über die Perspektive und Räumlichkeit in der Kunst umreißt Pawel Florenski das Projekt einer neuen, an der mittelalterlichen Sakralmalerei orientierten Kunst und rechnet mit dem damaligen Kanon ab. Mit besonderen Furor verdammt Florenski die Zentralperspektive, wie sie seit der Renaissance in der westlichen Kunst vorherrschte und auch die Malerei in Rußland beeinflußte - denn sie mache den Betrachter zum passiven Theaterzuschauer und den äußeren, zufälligen Schein der visuellen Welt zum Gegenstand der hohen Kunst. Dem stellt er die Kunst des Mittelalters, aber auch die der alten Ägypter gegenüber, welche die illusionistische Darstellung keineswegs aus Naivität verschmäht habe, sondern weil man in einem platonischen Sinn auf das Wesenhafte der Welt Wert habe legen wollen.

Die perspektivisch-illusionistische Kunst ist für Florenski das Symptom einer geistigen Krise, sie bezeugt den Verlust des verbindlichen, religiös-metaphysischen Weltverständnisses. Das war in der hellenistischen Antike, als illusionistische Wandgemälde in Mode kamen, nicht anders als im ausgehenden Mittelalter, da ein aus der Theaterdekoration hergeleitetes Kunstgewerbe eines Giotto die wahre religiöse Kunst verdrängen konnte. ...

Als Geschütze gegen den Naturalismus in der Kunst fährt Florenski ein überwältigendes Arsenal aus der Wahrnehmungsphysiologie und -psychologie auf. Angefangen bei dem Umstand, daß die perspektivische Darstellung nur den Sinneseindruck eines einzelnen Auges simulieren kann, während das natürliche Sehen zwei nicht-identische Bilder erzeugt, deren Kombination erst die Tiefenwahrnehmung ermöglicht. Außerdem kultiviere die Zentralperspektive einen untätigen, unbeweglichen Betrachter, der wie ein Dieb durch ein Guckloch in die Welt blickt. Das tatsächliche Sehen werde hingegen geformt von unserer Aktivität, der Bewegung im Raum, um die Gegenstände herum und von unserer Synthese der verschiedenen Eindrücke. Florenski weitet seine Argumentation aus zu einem Generalangriff gegen die europäische Aufklärung und das cartesianisch-kantisch-euklidische Weltbild, welches nach seiner Diagnose wiederum die Welt als Theater und das Ich als Zuschauer auffaßt und damit für Untätigkeit und Unkreativität steht.

Florenski beharrt auf die grundsätzliche Interaktivität allen Geschehens in der Welt und betrachtet deshalb ganz postmodern Subjekt und Objekt als prinzipiell nicht unterscheidbar. Alles Objektive hat seine innere Seite, wie auch alles Subjektive nach außen tritt. Er entwickelt diesen Gedanken anhand seiner implikationsreichen Vorstellung von der "aktiven Passivität": Jede Kraft ist auf ein empfängliches Gegenüber angewiesen, um wirksam werden zu können. ...

Kerstin Holm, Frankfurter Allgemeine Zeitung

 

 

Für die seit geraumer Zeit geführte Diskussion um Moderne und Postmoderne hat das Werk Pawel Florenskis für die Kunst-Wissenschaft und für die Künstler eine besondere Bedeutung, die zugleich weit über die aktuelle Kunst-Diskussionen hinausreicht. Florenskis theoretische Ansätze, die der empirischen Erfahrung von Wirklichkeit einen angemessenen Raum zugestehen, ist geeignet, die im Westen bisher ungelösten Probleme der Spannung zwischen künstlerischem Individuum und Gesellschaft, zwischen "objektiver" Wahrnehmung und individueller Erfahrung, Entgrenzung der Form (Verlust der Kriterien) und künstlerischem Kanon von einer neuen Sicht her aufzugreifen.

Der besondere Vorzug der Gedankenwelt Florenskis liegt in einer Zusammenschau unterschiedlicher, aber untereinander verbundener "Modelle" des Raum-Verständnisses in Wissenschaft, Philosophie und Kunst, das für Florenski im Zentrum des Weltverständnisses in allen Denk-Systemen, die entstanden sind, steht. So sei es nicht gestattet, Kunst als vom Leben abgezogen zu erfassen. Einer im westlichen Denken (von westlicher Kunst-Praxis) üblichen antinomischen Sicht von Kunst als l'art pour l'art einerseits und ihrer Instrumentalisierung durch andere (Macht-orientierte) Systeme andererseits wird hier eine Zusammenschau entgegengesetzt, die der Kunst auch im gesamtkulturellen Gefüge einen anderen Platz zuweist als den einer "autonomen" Interpretation von Welt (mit der Folge der Überschätzung oder falschen Lokalisierung von künstlerischer Individualität), oder ihrer nach gesellschaftlichem Nutzen allein definierten Funktion.

Florenski hat mit seinen grundlegenden Kunst-Theorien entscheidenden geistigen Einfluß auf die erste russische Künstler-Avantgarde dieses Jahrhunderts ausgeübt. Die bewußte theoretische Rückbindung an ästhetische Prinzipien der Ikone etwa wäre ohne Florenski nicht denkbar gewesen. In der fundamentalen "Analyse der Räumlichkeit und der Zeit in Werken der bildenden Kunst" sowie in damit zusammenhängenden Untersuchungen über die (seiner Meinung nach einseitige und zerstörende) Bedeutung der Perspektive und des euklidischen Raumes in der Bildkunst, die er mit konkreten kunsthistorischen Beispielen belegt, sind Ansätze von großer Tragweite gegeben, die geeignet sind, die Geschichte der westlich-abendländischen (bis hin zur amerikanischen) bildenden Kunst neu zu interpretieren. Für diese Interpretation schlägt er u.a. eine Ablösung der üblichen Klassifikation der Künste nach Material und Werkzeug durch eine Orientierung an Zielen vor, bei der Art, Zeit und Grund der Entstehung unwesentlich und durch eine strukturale Beschreibung zu ersetzen sind. Damit werden wesentliche Positionen westlicher Interpretation von Kunst angegriffen und eröffnen neue, von "aktuellen" Theoremen unabhängige Sichtweisen, die geeignet sind, grundlegende formale Probleme unabhängig von Richtungen, Stilen und Zeitmoden zu überdenken und voranzubringen.

Paul Corazolla

 

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