Ferner Freund
und Bruder!
In endlosen Kreisen wirbelt der Schneesturm, mit feinem Schneestaub
bedeckt er das Fenster und klopft an die Scheiben. Über
dem Strauch vor dem Fenster ein Hügel von Schnee, und diese
Schneepyramide wächst von Stunde zu Stunde. Auf den Wegen
stiebt es; Schneerauch steigt auf unter deinen Füßen,
wenn du dich hinauswagst. Wws, wws! winselt es in den Spalten
der Ofenklappe; ein Windstoß zieht ein Heulen aus dem Ofenrohr.
Fort und fort kreisen die weißen Schneewirbel. Abgerissen
das Winterkleid von den Bäumen, mit ausgestreckten Zweigen
stehen sie entblößt, schwanken.
Du lauschst dem Sausen im Ofenrohr, dem Wws des Abzugs. Die Seele
erstirbt in dunklen Erinnerungen (oder Vorahnungen?), und es
scheint, als verschmelze sie mit dem Sausen. Es scheint, du selber
verwandelst dich in einen Schneewirbel. Das Fenster ist schon
zur Hälfte zugeschneit. Im Zimmer verbreitet sich ein dämmriges
Halbdunkel. Ein feiner bläulicher Schatten legt sich über
die Dinge. Ich richte das Heiligenlämpchen. Eine goldene
Strahlengarbe - es wird heller. Ich entzünde vor der Mutter
Gottes die duftende Honigkerze aus bernsteingelbem Wachs, die
ich von da mitgebracht habe, wo wir zusammen gegangen
sind. Ich werfe einige Körnchen Weihrauch in das Weihrauchfaß
mit den glimmenden Kohlen und blase in die Glut. Rauchfäden
ziehen in alle Richtungen; sie verwirren sich und ballen sich
zu einer bläulichen Wolke.
Soll der Schneesturm das Fenster draußen zuschütten.
Das ist gut. Dann brennt die Lampe drinnen heller, duftender
steigt der Rauch auf und ruhiger brennt die Flamme der Honigkerze.
Wir sind wieder beieinander. Jeden Tag kommt mir eine neue Erinnerung
an dich, und dann setze ich mich hin und schreibe. So gleitet
mein Leben "jenem Ufer" zu, Tag für Tag, damit
ich wenigstens von dort auf dich blicken kann,
Durch die Liebe den Tod
Und durch den Tod die Leidenschaft besiegend.
Mir geht heute jener frostige und stürmische Tag nicht aus
dem Sinn, als wir beide in die Einsiedelei Paraklet gingen.
Wir gingen durch den Wald. Der Weg war kaum befahren, und wir
blieben jeden Augenblick in dem tiefen Schnee stecken. Endlich
gelangten wir doch ans Ziel. Die wenigen Tage haben sich uns
eingeprägt wie ein ganzes Leben. Das Fasten, das gemeinsame
Gebet vor der Großen Kreuzigung. Mitten in der Nacht standen
wir auf; es war kalt. Mit Mühe erreichten wir in der Dunkelheit
die Kirche - durch die Schneewehen. Beim Hinabsteigen unter die
Erde stolperten wir. In der Kirche war es halb dunkel wie in
einer Gruft. Erinnerst du dich an den uralten Mönch, der
schon ganz gebeugt war wie der hl. Serafim? Erinnerst du dich
an Vater Pawel, den jungen fastenden Mönch, der mit uns
das Abendmahl nahm? Schon damals konnte man sehen, daß
er nicht mehr lange leben würde; weißt du, er ist
wirklich bald danach gestorben vor übermäßiger
Enthaltsamkeit. Gemeinsam empfingen wir das Abendmahl; damit
wurde der Same gelegt für all das, was ich jetzt habe. Nicht
umsonst hat unser Starez Isidor so oft zu uns gesagt (erst nach
seinem Weggang von hier beginne ich, den verborgenen Sinn
seiner hartnäckig wiederholten Worte zu begreifen): "Ein
verletzter Bruder hält härter denn eine feste Stadt."
(Spr. 18, 19) Darüber möchte ich in diesem Brief ein
wenig nachdenken.
Diejenige geistige Tätigkeit, in welcher und durch welche
das Wissen des Pfeilers der Wahrheit gegeben wird, ist die Liebe.
Aber diese Liebe ist eine gnadenreiche, die nur im geläuterten
Bewußtsein erscheint. Man muß sie erst durch ein
langes (oh, wie langes!) Werk erlangen. Um nach ihr - die für
die Kreatur unvorstellbar ist - zu streben, muß man einen
anfänglichen Stoß erhalten und bei der weiteren Bewegung
unterstützt werden. Ein solcher Stoß ist die so gewöhnliche
und dem Verstande so unbegreifliche Offenbarung der menschlichen
Persönlichkeit, welche in dem diese Offenbarung Empfangenden
als Liebe erscheint: "Die Liebe" - so sagt Heinrich
Heine - "ist ein furchtbares Erdbeben der Seele." Ich
sage die Liebe; dieses Wort gebrauche ich nicht in dem
Sinne wie früher im vierten Brief und - dennoch in demselben,
weil diese Liebe nicht das ist wie jene und zugleich die
Vorausnahme jener erwarteten. Die Liebe rüttelt den,
ganzen Bestand des Menschen auf, und nach diesem Aufrütteln,
nach diesem "Erdbeben der Seele" kann er suchen.
Die Liebe öffnet ihm die Pforten der höheren Welten,
und alsdann weht von dort die Kühle des Paradieses. Die
Liebe zeigt ihm "wie in einem leichten Traum" den hell
strahlenden Abglanz "der Wohnungen", reißt für
einen Augenblick die staubige Decke von der Kreatur herunter,
wenn auch nur an einer Stelle, und offenbart ihre von Gott erschaffene
Schönheit; sie läßt ihn die Macht der Sünde
vergessen, führt ihn aus sich heraus, spricht ein gebieterisches
"Halt!" zum Strom der durcheinander wirbelnden Gedanken
der Selbstheit und stößt vorwärts: "Gehe
und finde im Leben das, was du in schwachen Umrissen für
einen Augenblick gesehen hast." Ja, nur für einen Augenblick.
Zu sich selbst zurückgekehrt, hat die Seele Heimweh nach
der verlorenen Seligkeit, quält sich in süßen
Erinnerungen, wie ein Dichter sagt:
"Noch denke ich des Augenblickes,
wo du erschienst mir lieblich mild,
wie eine Lichtgestalt des Glückes,
wie eines reinen Engels Bild."
Jetzt steht die Seele vor der Wahl: sich entweder in die
Sünde zu versenken, welche die Persönlichkeit zerfrißt,
oder aber ... sich zu schmücken mit himmlischer Schönheit.
Hinter dem Moment des Eros in der Platonischen Bedeutung des
Wortes enthüllt sich in der Seele die jilia der höchste Punkt der Erde und die Brücke
zum Himmel. Indem sie immerdar in dem Antlitz des Geliebten den
Abglanz der ersterschaffenen Schönheit erscheinen läßt,
nimmt sie, wiewohl vorläufig und bedingt, die Schranken
der selbstischen Absonderung fort, welche die Einsamkeit ist.
Im Freunde, in diesem anderen Ich des Liebenden,
findet er den Quell der Hoffnung auf den Sieg und das Symbol,
des Zukünftigen. Und hier wird ihm die vorläufige Weseneinheit
und folglich das vorläufige Wissen der Wahrheit gegeben.
Eben auf diesen Gipfel des menschlichen Gefühls senkt sich
die himmlische Gnade jener Liebe herab. Um sich aber die Nuancen
der hier erwähnten Begriffe klar vorzustellen, muß
man in den Inhalt der vorhandenen griechischen Zeitwörter
der Liebe eindringen: die Sprache der Hellenen allein bringt
diese Nuancen unmittelbar zum Ausdruck.
Im Griechischen gibt es vier Zeitwörter der Liebe,
in denen die verschiedenen Seiten des Liebesgefühls im Worte
festgehalten werden, nämlich:
1. eoan oder, in der dichterischen
Sprache, eoasJai bedeutet, das volle und ganze
Gefühl auf den Gegenstand lenken, sich dem Gegenstand
hingehen, für ihn fühlen und wahrnehmen. Dieses Zeitwort
bezieht sich auf die Liebe als Leidenschaft, auf den eifrigen
und selbst sinnlichen Wunsch, Daraus folgt, daß eowV der allgemeine Ausdruck für die
Liebe und ihr Pathos und zugleich für den Liebes-Wunsch
ist.
2. jilein entspricht am meisten unserem "lieben"
in seiner allgemeinen Bedeutung und wird entgegengesetzt dem
misein und ecJaioein. Die Nuance, welche durch dieses
Zeitwort der Liebe ausgedrückt wird, ist die aus einer seelischen
Gemeinschaft und Nähe erwachsene innerliche Zuneigung
zu einer Person, und daher bezieht sich jilein auf jede Art der Liebe von Personen, die in irgendwelchen
innerlich nahen Beziehungen zueinander stehen. insbesondere bezeichnet
jilein (mit oder ohne den Zusatz tw stomati, mit den Lippen)
den äußeren Ausdruck dieser innerlichen Nähe,
küssen. Als ein seine Befriedigung in der Nähe
der Liebenden Findendes schließt jilein das Moment der Zufriedenheit, der Selbst-Sättigung
in sich ein; nach der Erklärung der alten Lexikographen
bedeutet jilein "aokeisJai tini, mhde
pleon epizhtein,
mit etwas zufrieden sein, nach nichts mehr suchen". Aber
anderseits, als ein sich natürlich entwickelndes
Gefühl hat jilein keine moralische oder genauer moralistische
Nuance. jilia,
jilothV
bedeutet eine freundschaftliche Beziehung, einen zärtlichen
Ausdruck der Liebe, welcher sich auf die innere Verfassung der
Liebenden bezieht. Insbesondere bedeutet jilhma den Kuß.
3. steogein bedeutet nicht die
leidenschaftliche Liebe oder die Zuneigung zu einer Person oder
zu einem Ding, nicht das Begehren nach einem Objekt, welches
unser Streben bestimmt, sondern ein ruhiges und stetiges Gefühl
im tiefsten Innern des Liebenden, so daß kraft dieses
Gefühls der Liebende das Objekt der Liebe als ihm nah zugehörig,
eng mit ihm verbunden, anerkennt und in dieser Anerkennung den
Seelenfrieden erlangt; steogein bezieht sich auf die organische, gattungsmäßige
Verbindung, welche kraft dieses Angeborenseins selbst durch das
Böse unzerreißbar ist. Solcher Art ist die zärtliche,
ruhige und sichere Liebe der Eltern zu den Kindern, des Mannes
zur Frau, des Bürgers zum Vaterland. Eine dem steogein entsprechende Bedeutung
hat auch das abgeleitete stoogh.
4. agapan weist auf eine verstandesmäßige
Liebe hin, welche sich auf eine Bewertung des Geliebten
gründet und darum nicht leidenschaftlich, nicht heiß
und nicht zärtlich ist. Über diese Liebe können
wir uns im Verstande Rechenschaft geben, weil agapan weniger Empfindungen, Gewohnheiten oder unmittelbare
Zuneigung enthält als Überzeugungen. Im allgemeinen
Sprachgebrauch der Zeitwörter der Liebe ist der Ausdruck
agapan der schwächste und entspricht am
meisten unserem schätzen, achten. Je größeren
Raum der Verstand einnimmt, um so schwächer wird das Moment
des Gefühls. Dann kann agapan sogar
bedeuten "richtig schätzen, nicht überschätzen".
Da die Bewertung ein Vergleichen, eine Auswahl ist, so schließt
agapan den Begriff einer freien, auswählenden
Willensrichtung ein.
[...]
Die griechische Sprache unterscheidet demnach vier Richtungen
in der Liebe: den stürmischen, heftigen eowV oder die Liebe der Empfindung, die Leidenschaft;
die zärtliche, organische stoogh oder die
gattungsmäßige Liebe, die Anhänglichkeit;
die etwas trockene, verstandesmäßige agaph oder
die Liebe der Bewertung, der Achtung; die herzliche, aufrichtige
jilia oder die Liebe der inneren Anerkennung,
des persönlichen Durchschauens, das Wohlwollen. Im
Grunde genommen drückt keines dieser Worte jene freundschaftliche
Liebe aus, von der in diesem Brief die Rede ist, einer Liebe,
welche die Momente jilia,
eowV
und
agaph in sich vereinigt, was die Alten durch
das zusammengesetzte Wort jilojoosunh teilweise zum Ausdruck zu bringen bestrebt waren.
Jedenfalls ist aber von allen Worten das hier am besten passende
jilein mit seinen Ableitungen.
[...]
Der vierfache Ausdruck für die Liebe ist eine der großen
Kostbarkeiten aus der Schatzkammer der griechischen Sprache,
und man wird kaum mit einem Blick den ganzen Kreis der Vorzüge
umfassen können, welche die Lebensanschauung durch dieses
vollendete Werkzeug erhält. Die anderen Sprachen können
sich nicht einmal eines ähnlichen rühmen in der Sphäre
der Idee der Liebe; daher kommen die end- und nutzlosen Debatten
und Dispute, daher auch das Bedürfnis, wenigstens ein Surrogat
der hellenischen Vierheit zu erdenken, d.h. mit Hilfe mehrerer
Worte einen Ausdruck zu schaffen, welcher dem einzelnen griechischen
Worte gleichwertig wäre.
Solche zusammengesetzte Ausdrücke schlägt Arnold Geulinx
in seiner 1665 erschienenen "Ethik" vor. Er stellt
nämlich folgende vier Arten der Liebe fest:
Amor affectionis = die Liebe des Gefühls,
Amor benevolentiae = die Liebe des Wohlwollens,
Amor concupiscentiae = die Liebe des Begehrens,
Amor oboedientiae = die Liebe der Achtung.
Im Vergleich zu den griechischen Worten für Liebe entspräche
sich ungefähr folgendes:
amor affectionis = jilia,
amor benevolentiae = agaph,
amor concupiscentiae = eowV,
amor oboedientiae = stoogh.
[...]
Die religiöse Gesellschaft wird durch ein doppeltes
Band vereinigt und zusammengehalten. Erstens durch das persönliche
Band, welches von Mensch zu Mensch gellt, und das sich auf die
Empfindung der überempirischen Realität der Glieder
der Gesellschaft untereinander als selbständiger
Einheiten, als Monaden, stützt. Zweitens ist die Wahrnehmung
des einen durch den anderen im Lichte der Idee von der ganzen
Gesellschaft ein solches Band, und dann erscheint schon nicht
die einzelne Persönlichkeit an sich, sondern die ganze
auf die Persönlichkeit projizierte Gesellschaft als Objekt
der Liebe. Für die antike Gesellschaft waren der
eowV als persönliche
Kraft und die stoogh als gattungsmäßiges Prinzip
Bande solcher Art; gerade sie bildeten den metaphysischen Pfeiler
des gesellschaftlichen Seins. Dagegen bildeten den natürlichen
Boden für die Christliche Gesellschaft als solche
die jilia in der persönlichen und die agaph in der gesellschaftlichen Sphäre.
Beide Kräfte vergeistigen und verwandeln sich, wenn
sie von der Gnade gesättigt werden, so daß die Ehe,
die ganz eigentlich die stoogh in sich aufnimmt, und die antike Freundschaft,
in der hauptsächlich der eowV erschien, im Christentum die Farben der vergeistigten
agaph und jilia annahmen.
Es genügt, die drei Dialoge des Xenophon, des Platon und
des hl. Methodius Olympicus, welche den gleichen Titel "Gastmahl"
führen, zu lesen, um diese Veredelung und Vergeistigung
der Liebesbegriffe mit erstaunlicher Plastizität hervortreten
zu lassen. Und eine solche Zusammenstellung wirkt um so anschaulicher,
als alle drei Dialoge nach dein gleichen literarischen Schema
geschrieben sind und jeder folgende als bewußte Erhebung
über den vorhergehenden erscheint. Man kann sagen, daß
alle drei Dialoge Stockwerke eines Hauses ausmachen, welche zwar
in verschiedener Höhe gebaut sind, aber ungefähr die
gleiche Zimmerverteilung haben. Wahrend in Xenophons Dialog das
tierische Leben betrachtet wird, handelt Platos Dialog vom menschlichen,
der Dialog des hl. Methodius vom englischen Leben. Indem also
der Mensch jenen Typus der Organisation, der ihm wesentlich ist,
jenes Verhältnis der Kräfte und Fähigkeiten, welches
in seiner Natur angelegt ist, bewahrt, erhebt er sich immer höher
und höher "zur Ehre eines höheren Berufes"
und vergeistigt alle Lebenstätigkeiten seines Wesens.
Der agapische Charakter der christlichen Gesellschaft
- welcher in der urchristlichen Ekklesie, in der Kirchengemeinde,
in der mönchischen Kynobie (koino-bia = Konvikt) verwirklicht wird - findet
seinen höchsten Ausdruck in den Liebesabenden oder
Agapen, welche in einem offenkundig mystischen, sogar
mysterienhaften Mit-Genuß des Allerreinsten Leibes
und Kostbaren Blutes gipfeln. In dieser Blüte des
ekklesialen Lebens liegt auch der Quell, welcher die gesamte
übrige Lebenstätigkeit der Ekklesie, vom täglichen
Märtyrertum des gegenseitigen Tragens der Lasten bis einschließlich
zum blutigen Bekenntnis nährt. Solcher Art, sage ich, ist
der agapische Charakter des Lebens. Der philische
aber verwirklicht sich in den Beziehungen der Freundschaft,
die ihre Blüte in der sakramentalen Bruder-Handlung und
in dem Mit-Genuß der hl. Eucharistie finden und
durch diesen Genuß zur gemeinsamen Werktätigkeit,
zum gemeinsamen Dulden und zum gemeinsamen Märtyrertum gefestigt
werden.
Beide Seiten des kirchlichen Lebens, d.h. die agapische
und die philische Seite, die Brüderlichkeit und die
Freundschaft verlaufen in vielem einander parallel; man
könnte auf eine Reihe solcher Formen und Schemen hinweisen,
die sich gleichmäßig auf beide Sphären beziehen.
[...] In den Punkten der größten Bedeutsamkeit, auf
ihren Höhen, suchen beide Ströme, die Brüderlichkeit
und die Freundschaft, sich vollständig miteinander zu vereinigen;
das ist auch begreiflich, denn das Christi-teilhaftig-werden
durch das Sakrament der hl. Eucharistie ist der Quell aller
Geistlichkeit. Aber nichtsdestoweniger sind sie nicht zurückführbar
aufeinander; jede ist in ihrer Art für die kirchliche
Ökonomie notwendig, in Verbindung damit und gleichwie das
persönliche Schaffen und die Stetigkeit der Tradition jedes
in seiner Art notwendig sind: ihre Verbindung ergibt eine Zwei-Einheit,
aber keine Vermischung, keine Identifizierung. Für den Christen
ist jeder Mensch ein Nächster, aber durchaus nicht jeder
- ein Freund. Der Feind, der Hasser und der Verleumder sind gleichwohl
Nächste, aber sogar der Liebende ist nicht immer ein Freund,
denn die Beziehungen der Freundschaft sind in der Tiefe individuell
und ausschließlich. So nennt sogar der Herr Jesus Christus
die Apostel nur vor dem Abschied von ihnen, auf der Schwelle
seiner Kreuzespein und seines Todes, seine "Freunde"
(Joh. 15, 15). Das Vorhandensein von Brüdern, so geliebt
sie auch immer sein mögen, beseitigt folglich nicht die
Notwendigkeit des Freundes und umgekehrt. Im Gegenteil, die Sehnsucht
nach einem Freunde wird durch das Vorhandensein von Brüdern
nur noch brennender, und die Gegebenheit eines Freundes schließt
die Notwendigkeit von Brüdern ein. 'Agaph und jilia können nur bei beiderseitiger mangelhafter
Stärke als fast dasselbe erscheinen, gleichwie nur die unreine
Ehe der - unreinen! - Jungfernschaft "ähnlich"
ist; in ihrer höchsten Form aber sind Ehe und Jungfernschaft
ein antinomisch verbundenes Paar. Aber je leuchtender und farbiger
"die entfaltete Blume der Seele" ist, um so offenkundiger
und unstreitiger ist das Antinomische der beiden Seiten
der Liebe, ihre zwiefache Verbundenheit. Um inmitten von Brüdern
zu leben, muß man einen, wenn auch fernen, Freund haben;
um einen Freund zu haben, muß man inmitten von Brüdern
leben, wenigstens im Geiste mit ihnen sein. In der Tat: um mit
allen so zu sein wie mit sich selbst, muß man wenigstens
in einem sich selbst sehen, sich selbst empfinden,
muß man an diesem einen den schon verwirklichten,
wenn auch partiellen Sieg über die Selbstheit erfahren.
Als dieser Eine erscheint eben der Freund; die agapische
Liebe zu ihm ist eine Folge der filischen Liebe zu ihm.
Aber, anderseits, damit die filische Liebe zum Freunde nicht
zu einer eigentümlichen Selbst-Liebe entarte, damit
der Freund nicht bloß zur Bedingung eines komfortablen
Lebens werde, damit die Freundschaft Tiefe erhalte, ist die Manifestation
nach außen und die äußere Entfaltung jener Kräfte,
welche, durch die Freundschaft gegeben werden, notwendig; d.h.
die agapische Liebe zu den Brüdern ist notwendig. Die jilia ist in der allgemein-kirchlichen Ökonomie
(in der die Personen - "drei Maß Mehl", die Kirche
aber - "das Weib" ist) der "Sauerteig", die
agaph aber das vor Zersetzung bewahrende "Salz"
der menschlichen Beziehungen: ohne jenen gibt es keine Gärung,
kein Erschaffen der kirchlichen Menschheit, gibt es keine Bewegung
vorwärts, kein Pathos des Lebens; ohne dieses keine Unberührtheit
von Fäulnis, keine Sammlung, keine Reinheit und Unbeschädigtheit
dieses Lebens - gibt es kein Bewahren der Pfeiler und Gesetzestafeln,
keine Organisiertheit des Lebens.
[...]
Die Antinomie agaph-jilia ist schon in den Büchern des Alten
Testaments angedeutet. Vielleicht haben auch die hellenischen
"Christen vor Christus" sie unklar vorausgesehen. Aber
vollständig hat sie sich zuerst in jenem Buch offenbart,
in dem sich die Antinomien des geistigen Lebens wahnsinnig-klar
und rettend-scharf enthüllten - im Evangelium.
Die gleichmäßige Liebe zu allen und zu jedem
in ihrer Einheit und die in einem Brennpunkt konzentrierte Liebe
zu einigen, sogar zu einem in seiner Aussonderung aus der allgemeinen
Einheit; die Klarheit vor allen, die Offenheit mit allen und
der Esoterismus, das Geheimnis für einige; der weitgehendste
Demokratismus und der strengste Aristokratismus; unbedingt alle
- die Auserwählten und die Auserwählten von den Auserwählten;
"Predigt das Evangelium aller Kreatur" (Mark. 16, 15;
vgl. Kol. 1, 23) und "Werfet die Perlen nicht vor
die Säue"; kurz: agaph-jilia -
das sind die antinomischen Paare der Frohen Botschaft. Die Kraft
des Evangeliums liegt darin, daß es allen zugänglich
ist, keines Interpreten bedarf; aber seine Kraft liegt auch darin,
daß es durch und durch esoterisch ist, daß man hier
kein einziges Wort richtig verstehen kann ohne "die Überlieferung
der Altvorderen", ohne Interpretation der geistlichen Lehrer,
welche den Sinn des Evangeliums von Generation zu Generation
stetig weitergeben. Ein wie Kristall durchsichtiges Buch und
zugleich ein Buch mit sieben Siegeln. In der christlichen Gemeinde
sind alle gleich und dennoch ist die ganze Struktur der
Gemeinde hierarchisch. Um Christus sind einige konzentrische
Schichten, die nach Maßgabe ihrer Verengerung ein immer
größeres und tieferes Wissen enthalten. An der äußeren
Peripherie - die äußeren "Volksmassen";
darauf folgen die "Christum Umgebenden"; dann die geheimen
Schüler und Anhänger wie Nikodemus, Joseph von Arimathäa,
Lazarus mit seinen Schwestern, die Frauen, welche dem Herrn folgten
usw.; ferner - die Auserwählten: "die Siebzig",
nach ihnen "die Zwölf", nach diesen - "die
Drei", d.h. Petrus, Jakobus und Johannes und schließlich
der "Eine", "welchen der Herr lieb hatte"
(Joh. 13, 23; 19, 26; 20, 2; 21, 7 u. 20). Das ist der charakteristische
Aufbau der heiligen Gemeinde der Jünger Christi. Es ist
wohl kaum nötig, noch an die Predigt in Gleichnissen, an
die Beschränkung des Zeugenkreises durch die oder jene konzentrische
Schicht, an die Erklärung des Gleichnisses unter vier Augen
zu erinnern.
[...]
Und dennoch, wenn dieses und vieles andere den unzweifelhaft
esoterischen Charakter des Christentums beweist, so gibt es eine
nicht geringere Anzahl von Datis (- sie sind wohlbekannt! -),
welche seinen völlig exoterischen Charakter beweisen. Der
Exoterismus und der Esoterismuus sind miteinander verstandesmäßig
unvereinbar und versöhnen sich nur in dem geheimnisvollen
christlichen Leben selbst, nicht aber in verstandesmäßigen
Formeln und rationalen Schemata.
Die freundschaftliche, philische Struktur der brüderlichen,
agapischen Gemeinde der Christen charakterisiert nicht nur
die hierarchische und philarchische Beziehung ihrer Mitglieder
in der Richtung auf das Zentrum, sondern auch die kleinsten Bruchstücke
der Gemeinde. Gleich einem Kristall zerfällt die Gemeinde
nicht in amorphe, nicht mehr kristallisierte - sondern in homoiomere
oder totalitätsähnliche Teile. Die Grenze der Zerstückelung
ist nicht das menschliche Atom, das sich von sich
und aus sich auf die Gemeinde bezieht, sondern das Gemeinde-Molekül,
das Freundespaar, welches als Prinzip der Handlungen erscheint,
ähnlich wie die Familie ein solches Molekül
der heidnischen Gemeinde war. Das ist eine neue Antinomie - die
Antinomie: Persönlichkeit - Zweiheit. Einerseits
ist die einzelne Persönlichkeit alles; aber anderseits
ist sie etwas nur dort, wo "zwei oder drei"
sind. "Zwei oder drei" ist etwas qualitativ Höheres
als "einer", obwohl gerade das Christentum die Idee
des absoluten Wertes der einzelnen Persönlichkeit
erschaffen hat. Absolut wertvoll kann die Persönlichkeit
nur in einer absolut wertvollen Gemeinschaft sein, obwohl
man nicht sagen kann, daß die Persönlichkeit
der Gemeinschaft vorausgehe oder die Gemeinschaft der
Persönlichkeit. Die primäre Persönlichkeit mit
der primären Gemeinschaft - die sich gegenseitig verstandesmäßig
ausschließen - sind im kirchlichen Leben als Tatsache zugleich
gegeben. Und wenn wir sie in ihrem beiderseitigen Entstehen
nicht als ontologisch gleichwertig denken können, so
sind wir doch um so weniger imstande, sie in der realisierten
Wirklichkeit als ontologisch ungleichwertig zu denken.
Das geistige Leben der Persönlichkeit ist von ihrer vorläufigen
Gemeinschaft mit anderen untrennbar, aber die Gemeinschaft selbst
ist undenkbar außerhalb des schon vorhandenen geistigen
Lebens. Auf diese Verbundenheit der Gemeinschaft und des geistigen
Lebens ist in dem heiligen Buche ausdrücklich hingewiesen.
Der Herr berief "zwölf" Jünger und sandte
sie zur Predigt zu zweit, wobei diese Sendung zu zweit
in Verbindung gebracht wird mit der Verleihung der Herrschaft
über die unsauberen Geister, d.h. mit der Verleihung
des Charisma, vor allem der Keuschheit und der Jungfräulichkeit:
"Und er berief sie ..., und hob an und sandte sie zwei und
zwei und gab ihnen die Macht über die unsauberen
Geister." (Mark. 6, 7)
Gerade so war auch die Sendung der "Siebzig"; nach
Erwählung der "Siebzig" sandte der Herr sie ebenfalls
zu zweit (Luk. 10, 1), wobei er ihnen auch die Gabe
der Heilung (Luk. 10, 9) und die Herrschaft über die
Teufel (Luk. 10; 17, 19, 20) verlieh. Außerdem ist in den
untersuchten Texten des Markus und des Lukas auch eine wenn auch
nur teilweise Hindeutung auf das Wissen der Geheimnisse
des Reiches enthalten: denn hier wird von der Sendung zur Predigt
gesprochen, die Predigt aber setzt ein solches Wissen
voraus. Ebensowenig zufällig ist, so sollte man meinen,
daß Johannes der Täufer zwei seiner Schüler zu
Christus sandte (Matth. 11, 2), als es notwendig wurde,
die Persönlichkeit Jesu geistig zu durchschauen und festzustellen,
ob er Christus sei.
[...]
So hat also das Wissen der Geheimnisse, d.h die sozusagen
nach innen gewandte Geistträgerschaft, sowie auch
die Wundertätigkeit, d.h. die sozusagen nach außen
gewandte Geistträgerschaft oder kurz gesagt die Geistträgerschaft
überhaupt als Voraussetzung das Verbleiben der Jünger
zu zweit. "Zwei" sind nicht "einer
und der andere", sondern etwas dem Wesen nach größeres,
etwas dem Wesen nach viel Bedeutsameres und Gewaltigeres. "Zwei"
- das ist eine neue Verbindung der Chemie des Geistes,
wenn "einer und der andere" (der "Sauerteig"
des Gleichnisses) sich qualitativ verwandeln und ein drittes
bilden ("den gesäuerten Teig").
Dieser Gedanke zieht sich - weiter ausgeführt - als roter
Faden durch das ganze 18. Kapitel des Matthäus. Ich will
aber nur einige Glieder aus der Kette der Gedanken anführen.
Gelegentlich der Gespräche der Jünger Christi über
den sündigenden Bruder weist der Herr auf ihre Macht hin,
zu lösen und zu binden (Matth. 18, 18). Weil aber
das Wesen dieser Macht in dem geistigen Wissen der Geheimnisse
des Reiches, in dem Erfassen der geistigen Welt und des Göttlichen
Willens besteht, so bezweckt die innere Betonung des 18. Verses,
die Jünger an ihre Gnosis, an ihre Geistigkeit
zu erinnern. Und weiter, in dem unmittelbar darauf folgenden
19. Vers paraphrasiert der Herr gleichsam seinen Gedanken,
indem er das soeben von ihm Gesagte in einer Reihe anderer Begriffe
zum Ausdruck bringt, wobei er aber den inneren Sinn des Ausgesprochenen
unverändert läßt:
"Weiter sage ich euch" - palin amhn legw umin -, d.h. ,noch einmal', ,ich wiederhole'
- "wo zwei unter euch - duo
- eins werden auf Erden, worum es ist, das sie bitten wollen,
das soll ihnen widerfahren von meinem Vater im Himmel. Denn wo
zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen,
da bin ich mitten unter ihnen." (Matth. 18, 19-20)
Das Wissen der Geheimnisse oder insbesondere die Macht zu binden
und zu lösen ist auch - palin - die gemeinsame Bitte zweier, die eins
geworden sind auf Erden, d.h. sich voreinander vollständig
gedemütigt haben, die Widersprüche, Widergedanken und
Widergefühle bis zur Wesenseinheit miteinander vollständig
überwunden haben. Eine solche gemeinsame Bitte wird immer
erfüllt - so sagt der Erlöser. Warum ist dem aber
so? Weil das Versammeltsein von zweien oder dreien im Namen
Christi, das Miteinandereintreten der Menschen in die
geheimnisvolle geistige Atmosphäre um Christus, das Teilhaben
an seiner gnadenreichen Kraft sie in eine neue geistige Wesenheit
verwandelt, aus zweien ein Teilchen des Leibes Christi,
eine lebendige Inkarnation der Kirche (- der Name Christi
ist die mystische Kirche! -) macht, sie in die Kirche aufnimmt.
Es ist begreiflich, daß alsdann auch Christus "mitten
unter ihnen" ist - er ist mitten unter ihnen, wie die Seele
"in" jedem Glied des von ihr beseelten Körpers
ist. Aber Christus ist wesenseins mit seinem Vater, und darum
tut der Vater das, worum Ihn der Sohn bittet. Die Macht zu binden
und zu lösen setzt die Symphonie zweier auf Erden
in allem und jedem voraus, die Überwindung der Selbstheit,
die Einmütigkeit zweier, welche schon nicht mehr bedingt
und beschränkt, sondern buchstäblich und unbeschränkt
zu verstehen ist. Aber erstens wird dies wohl mitunter auf Erden
erreicht, ist aber nicht unbedingt erreichbar;
zweitens ist das Maß der Erreichbarkeit zugleich auch das
Maß der Sanftmut. Unmittelbar nach der von dem Herrn gegebenen
Erklärung fragt ihn der selbstvertrauende und stürmische
Petrus: "Wie oft muß ich denn meinem Bruder, der an
mir sündigt, vergeben? Ist's genug siebenmal?"
(Matth. 18, 21), d.h. er wünscht die Norm und die Grenze
der Vergebung zu erfahren (sieben ist die Zahl der Fülle,
der Vollkommenheit, der Vollendung, der Grenze). Aber dieses
"Ist's genug siebenmal?", diese Grenze der Vergebung
würde auf eine sinnliche Beschränkung dessen hinweisen,
der die an ihm begangene Sünde vergibt, auf das Fehlen
der wahren geistigen Liebe in ihm (ganz anders verhielte es sich
mit der Vergebung der Sünde wider den Geist, wider die Wahrheit
selbst) - es wäre nur eine Modifikation der Selbstheit.
In den Beziehungen, welche durch irgendeine bestimmte Zahl von
Vergebungen begrenzt sind, ist überhaupt keine christliche
Kraft enthalten, das sind ungeistige Beziehungen. Darum antwortet
der Herr dem Apostel: "Ich sage dir: nicht siebenmal, sondern
siebzigmal siebenmal" (Matth. 18, 22), d.h. ohne
irgendeine Begrenzung, ohne Ende, vollständig und allbarmherzig
(denn siebzigmal siebenmal bedeutet schon keine Endlichkeit
mehr; sondern die Totalität der Fülle, die aktuellen
Unendlichkeit). So muß man also, um einen Menschen für
die Sünde gegen den Richtenden zu verurteilen, sich
nicht auf eine menschliche, sondern auf eine göttliche Höhe
erheben, muß man die göttlichen Geheimnisse wissen.
Die Verurteilung würde in der Erfüllung des göttlichen
Willens bestehen. Aber die Geheimnisse des Reiches kann man nur
in der vollkommenen Liebe, welche bei zweien bis zu einer
Symphonie in allem geht, wissen (- einen besonderen Fall davon
stellt das "Greisentum" dar -). Diese Symphonie
kann durch menschliche Anstrengungen jetzt nicht verwirklicht
werden, sondern sie wird nur verwirklicht - in der unendlichen
Demut vor dem Freunde, in der Vergebung der Sünde an sich
"siebzigmal siebenmal".
Das rätselhafte Gleichnis des Herrn von dem "ungerechten
Haushälter" (Luk. 16, 1-8) bringt dieselbe Idee der
Vergebung als der Voraussetzung der Freundschaft zum Ausdruck.
Der reiche Mann des Gleichnisses ist Gott, reich an schöpferischer
Kraft, der Haushälter aber ist - der Mensch. Bei dem Göttlichen
Gut angestellt, d.h. bei jenem Leben, welches ihm anvertraut
wurde, bei jenen Kräften und Fähigkeiten, welche ihm
ausgehändigt winden, damit er sie verwirkliche und vermehre
(vgl. das Gleichnis von "den Talenten"), vergeudet
der Mensch sein Leben, vernachlässigt seine schöpferischen
Fähigkeiten, raubt das Göttliche Gut aus. Da aber zieht
ihn Gott zur Rechenschaft; der Mensch muß alles verlassen,
in dessen Besitz er sich wähnte, und was in Wahrheit ihm
nur anvertraut war; ihm steht der Verlust aller äußeren
Kräfte, die er im Leben nutzte, bevor, ferner des Körpers
mit seinen Organen und endlich der seelischen Verfassung, welche
im Feuer des Gerichts ausbrennen wird. Den Menschen steht bevor,
"nackt" und "arm" zu sein und aus dem Hause
Gottes "entfernt" zu werden, denn der Herr hat ihm
schon erklärt: "Du kannst hinfort nicht Haushalter
sein" (Luk. 16, 2). Der Haushalter begreift, daß
seine Lage hoffnungslos ist, da er nur von dem Göttlichen
Gut, nicht von seinem eigenen gelebt hat, und daß er eine
schöpferische Kraft des Lebens weder hat noch auch haben
kann: "Was soll ich tun? - sprach er bei sich selbst -.
Mein Herr nimmt das Amt von mir; graben kann ich nicht, so schäme
ich mich zu betteln. Ich weiß wohl, was ich tun will, wenn
ich nun von dem Amt gesetzt werde, daß sie mich in ihre
Häuser nehmen" (Luk. 16; 3, 4). Also, da er aus dem
Hause Gottes vertrieben wird, will er sich wenigstens in den
Häusern der anderen Menschen eine Stätte sichern, d.h.
in den Seelen, in den Gebeten und in den Gedanken der anderen
Menschen - in dem Gedächtnis der Kirche. Welche Maßregeln
ergreift er, um sich dieses Andenken zu sichern, ,im in
die fremden Häuser aufgenommen zu werden? Er tut folgendes:
"Er rief zu sich alle Schuldner seines Herrn und sprach
zu dem ersten: ,wie viel bist du meinem Herrn schuldig?' Er sprach:
,Hundert Tonnen Öl.' Und er sprach zu ihm: ,Nimm deinen
Brief, setze dich und schreibe flugs fünfzig.' Darnach sprach
er zu dem anderen: ,Du aber, wie viel bist du schuldig?' Er sprach:
,Hundert Malter Weizen.' Und er sprach zu ihm: ,Nimm deinen Brief
und schreib achtzig.' (Luk. 16; 6, 7.) Anders gesagt:
der ungerechte Haushalter streicht von den Schuldnern seines
Herrn einen Teil dessen fort, was sie seinem Herrn schuldig sind,
vermindert einen Teil ihrer Schulden vor seinem Herrn, d.h. er
vermindert in seinem Bewußtsein ihre Sünden vor Gott.
Moralisch, juristisch, gesetzlich ist diese Handlung ein neuer
Fehltritt vor dem Herrn. Diese Handlung ist "ungerecht",
weil die "Gerechtigkeit" eine Anwendung des Identitätsgesetzes
ist, und weil man "nach der Gerechtigkeit" vom Schuldner
- besonders von einem fremden - als vom Schuldner sprechen soll,
von ihm nicht als von einem Nicht-Schuldner sprechen darf, und
von jeder Schuld - besonders aber gegen einen anderen - so, wie
sie ist, nicht aber so, wie sie nicht ist. Nach dem Gesetz
kann man die Sünde überhaupt nicht vergeben;
in keinem Fall darf man aber eine nicht gegen die eigene Person,
sondern gegen Gott begangene Sünde vergeben. Aber im geistigen
Leben wird gerade diese "Ungerechtigkeit" gefordert:
wenn man sich als schuldig vor Gott, als in Schuld bei Gott,
als sündig vor Gott erkennt und der Göttlichen Vergebung
bedarf, so geziemt es sich, auch den anderen ihre Sünden
zu vergeben, das Maß ihrer Schuldigkeit zu vermindern.
Ja, wir haben nicht "das Recht", das zu bedecken,
was keine Beleidigung unserer Person, sondern Gottes ist - was
nicht uns berührt, sondern Gott. Es erscheint sogar sehr
natürlich, die Schuld anderer Menschen aus Eifer für
den Ruhm Gottes zu verstärken, zu betonen, daß wir
ihre Sünden "nicht billigen", daß wir Gottes
Schuldner fast zu den eigenen Schuldnern zählen. Und dennoch
"lobte der Herr den ungerechten Haushalter, daß er
klüglich gehandelt hatte; denn die Kinder dieser Welt sind
klüger als die Kinder des Lichtes in ihrem Geschlecht"
(Luk. 16, 8). Wenn wir fremde Sünden ungerecht vergeben,
rechtfertigen wir uns, die ungerechten "Kinder dieser Welt",
mehr, als wir uns, die gerechten "Kinder des Lichtes"
durch gerechte Verdammung fremder Sünden rechtfertigen könnten.
Aber man muß das unter vier Augen tun, mit jedem Sünder
einzeln, im Verborgenen - so daß man in Wahrheit
seine Sünde bedeckt, um im eigenen Bewußtsein seine
Schuld wirklich zu vermindern, nicht aber um den anderen nur
die eigene Großmut zu zeigen. Eine solche offenkundige
Vergebung würde nicht nur ihr Ziel nicht erreichen, d.h.
die Sünde des Bruders nicht bedecken, sondern, im Gegenteil,
außerdem auch noch die anderen zur Sünde verführen:
"Es wird ja doch vergeben werden."
Der Sinn des in Frage stehenden Gleichnisses ist die orthodoxe
Auffassung der Kirchenbeschlüsse im Gegensatz zu der
katholischen Auffassung. Dieser gemäß ist der
Kirchenbeschluß eine kirchenrechtliche Norm, ein "Gesetz",
das erfüllt werden muß, und dessen Nichterfüllung
durch "Satisfaktion" zu sühnen ist. Im Gegensatz
dazu sind, nach der orthodoxen Auffassung, die Kirchenbeschlüsse
nicht Gesetze, sondern regulative Symbole der kirchlichen
Gesellschaft. Sie werden niemals restlos erfüllt, und man
kann auch nicht erwarten, daß sie irgendwann genau erfüllt
würden; aber stets mußte und muß man sie im
Auge behalten zum klareren Bewußtsein der eigenen Schuld
vor Gott. "Sei dessen eingedenk" - so scheint die Kirche
ihren Kindern zu sagen, sagt es aber jedem unter vier Augen,
nicht-öffentlich, im Verborgenen -, "sei dessen eingedenk,
wie du sein solltest, und was dir gerechterweise dafür gebührte,
daß du der Göttlichen Gerechtigkeit nicht genügst.
Aber deine Schuld wird dir vermindert, nicht weil du gut
bist, nicht um deiner Verdienste willen, sondern weil
Gott barmherzig, langmütig und gnädig ist. Sieh also
zu, daß du demütig seist und andere nicht verurteilst,
wenn sie schuldig sind, auch wenn du ihre Schuld mit einer solchen
Zweifellosigkeit sehen solltest wie ,einen Schuldschein'."
Das Eigentum des reichen Mannes aus dem Gleichnisse ist durchaus
gut und durchaus gerecht. Aber, um den Schuldnern seines Herrn
einen Teil ihrer Schulden zu erlassen, nahm der Haushalter im
Grunde den erlassenen Teil der Schuld aus dessen Eigentum für
sich und schenkte ihn schon von sich aus den Schuldnern; jene
Schuld, die er den Schuldnern erließ, war in bezug auf
ihn selbst ein ungesetzliches Eigentum, ein "unrechtmäßiger
Reichtum", ein "ungerechter Mammon", "mamona thV adikiaV" (Luk.
16, 9). Kein Eigentum ist an sich gerecht oder ungerecht, gesetzlich
oder ungesetzlich: es ist einfach und es ist gut.
Aber jedes Eigentum ist in bezug auf die Person, die von ihm
Besitz ergreift, gerecht oder ungerecht, gesetzlich oder ungesetzlich.
Und für den Haushalter des Gleichnisses war das Eigentum
des Herrn, welches er zuerst für sich und dann für
die anderen ausraubte, und welches er demnach als das seinige
betrachtete, in dem einen wie auch in dem anderen Falle ein "ungerechter
Reichtum".
Gerade so gehört auch die Möglichkeit, die Sünde
durch Gottes Barmherzigkeit, auf Rechnung der Göttlichen
Gnade zu bedecken, nicht uns, und ist, wenn wir sie uns
zueignen, ein "ungerechter Reichtum". Aber, da wir
auch ohne dies diesen Reichtum auf jede Weise fortwährend
für uns, zur Bedeckung unserer Sünden
ausrauben, so ist das einzige, was uns - als Maßregel für
den Fall unserer Lostrennung von diesem Reichtum der Göttlichen
Gnade - übrig bleibt: uns in den Herzen anderer Menschen,
in den "ewigen Hütten", einen Platz zu sichern,
und dann wird Gott vielleicht unsere Klugheit loben. Dieses Für-sich-sichern
eines Platzes ist gar nichts anderes als ein Knüpfen freundschaftlicher
Bande. "Und ich sage euch" - so erläutert der
Erlöser selbst das Gleichnis - "machet euch Freunde
mit dem ungerechten Mammon, auf daß, wenn ihr nun darbet,
sie euch aufnehmen in die ewigen Hütten" (Luk.
16, 9).
[...]
Das Gleichnis von dem ungerechten Haushalter zeigt, welche Wichtigkeit
der Herr der Freundschaft beilegte. Bemerkenswert ist,
daß hier ganz und gar nicht von der Wohltätigkeit
aus dem Mammon der Ungerechtigkeit die Rede ist, von der Hilfe
für die Armen. Nein, als unmittelbares Ziel wird nicht
die Philanthropie hingestellt, sondern die Gewinnung von Freunden
für sich, die Freundschaft: "Und Ich sage euch:
Machet euch Freunde mit dem ungerechten Mammon" (Luk. 16,
9). Auf diese Stelle hat schon der hl. Klemens von Alexandria
aufmerksam gemacht. Er sagt: "Der Herr sagte nicht: ,Gib'
oder ,Verschaffe', oder ,Sei wohltätig', oder ,Hilf', sondern
- ,Werde zum Freunde', weil die Freundschaft nicht in
dem Geben allein zum Ausdruck kommt, sondern in der vollständigen
Selbstaufopferung und in dem dauernden Zusammenleben."
Das mystische Eins-werden von zweien ist Bedingung des
Wissens und folglich der Erscheinung des Geistes der Wahrheit,
der dieses Wissen verleiht. Zugleich mit der Unterwerfung der
Kreatur unter die inneren ihr von Gott gegebenen Gesetze und
mit der Vollständigkeit der Keuschheit entspricht es dem
Kommen des Reiches Gottes (- d.h. des Heiligen Geistes -) und
der Vergeistigung der ganzen Kreatur. Nach einer bemerkenswerten
Überlieferung, die in der sogenannten "Zweiten Epistel
des hl. Klemens von Rom an die Korinther" aufbewahrt ist,
heißt es: "Als jemand den Herrn fragte, wann Sein
Reich kommen werde, gab er auf diese Frage zur Antwort: ,Wenn
zwei eins sein werden, und das Äußere - wie das Innere,
und das Männliche eins mit dem Weiblichen - weder männlich
noch weiblich."
Klemens selbst deutet dieses rätselhafte Wort folgendermaßen:
",Zwei sind eins', wenn sie einander die Wahrheit sagten
und in zwei Körpern ohne Heuchelei eine Seele wäre.
Und ,das Innere wie das Äußere' - das bedeutet: Christus
nennt die Seele das Innere, den Körper aber das Äußere.
Wie also dein Körper erscheint, also wird sich auch deine
Seele in deinen schönen Werken offenbaren, en toiV kaloiV eogoiV (gesagt ist kaloiV, schönen, nicht agaJoiV guten, segensreichen). Und ,das Männliche
mit dem Weiblichen - nicht das Männliche und nicht das Weibliche'.
Das bedeutet, daß der Bruder, wenn er die Schwester erblickt,
von ihr nicht etwas Weibliches denke (etwas, das sich auf das
Weib bezieht, Jhlukon, d.h. wie von einem Weibe), und daß
sie von ihm nicht etwas Männliches denke (aosenikon, d.h. wie von einem Manne). ,Wenn Ihr
so tun werdet' - sagt Er - ,dann wird das Reich meines Vaters
kommen.'"
Aber diese - sehr wahrscheinliche! - Interpretation bezieht sich
mehr auf die äußere psychologische Seite des Kommenden
Reiches und dringt wenig in die ontologischen Bedingugen ein,
unter denen ein solches Leben der Seele möglich sein wird.
Mir scheint, daß der Agraph genügend für
sich spricht, wenn man ihn nur so nimmt, wie er ist. Aber hier
ist für mich nur das erste Glied des Agraphen wichtig,
nämlich: "wenn zwei eins sein werden", d.h. der
Hinweis auf die bis zu Ende geführte Freundschaft
- sofern diese nicht so sehr seitens der Handlungen und Gefühle,
nicht nominalistisch als vielmehr seitens des metaphysischen
Bodens, auf dem eine völlige Ein-mütigkeit möglich
ist - realistisch - verstanden wird.
Bei den heiligen Vätern wird vielfach der Gedanke wiederholt
von der Notwendigkeit des Nebeneinanderbestehens der universalen
Liebe (agaph) und der abgeschiedenen
Freundschaft (jilia). Wie sich jene auf
jeden, ungeachtet seiner Schlechtigkeit, beziehen soll,
so umsichtig soll diese in der Wahl des Freundes sein.
Denn mit dem Fretinde wächst man zusammen, den Freund nimmt
man mit seinen Eigenschaften in sich auf; damit beide
nicht zugrunde gehen, ist eine sorgfältige Wahl notwendig.
[...]
Zwischen den Liebenden zerreißt die trennende Membran der
Selbstheit, und jeder sieht im Freunde gleichsam sich selbst,
sein intimstes Wesen, sein anderes Ich, welches übrigens
von dem eigenen Ich nicht verschieden ist. Der Freund wird in
das Ich des Liebenden aufgenommen, ihm angenehm,
d.h. von ihm angenommen, zur inneren Verfassung des Liebenden
zugelassen und ihr in keiner Weise fremd, aus ihr nicht ausgestoßen.
Der Geliebte im ursprünglichen Sinne dieses Wortes
ist der von seinem Freunde "Aufgenommene", denn wie
die Mutter das Kind, so hat der Liebende ihn in seinen Schoß
aufgenommen und trägt ihn unter seinem Herzen. So sagt der
Dichter Tjutschew, freilich aus einem etwas anderen Anlaß:
"Hier ist Dämmerung, dort Glut und Geschrei -
ich wandle wie im Traum;
nur das Eine fühle ich lebhaft:
Du bist mit mir, und alles ist in mir."
Die Aufnahme des befreundeten Ich in die Seele läßt
zwei getrennte Ströme des Lebens zusammenfließen.
Diese lebendige Einheit ergibt sich nicht aus der Unterwerfung
der einen Persönlichkeit unter die andere und erst recht
nicht als bewußte Sklaverei der einen Persönlichkeit
bei der anderen. Man kann die freundschaftliche Einheit auch
nicht als Konzession, als Nachgiebigkeit bezeichnen. Sie
ist eben - Einheit. Der eine fühlt, wünscht, denkt
und spricht nicht darum, weil der andere gerade so sprach,
dachte, wünschte und fühlte, sondern darum, weil beide
mit einem Gefühl fühlen, mit einem Wunsche wollen,
mit einem Gedanken denken, mit einer Stimme sprechen. Jeder lebt
durch den anderen, oder, richtiger gesagt, das Leben des einen
wie des anderen strömt aus dem in-sich-einigen, gemeinsamen
Mittelpunkt hervor, welchen die Freunde durch die schöpferische
Tat über sich setzen. Daher sind seine verschiedenen Manifestationen
immer an und für sich harmonisch. Ja, an und für
sich - nicht durch angespanntes Gefühl, durch den Willen,
durch das Denken oder durch eine Wortformel, die als Prinzip
der Einheit hingestellt wird. Ob es nun eine Wortformel ist oder
auch ein System solcher Formeln, welche ein Programm geben
- das ist einerlei, diese wesens-gleiche Einheit oder
dieses Bündnis, alliance, ist durchaus nicht dasselbe
wie wesenseine Einheit oder die Einheit im eigentlichsten Sinne
dieses Wortes, unité.
In den noumenalen Tiefen bestimmen die Freunde ihre Freundschaft
- nicht in der Ebene der halb-imaginären und flügellosen
Phänomenalität ("der Psychik"). Darum bilden
die Freunde eine Zwei-Einheit, eine Dyas; sie sind nicht - sie
selbst, sondern sie sind mehr als das - eine Seele.
[...]
Das gemeinsame Leben - das ist die gemeinsame Freude und das
gemeinsame Leiden. In der Freundschaft ist nicht - Mit-Freude
und Mit-Leiden, sondern eine harmonische Freude
und ein harmoisches Leiden: die Zustände erster Art
gehen von der Peripherie der Seele zu ihrem Zentrum und beziehen
sich auf diejenigen, welche verhältnismäßig ferner
von uns sind. Aber die Freude und das Leiden ganz Nahestehender
richten sich, indem sie in dem Zentrum unserer Seele selbst
entstehen, von hier aus zur Peripherie; das ist schon
keine Widerspiegelung eines fremden Zustan-des, sondern ein eigener
harmonischer Zustand eigene Freude und eigenes Leiden. Schon
Aristoteles hat diesen Unterschied der Erlebnisse - mit Rücksicht
auf das Leiden - bemerkt. Euripides aber in seiner Tragödie
"Herakles" gibt uns den dichterischen Beweis eines
solchen Unterschieds, indem er die Leiden des Amphitryon und
des Herakles, des Amphitryon und des Theseus vergleicht.
Wenn aber die nahen Bande für die harmonischen Erlebnisse
überhaupt günstig sind, so ist die Freundschaft der
für sie am meisten geeignete Boden: nach der Versicherung
des hl. Maximus des Bekenners "sieht der treue Freund die
Unglücksfälle seines Freundes als die seinigen an und
erduldet sie mit ihm zusammen, indem er bis zum Tode leidet".
Liegt doch der unterscheidende Vorzug der Liebe nach dem hl.
Nilus von Sinai darin, daß sie alle bis zur innersten Seelenverfassung
vereinigt; infolge einer solchen Einheit übergibt ein jeder
seine Leiden allen anderen und empfängt von ihnen ihre Leiden.
Alle sind für alle verantwortlich und alle leiden für
alle.
Indem sie sich so in ihrem Wesen vereinigen und eine verstandesmäßig
unbegreifliche Zwei-Einheit bilden, kommen die Freunde zur Gefühls-Einheit,
zur Willens-Einheit und zur Denk-Einheit, welche die Gefühls-Verschiedenheit,
die Willens-Verschiedenheit und die Denk-Verschiedenheit vollkommen
ausschließen. Aber diese Einheit ist zugleich, da sie aktiv
gesetzt wird, durchaus kein mediumhaftes gegenseitiges Von-einander-Besitz-ergreifen
der Persönlichkeiten, nicht ihr Versenken in das unpersönliche
und indifferente - und daher unfreie - Element beider. Sie ist
keine Auflösung der Individualitat, nicht ihre Erniedrigung,
sondern ihre Erhebung, Verdichtung, Befestigung und Vertiefung.
Das gilt um so mehr von der Freundschaft. In den Freundschaftsbeziehungen
manifestieren sich der unersetzbare und mit nichts vergleichbare
Wert und die Eigenart jeder Persönlichkeit in ihrer ganzen
Schönheit. In dem andern Ich entdeckt die Persönlichkeit
des einen ihre eigenen Keime, welche von der Persönlichkeit
des anderen geistig befruchtet werden. Nach Platons Wort zeugt
der Liebende im Geliebten. Jeder der Freunde erhält eine
Befestigung für seine Persönlichkeit, indem er sein
Ich in dem Ich des anderen findet. "Wer einen Freund hat"
- sagt Chrysostomos - "der hat ein anderes Selbst
(allon eauton
ecei)."
"Der Geliebte ist für den Liebenden" -
so sagt der hl. Vater anderwärts - "dasselbe wie
er selbst. Die Eigenschaft der Liebe ist solcher Art, daß
der Liebende und der Geliebte schon nicht mehr zwei getrennte
Personen zu bilden scheinen, sondern einen Menschen."
Die Trennung in der Freundschaft ist eine nur grob-physische,
nur für das Sehen in der alleräußerlichsten Bedeutung
des Wortes. Daher wird in dem Lobgesang am Tage der Drei Hohenpriester,
am 30. Januar, von ihnen, die an verschiedenen Orten lebten,
als von "leiblich getrennten, aber geistig vereinten"
gesungen. Aber im gemeinsamen Leben wird sogar der Leib gleichsam
einer. So schreibt der Mönchpriester Antonius vom Kiewer
Höhlenkloster, indem er das Ende des Archimandriten Meletios
beschreibt: "Über dreißig Jahre lebten wir mit
ihm in engster freundschaftlicher Gemeinschaft, die letzten drei
Jahre war es aber so, daß wir gleichsam ein Leib
und eine Seele wurden."
Die Wucht und die Schwere des Dienstes liegt nicht in dem feuerwerkartig
aufflammenden Werk der Minute, sondern in der unwandelbar
glimmenden Geduld des Lebens. Es ist eine stille Ölflamme,
keine Gasexplosion. Der Heroismus ist immer nur ein Schmuck,
nicht das Wesen des Lebens, und als Schmuck hat er unabänderlich
seinen rechtmäßigen Teil an affektierter Haltung.
Wenn er sich aber an Stelle des Lebens stellt, artet er unvermeidlich
in Schminke, in eine mehr oder weniger wahrscheinliche
Pose aus. Der unmittelbarste Heroismus ist in der Freundschaft,
in ihrem Pathos; aber auch hier ist der Heroismus nur die Blüte
der Freundschaft, nicht ihr Stengel und nicht ihre Wurzel. Der
Heroismus vergeudet, aber sammelt nicht; er lebt stets auf Kosten
des anderen, nährt sich von den Säften, die aus der
Alltäglichkeit gezogen sind. Hier, im Dunkel der Alltäglichkeit,
sind die feinsten und zartesten Wurzeln der Freundschaft verborgen,
welche das wahre Leben gewinnen und selbst für niemandes
Blick sichtbar sind, bisweilen sogar von niemand vermutet werden.
Aber sie nähren das im Gegenwärtigen gegebene
Leben, die entfaltete Blume des Heroismus aber wird, wenn sie
keine taube Blüte ist, nur den Samen einer anderen,
zukünftigen Freundschaft hervorbringen.
Die freundschaftliche Liebe bezieht sich nicht auf die einzelnen
Momente der geistigen Belebung, nicht auf Begegnungen, Eindrücke
und Feste des Lebens, sondern auf das Ganze der irdischen,
sogar der alltäglichen Lebenswirklichkeit - fordert ein
"Achten auf sich selbst" gerade dort, wo der "Held"
sich völlig gehen läßt. Wenn man gesagt hat,
daß es für seinen Diener keinen bedeutenden Menschen
gibt, oder richtiger, keinen Helden für seinen Diener, so
liegt das eben daran, daß der eine von ihnen ein Held und
der andere - ein Diener ist. Der Heroismus bringt nicht
die wesentliche Größe der Persönlichkeit zum
Ausdruck, sondern hüllt sich nur zeitweilig
in sie ein; für den Diener bleibt er aber nur er
selbst. In der Freundschaft aber ist es umgekehrt. Jede
äußere Handlung des einen erscheint dem anderen ungenügend,
weil er, die Seele des Freundes kennend, die Nichtübereinstimmung
gleichviel welcher Handlung mit der inneren Größe
der Seele sieht. Die einen bewundern den Helden, die andern schätzen
ihn gering; die einen sind von ihm hingerissen, die andern hassen
ihn. Der Freund bewundert aber niemals seinen Freund und schätzt
ihn auch nicht gering; er ist nicht hingerissen von ihm und haßt
ihn nicht. Er - liebt; für die Liebe ist aber einzig diese
geliebte Seele unendlich lieb, unschätzbar, schwerwiegender
als die ganze Welt mit allen ihren Verlockungen. Denn die jilia kennt den Freund nicht an den äußeren
Umrissen, nicht am Gewande des Heroismus, sondern an seinem Lächeln,
an seinen leisen Reden, an seinen Schwächen, an seinem Verkehr
mit den Menschen im einfachen menschlichen Leben - daran, wie
er ißt und schläft.
Man kann rhetorisch Reden halten - und täuschen. Man kann
rhetorisch leiden, sogar sterben kann man rhetorisch und - durch
seine Rhetorik täuschen. Aber durch das alltägliche
Leben kann man nicht täuschen, und die wahre Probe der Echtheit
der Seele erfolgt durch das Leben zusammen, in der freundschaftlichen
Liebe. Diesen oder jenen Akt des Heroismus kann jeder vollbringen;
jeder kann interessant sein; aber so lächeln, so
sprechen. so trösten, wie es der Freund tut, kann
er allein und niemand anders. Ja, niemand und nichts in der Welt
kann mir seinen Verlust ersetzen. Hier, in der Freundschaft
beginnt die Manifestation der Persönlichkeit, und darum
haben hier auch die eigentliche innerste Sünde und
die eigentliche innerste Heiligkeit ihren Anfang. Man kann in
vielen Bänden von Werken eine große Lüge
über sich sagen; aber in der lebendigen Gemeinschaft mit
dem Freunde kann man nicht einmal die kleinste aussprechen: "Wie
der Scheme im Wasser ist gegen das Angesicht; also ist eines
Menschen Herz gegen den andern" (Spr. Sal. 27, 19). Das
Verhältnis des Alltäglichen und des Heroischen ist
dem Verhältnis der Gesichtszüge und der zufälligen
Lichtstellen im Gesicht ähnlich: letztere können sehr
effektvoll sein, sie betreffen aber nicht das, was uns im Gesicht
teuer oder abstoßend, anziehend oder hassenswert ist. Die
Freundschaft aber gründet sich auf diese Halbschatten, welche
die Gesichtszüge offenbaren, auf das Lächeln, auf das
schlichte Leben - eben jenes Leben, in dem entweder die Liebe
oder der Haß wahrhaft und endgültig zur Herrschaft
gelangen. Man nehme dem Menschen seinen Heroismus, und der Mensch
bleibt das, was er ist; man versuche in Gedanken seine innerste
Heiligkeit oder innerste Liebe, sein verborgenes Leben
und seine verborgene Sünde, welche in jeder seiner Gesten
durchscheinen, aus ihm auszusondern und... kein Mensch wird übrigbleiben,
gerade so, wie wenn man aus dem Wasser den Wasserstoff absondern
würde.
Diese endgültige Zersetzung, diese vollständige Destillation
erfolgt durch den Heiligen Geist am Ende der Tage. Hier aber
und jetzt kann sich eine solche Scheidung durch einen freundschaftlich
liebenden Menschen vollziehen, denn nur er wird uns auf unser
Verborgenes hinweisen. Hier enthüllt sich noch einmal die
metaphysische Natur der freundschaftlichen Verbindung. Die Freundschaft
ist nicht nur psychologisch und ethisch, sondern vor allem ontologisch
und mystisch. So haben sie zu allen Zeiten alle tiefen Beschauer
des Lebens angesehen. Was ist denn also die Freundschaft? Das
Schauen seiner selbst durch den Freund in Gott.
Die Freundschaft ist das Schauen seiner selbst durch die Augen
eines anderen vor dem Antlitz eines dritten, eben DES DRITTEN.
Indem das Ich sich im Freunde, in dessen Ich widerspiegelt,
anerkennt es sein anderes Ich. Hier entsteht auf natürliche
Weise das Bild des Spiegels, und es klopft schon während
vieler Jahrhunderte unter der Schwelle des Bewußtseins
an. Auch Plato bedient sich seiner: nach der Versicherung des
größten Kenners twn eowtikwn, des Platonischen Sokrates, "sieht der Freund
in dem Liebenden sich selbst wie im Spiegel". Und nach zweimal
zwölf Jahrhunderten sekundiert ihm Schiller in einem fast
wörtlichen Widerhall: "Posa schaute" - so sagt
er - "in diesem schönen Spiegel (d.h. in seinem Freunde
Don Karlos) sich selbst und freute sich an seinem eigenen Bild."
Dieses Sich-finden und Sich-erkennen in dem gleichklingenden
Gefühl des Freundes ist in den Worten des Karlos an Philipp
konkret dargestellt:
"Wie entzückend
Und süß ist es, in einer schönen Seele
Verherrlicht uns zu fühlen, es zu wissen,
Daß unsre Freude fremde Wangen rötet,
Daß unsre Angst in fremden Busen zittert,
Daß unsre Leiden fremde Augen wässern!"
Aber noch vor Platon hat Homer mit Rücksicht auf die Freundschaft
bemerkt, daß "die Gottheit stets dem Ähnlichen
den Ähnlichen zuführt und sie miteinander bekannt macht
(auf diese Stelle beruft sich auch Platon im "Lysis"),
und Nietzsche versichert nach Schiller, daß jeder Mensch
sein metoon habe, und daß die Freundschaft
- zwei Menschen mit einem gemeinsamen metoon oder, anders gesagt, die gleiche Stimmung
zweier Seelen sei.
Aber der Freund ist nicht nur ein Ich, sondern auch ein anderes
Ich, ein anderer für das Ich. Aber das Ich ist
einzig und alles; was ein anderes ist in bezug auf das
Ich, das ist schon auch ein Nicht-Ich. Der Freund ist ein Ich,
welches ein Nicht-Ich ist: der Freund ist - eine contradictio,
und in seinem Begriffe selbst ist eine Antinomie eingeflochten.
Wenn die Thesis der Freundschaft Identität und Gleichheit
ist, so ist ihre Antithesis Nicht-Identität und Un-gleichheit.
Ich kann dasjenige nicht lieben, was nicht Ich ist, denn dann
hätte ich zu mir etwas mir Fremdes zugelassen. Zugleich
aber will ich, wenn ich liebe, nicht das, was ich selber bin:
in der Tat, wozu brauche ich denn das, was ich schon habe. Dieser
innere Widerspruch der Freundschaft ist von dem jugendlichen
Platon im "Lysis" aufgedeckt; von neuem aber entdeckt
ihn Schiller.
"Die Liebe" - so sagt er in bezug auf die Freundschaft,
im Gegensatz zu dem oben Angeführten - "entsteht nicht
zwischen zwei gleichklingenden Seelen, sondern zwischen harmonisch
klingenden"; und dann: "Mit Vergnügen" -
schreibt Julius sich an seinen Freund Rafael wendend - "sehe
ich meine Gefühle in deinem Spiegel, aber mit glühendem
Genuß verzehre ich deine höheren, welche mir fehlen."
In der Liebe findet ein Austausch der Wesen statt, ihre
gegenseitige Ergänzung. "Wenn ich hasse" - versichert
Schiller durch den Mund seines Julius - "nehme ich etwas
von mir; wenn ich liebe, bereichere ich mich mit dem, was ich
liebe." Die Liebe bereichert; Gott ("Bog") - der
die vollkommene Liebe hat -, Er ist - ein Reicher ("Bogatyj"):
Er ist reich an Seinem Sohn, den Er liebt; Er ist die Fülle.
Die Gleichheit (to
omoion)
und die Un-gleichheit oder die Gegensätzlichkeit (to enantion) sind in der
Freundschaft gleich notwendig, indem sie ihre Thesis und Antithesis
bilden. In der Platonischen Dialektik wird das Antinomische der
Freundschaft aufgehoben oder, genauer, verdeckt durch den Begriff
der Eigentümlichkeit, der beide Gegensätze in
sich vereinigt; "die Freunde" - heißt es bei
Platon - "sind ihrem Wesen nach einander eigen (oikeioi), in dem Sinne "eigen",
daß jeder von ihnen ein Teil des anderen ist, welcher
den metaphysischen Mangel seines Wesens ergänzt und darum
mit ihm gleichartig ist. Aber weder der logische Begriff der
Eigentümlichkeit noch die mit ihm gleichbedeutende
in ihrer Plastizität ewige Gestalt des Androgyns
kann die Kluft zwischen den beiden Pfeilern der Freundschaft
ausfüllen, denn dieser Begriff und diese Gestalt sind in
Wahrheit gar nichts anderes als eine abgekürzte Bezeichnung
der Antinomie Ich und Nicht-Ich.
Man kann die Freundschaft auch noch mit der Konsonanz vergleichen.
Das Leben ist eine ununterbrochene Reihe von Dissonanzen; aber
durch die Freundschaft werden sie aufgelöst, und das gesellschaftliche
Leben erhält in der Freundschaft seine Gedankenfülle
und Versöhnung. Aber, gleichwie der strenge Einklang nichts
Neues gibt, und einander naheliegende, aber nicht gleich hohe
Töne sich in für das Ohr unerträglichen Interferenzen
verbinden - so ist es auch in der Freundschaft: die übermäßige
Nähe in der Verfassung der Seelen, jedoch bei Fehlen der
Identität, führt zu allaugenblicklichen Stößen,
zu ungleichen Schlägen, welche in ihrer Unverhofftheit und
Unvoraussehbarkeit unerträglich sind und gleich einem flackernden
Lichte reizen.
Hier, in dem Begriff der Konsonanz, verhüllen wir wieder
die Antinoinien, denn die konsonierenden Töne müssen
einander in etwas gleich und zugleich voneinander verschieden
sein. Aber wie immer die metaphysische Natur der Freundschaft
sei - jedenfalls ist die Freundschaft eine wesentliche Bedingung
des Lebens.
Die Freundschaft verleiht dem Menschen Selbsterkenntnis;
sie enthüllt, wo und wie man an sich arbeiten muß.
Aber diese Durchsichtigkeit des Ich für sich selbst wird
nur in der lebendigen Wechselwirkung der liebenden Persönlichkeiten
enthüllt. Das "Zusammen" der Freundschaft ist
der Quell ihrer Kraft. Sogar über das Gemeindeleben schrieb
der hl. Ignatius der Gott-Träger an die Epheser, indem er
auf die geheimnisvolle und wundertätige Kraft hinwies, welche
die Christen von dem Leben zusammen erhalten:
"So strebt denn danach, euch dichter zu sammeln zum
Danke an Gott und zu seinem Ruhme. Denn wenn ihr an einem Orte
dichter versammelt seid, so werden die Kräfte
Satans fortgefegt, und sein Verderben wird beseitigt in der Einmütigkeit
eures Glaubens. Es gibt nichts Besseres als den Frieden,
in welchem aller Krieg des Himmlischen mit dem Irdischen aufhört."
Hier wird offen darauf hingewiesen, daß das "Zusammen"
der Liebe sich nicht auf den abstrakten Gedanken allein beschränken
soll, sondern durchaus fühlbare, konkrete Manifestationen
fordert bis einschließlich zur "Enge" in der
Berührung. Man muß nicht nur einander "lieben",
sondern man muß auch eng (puknwV) zusammen sein, sich bemühen, nach Möglichkeit
enger (puknoteoon) beieinander
zu sein. [...]
Man muß ein gemeinsames Leben leben, man muß
das alltägliche Leben selbst durch die äußere
und körperliche Nähe durchleuchten und durchdringen,
und dann werden bei den Christen neue und unerhörte Kräfte
erscheinen, welche Satan überwinden, alle seine unsauberen
Kräfte fortfegen und entfernen. Darum schreibt derselbe
Heilige dem hl. Polykarpus, dem Bischof der Kirche zu Smyrna
und also damit der ganzen Kirche: "Arbeitet miteinander,
strebt miteinander, lauft miteinander, leidet miteinander,
ruhet miteinander, wachet miteinander wie Gottes
Haushalter, Gäste und Diener."
Indem er vielleicht vor seinen geistigen Augen diese Worte des
schon geschiedenen Lehrers hatte, lehrte der heilige Polykarpus
von Smyrna seinerseits die Philipper: "Wer die Liebe (agaphn) hat, ist aller Sünde fern."
Hier wiederholt sich derselbe Grundgedanke. Die Liebe gibt dem
Liebenden besondere Kräfte, und diese Kräfte
überwinden die Sünde; nach den Worten [des hl. Ignatius]
des Gott-Trägers entfernen und fegen sie die Kräfte
Satans und sein Verderben hinweg.
Dasselbe versichern immer wieder auch andere, welche die Gesetze
des geistigen Lebens kennen. So mahnte der Greis des Swirschen
Klosters Vater Theodor vor seinem Tode mit väterlicher Milde:
"Ihr Väter, um des Herrn willen trennt euch
nicht voneinander, weil man in der gegenwärtigen
Zeit, die großen Leiden entgegengeht, nur wenige finden
kann, mit denen man auch nur ein offenes Wort reden könnte."
Diese Worte sind im höchsten Grade bemerkenswert: denn in
ihnen ist nicht davon die Rede, daß man einander
gram sein, einander zürnen oder miteinander streiten sollte.
Nein, hier ist mit vollkommener Bestimmtheit von der Notwendigkeit
die Rede, äußerlich, leiblich, empirisch, alltäglich
zusammen zu bleiben.
Ein solches gemeinsames Leben durch die Kirche wurde und
wird für so unabänderlich notwendig, für so wesentlich
mit dein Besten im Leben verbunden gehalten, daß wir sogar
über dem Dahingeschiedenen ihre Stimme vernehmen:
"Wie gut und wie schön ist es für die Brüder,
zusammen zu leben." Am Grabe eines meiner Angehörigen
ist mir dieser Sehnsuchtsseufzer nach der Freundschaft ins Herz
gefallen. Selbst dann, so dachte ich, wenn mit dem Leben völlig
abgeschlossen ist, wird mit glühendem Verlangen an das gemeinsame
Leben, an das Ideal der Freundschaft gedacht. Alles ist dahin,
das Leben selbst ist entschwunden! Und dennoch bleibt die Sehnsucht
nach freundschaftlicher Gemeinschaft. Folgt nicht daraus, daß
gerade die Freundschaft das letzte Wort des eigentlich menschlichen
Elements der Kirchlichkeit ist, den Gipfel der Menschlichkeit
bildet? Solange der Mensch Mensch bleibt, sucht er Freundschaft.
Das Ideal der Freundschaft ist dem Menschen nicht angeboren,
sondern es ist für ihn a priori: es ist - ein konstitutives
Element seines Wesens.
Johannes Chrysostomos interpretiert sogar die ganze christliche
Liebe als Freundschaft. In der Selbstaufopferung des Apostels
Paulus, in seiner Bereitwilligkeit, sich für die Geliebten
in das Gehenna zu stürzen, sieht er "die flammende
Liebe" der Freundschaft.
"Ich will", so sagt er, "ein Beispiel der Freundschaft
geben! Freunde sind teurer als Väter und Söhne - Freunde
in Christo." Es wird weiter das Beispiel der ersten Christen
der Gemeinde zu Jerusalem angeführt, welches in der Apostelgeschichte
4, 32-35 dargestellt ist. "Das ist Freundschaft",
so fährt der heilige Vater fort, "so jemand das Seinige
nicht als das Seinige, sondern als dem Nächsten gehörend
betrachtet, das Eigentum des Nächsten aber als für
ihn fremdes ansieht -, so einer das Leben des andern hütet
wie sein eigenes, und jener ihm mit der gleichen Nächstenliebe
heimzahlt." In dem Fehlen einer solchen Freundschaft erblickt
Chrysostomos die Sünde der Menschheit und den Quell alles
Unglücks und sogar der Haeresien. "Aber wo denn",
so wird man sagen, "kann man einen solchen Freund finden?
Man kann es eben nirgends, weil wir nicht so sein wollen; wenn
wir aber wollten, so wäre es sehr wohl möglich. Wenn
es in der Tat nicht möglich wäre, so hätte
Christus es nicht geboten und nicht soviel von der Liebe gesprochen.
Die Freundschaft ist etwas Großes, und wie groß
sie ist, das kann niemand begreifen, das kann sogar
kein Wort zum Ausdruck bringen, das kann einer nur durch
persönliche Erfahrung erkennen. Aus ihrem Nicht-Begreifen
entsprangen die Haeresien; es läßt die Hellenen bis
jetzt Hellenen bleiben" usw.
Zusammen sein, miteinander bleiben wird in dem Gemeinde-leben
gefordert. Um so mehr bezieht sich dieses "mit" auf
das freundschaftliche Leben, in welchem die konkrete Nähe
eine besondere Kraft bat, und hier erhält dieses "mit"
eine gnoseologische Bedeutung. Dieses "mit",
als "Tragen der Lasten" des einen durch den anderen
(Gal. 6, 2), als gegenseitiger Gehorsam verstanden, ist
der Lebensnerv der Freundschaft und ihr Kreuz. Und eben darum
haben erfahrene Leute so oft im Verlauf der Geschichte der Kirche
auf diesem "mit" bestanden.
Von dem Wandern der Mönche zu zweit sprechend, führt
Thomas von Canterbury das volkstümliche Sprichwort an: "Miles
in obsequio famulum, clericus socium, monachus habet dominum
- für den Krieger ist der Novize ein Diener, für den
Kleriker ein Gefährte, für den Mönch ein Herr."
Ja, und alles Mönchtum wie überhaupt alles christliche
Leben ist in diesem Sinne Mönchtum. Jeder von den Freunden
demütigt sich, ohne zu murren, vor seinem Lebensgefährten
wie der Diener vor dem Herrn: hier erhält das französische
Sprichwort: "Qui a compagnon, a maitre - wer einen Gefährten
hat, der hat auch einen Herrn" - seine vollkommene Rechtfertigung.
Darin eben liegt der Gehorsam der Freundschaft, das Tragen des
Kreuzes vom Bruder.
Die Treue der einmal geknüpften Freundschaft, die Unzerreißbarkeit
der Freundschaft, die wie die Unzerreißbarkeit der Ehe
strenge Festigkeit bis zum Ende, bis zum "Märtyrerblut"
- das ist das Grundvermächtnis der Freundschaft, und in
dessen Befolgung liegt ihre ganze Kraft. Es gibt viele
Verlockungen, sich von dem Freunde loszusagen, viele Versuchungen,
allein zu bleiben oder neue Beziehungen zu knüpfen. Wer
aber die einen zerrissen hat, der wird auch die zweiten und die
dritten zerreißen, weil der Weg des Kampfes bei ihm durch
das Streben zum seelischen Behagen vertauscht ist; letzteres
wird aber niemals erreicht werden und kann und soll auch bei
keiner Freundschaft erreicht werden. Im Gegenteil, das vollbrachte
Werk gibt der Freundschaft Festigkeit. Wie bei der Aufführung
von Mauern diese um so fester werden, je mehr Wasser auf den
Stein gegossen wird, so wird auch von den um der Freundschaft
willen vergossenen Tränen diese nur dauerhafter.
Tränen sind der Zement der Freundschaft, aber nicht alle,
sondern jene, welche infolge einer Liebe fließen, die sich
nicht auszudrücken vermag, und infolge von Kränkungen,
welche durch den Freund zugefügt wurden. Je größer
die Freundschaft ist, um so mehr Tränen gibt es, und je
mehr es Tränen gibt, um so größer ist die Freundschaft.
Tränen in der Freundschaft sind dasselbe wie Wasser bei
der Feuersbrunst in einer Spiritusfabrik: je mehr Wasser gegossen
wird, um so höher erhebt sich die Flamme.
Es wäre ein Fehler zu glauben, daß Tränen nur
aus Mangel an Liebe kämen. Nein, "es gibt Keime, welche
in unserer Seele nur unter einem Regen von Tränen erwachsen,
die für uns vergossen wurden; inzwischen bringen aber diese
Keime herrliche Blumen und heilsame Früchte... Und ich weiß
nicht, ob ich mich entschließen würde, einen Menschen
zu lieben, der niemanden zum Weinen gebracht hat. Wer am stärksten
liebte, mochte oft am meisten leiden, denn eine unergründliche,
zärtliche und verschämte Grausamkeit ist in der Regel
die unruhige Schwester der Liebe. Die Liebe sucht überall
Beweise der Liebe; wer aber wäre nicht ge-neigt, diese Beweise
vor allem in den Tränen des Geliebten zu sehen? ... Selbst
der Tod würde nicht genügen, den Liebenden zu überzeugen,
wenn er entschlossen wäre, den Forderungen der Liebe Gehör
zu schenken, denn der Augenblick des Todes erscheint der inneren
Grausamkeit der Liebe zu kurz; jenseits des Todes ist Raum für
ein Meer von Zweifeln; wer zusammen stirbt, stirbt vielleicht
nicht ohne Unruhe. Hier sind lang und langsam fließende
Tränen nötig. Der Kummer ist die Hauptnahrung der Liebe,
und jede Liebe, die sich nicht etwas von reinem Herzeleid nährte,
stirbt wie ein Neugeborener, den man wie einen Erwachsenen ernähren
wollte... Es ist - leider! - nötig, daß die Liebe
weine, und sehr oft werden die Ketten der Liebe geschmiedet und
in dem Augenblick für's Leben gestählt, wenn sich das
Schluchzen erhebt." [Maurice Maeterlinck, Le trésor
des humbles]
[...]
Aber diese gegenseitige Durchdringung der Persönlichkeiten
ist eine Aufgabe, keine ursprüngliche Gegebenheit
in der Freundschaft. Wenn sie erreicht ist, dann wird die Freundschaft
durch die Macht der Dinge unzerreißbar, und die Treue für
die Persönlichkeit des Freundes hört auf, ein verdienstliches
Werk zu sein, weil sie nicht gebrochen werden kann.
Solange aber eine solche höhere Einheit nicht erreicht ist,
ist die Treue nicht nur zur Aufrechterhaltung der Freundschaft,
sondern auch um des Lebens der Freunde willen selbst notwendig
und wurde von dem kirchlichen Bewußtsein stets für
notwendig gehalten. Die Bewahrung der einmal begonnenen Freundschaft
gibt alles, ihr Bruch erscheint nicht nur als Bruch der
Freundschaft, sondern setzt auch das geistige Dasein des Abtrünnigen
der Gefahr aus: denn die Seelen der Freunde begannen bereits
ineinander zu wachsen.
Indessen gibt es eine Leidenschaft, vor welcher die Freundschaft
auf der Hut sein muß, welche in einem Augenblick die heiligsten
Bande zerreißen kann. Diese Leidenschaft ist - der Zorn.
Ihn müssen die Freunde am meisten fürchten. "Nichts"
- so sagt ein Psychologe - "vernichtet mit einer solchen
Unaufhaltsamkeit die Wirkung von Verboten wie der Zorn, weil
sein Wesen die Zerstörung und nur die Zerstörung ist"
- wie Moltke sich über den Krieg ausgedrückt hat. "Diese
Eigenschaft des Zornes macht ihn zum unschätzbaren Bundesgenossen
jeder anderen Leidenschaft. Die wertvollsten Genüsse werden
von uns mit grausamer Freude mit Füßen getreten, wenn
sie den Ausbruch unserer Empörung zurückhalten. In
einem solchen Augenblick ist es leicht genug, die Freundschaft
zu brechen, sich von alten Privilegien und Rechten loszusagen,
jegliche Beziehungen und Bande zu zerreißen. Wir finden
eine rauhe Freude in der Zerstörung; und was den Namen der
Charakterschwäche führt, geht in den meisten Fällen
auf die Unfähigkeit zurück, sein niederes ,Ich' und
alles, was ihm lieb und teuer ist, zum Opfer zu bringen."
[...]
[Übersetzung
Nikolai von Bubnoff, mit einer Ergänzung von Fritz Mierau
(Anfang)]
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