pavel florenskij

der pfeiler und die

grundfeste der wahrheit

 

 

 

 

elfter brief:

die freundschaft

Ferner Freund und Bruder!
In endlosen Kreisen wirbelt der Schneesturm, mit feinem Schneestaub bedeckt er das Fenster und klopft an die Scheiben. Über dem Strauch vor dem Fenster ein Hügel von Schnee, und diese Schneepyramide wächst von Stunde zu Stunde. Auf den Wegen stiebt es; Schneerauch steigt auf unter deinen Füßen, wenn du dich hinauswagst. Wws, wws! winselt es in den Spalten der Ofenklappe; ein Windstoß zieht ein Heulen aus dem Ofenrohr. Fort und fort kreisen die weißen Schneewirbel. Abgerissen das Winterkleid von den Bäumen, mit ausgestreckten Zweigen stehen sie entblößt, schwanken.
Du lauschst dem Sausen im Ofenrohr, dem Wws des Abzugs. Die Seele erstirbt in dunklen Erinnerungen (oder Vorahnungen?), und es scheint, als verschmelze sie mit dem Sausen. Es scheint, du selber verwandelst dich in einen Schneewirbel. Das Fenster ist schon zur Hälfte zugeschneit. Im Zimmer verbreitet sich ein dämmriges Halbdunkel. Ein feiner bläulicher Schatten legt sich über die Dinge. Ich richte das Heiligenlämpchen. Eine goldene Strahlengarbe - es wird heller. Ich entzünde vor der Mutter Gottes die duftende Honigkerze aus bernsteingelbem Wachs, die ich von da mitgebracht habe, wo wir zusammen gegangen sind. Ich werfe einige Körnchen Weihrauch in das Weihrauchfaß mit den glimmenden Kohlen und blase in die Glut. Rauchfäden ziehen in alle Richtungen; sie verwirren sich und ballen sich zu einer bläulichen Wolke.
Soll der Schneesturm das Fenster draußen zuschütten. Das ist gut. Dann brennt die Lampe drinnen heller, duftender steigt der Rauch auf und ruhiger brennt die Flamme der Honigkerze. Wir sind wieder beieinander. Jeden Tag kommt mir eine neue Erinnerung an dich, und dann setze ich mich hin und schreibe. So gleitet mein Leben "jenem Ufer" zu, Tag für Tag, damit ich wenigstens von dort auf dich blicken kann,
Durch die Liebe den Tod
Und durch den Tod die Leidenschaft besiegend.
Mir geht heute jener frostige und stürmische Tag nicht aus dem Sinn, als wir beide in die Einsiedelei Paraklet gingen. Wir gingen durch den Wald. Der Weg war kaum befahren, und wir blieben jeden Augenblick in dem tiefen Schnee stecken. Endlich gelangten wir doch ans Ziel. Die wenigen Tage haben sich uns eingeprägt wie ein ganzes Leben. Das Fasten, das gemeinsame Gebet vor der Großen Kreuzigung. Mitten in der Nacht standen wir auf; es war kalt. Mit Mühe erreichten wir in der Dunkelheit die Kirche - durch die Schneewehen. Beim Hinabsteigen unter die Erde stolperten wir. In der Kirche war es halb dunkel wie in einer Gruft. Erinnerst du dich an den uralten Mönch, der schon ganz gebeugt war wie der hl. Serafim? Erinnerst du dich an Vater Pawel, den jungen fastenden Mönch, der mit uns das Abendmahl nahm? Schon damals konnte man sehen, daß er nicht mehr lange leben würde; weißt du, er ist wirklich bald danach gestorben vor übermäßiger Enthaltsamkeit. Gemeinsam empfingen wir das Abendmahl; damit wurde der Same gelegt für all das, was ich jetzt habe. Nicht umsonst hat unser Starez Isidor so oft zu uns gesagt (erst nach seinem Weggang von hier beginne ich, den verborgenen Sinn seiner hartnäckig wiederholten Worte zu begreifen): "Ein verletzter Bruder hält härter denn eine feste Stadt." (Spr. 18, 19) Darüber möchte ich in diesem Brief ein wenig nachdenken.
Diejenige geistige Tätigkeit, in welcher und durch welche das Wissen des Pfeilers der Wahrheit gegeben wird, ist die Liebe. Aber diese Liebe ist eine gnadenreiche, die nur im geläuterten Bewußtsein erscheint. Man muß sie erst durch ein langes (oh, wie langes!) Werk erlangen. Um nach ihr - die für die Kreatur unvorstellbar ist - zu streben, muß man einen anfänglichen Stoß erhalten und bei der weiteren Bewegung unterstützt werden. Ein solcher Stoß ist die so gewöhnliche und dem Verstande so unbegreifliche Offenbarung der menschlichen Persönlichkeit, welche in dem diese Offenbarung Empfangenden als Liebe erscheint: "Die Liebe" - so sagt Heinrich Heine - "ist ein furchtbares Erdbeben der Seele." Ich sage die Liebe; dieses Wort gebrauche ich nicht in dem Sinne wie früher im vierten Brief und - dennoch in demselben, weil diese Liebe nicht das ist wie jene und zugleich die Vorausnahme jener erwarteten. Die Liebe rüttelt den, ganzen Bestand des Menschen auf, und nach diesem Aufrütteln, nach diesem "Erdbeben der Seele" kann er suchen. Die Liebe öffnet ihm die Pforten der höheren Welten, und alsdann weht von dort die Kühle des Paradieses. Die Liebe zeigt ihm "wie in einem leichten Traum" den hell strahlenden Abglanz "der Wohnungen", reißt für einen Augenblick die staubige Decke von der Kreatur herunter, wenn auch nur an einer Stelle, und offenbart ihre von Gott erschaffene Schönheit; sie läßt ihn die Macht der Sünde vergessen, führt ihn aus sich heraus, spricht ein gebieterisches "Halt!" zum Strom der durcheinander wirbelnden Gedanken der Selbstheit und stößt vorwärts: "Gehe und finde im Leben das, was du in schwachen Umrissen für einen Augenblick gesehen hast." Ja, nur für einen Augenblick. Zu sich selbst zurückgekehrt, hat die Seele Heimweh nach der verlorenen Seligkeit, quält sich in süßen Erinnerungen, wie ein Dichter sagt:
"Noch denke ich des Augenblickes,
wo du erschienst mir lieblich mild,
wie eine Lichtgestalt des Glückes,
wie eines reinen Engels Bild."
Jetzt steht die Seele vor der Wahl: sich entweder in die Sünde zu versenken, welche die Persönlichkeit zerfrißt, oder aber ... sich zu schmücken mit himmlischer Schönheit.
Hinter dem Moment des Eros in der Platonischen Bedeutung des Wortes enthüllt sich in der Seele die
jilia der höchste Punkt der Erde und die Brücke zum Himmel. Indem sie immerdar in dem Antlitz des Geliebten den Abglanz der ersterschaffenen Schönheit erscheinen läßt, nimmt sie, wiewohl vorläufig und bedingt, die Schranken der selbstischen Absonderung fort, welche die Einsamkeit ist. Im Freunde, in diesem anderen Ich des Liebenden, findet er den Quell der Hoffnung auf den Sieg und das Symbol, des Zukünftigen. Und hier wird ihm die vorläufige Weseneinheit und folglich das vorläufige Wissen der Wahrheit gegeben. Eben auf diesen Gipfel des menschlichen Gefühls senkt sich die himmlische Gnade jener Liebe herab. Um sich aber die Nuancen der hier erwähnten Begriffe klar vorzustellen, muß man in den Inhalt der vorhandenen griechischen Zeitwörter der Liebe eindringen: die Sprache der Hellenen allein bringt diese Nuancen unmittelbar zum Ausdruck.
Im Griechischen gibt es vier Zeitwörter der Liebe, in denen die verschiedenen Seiten des Liebesgefühls im Worte festgehalten werden, nämlich:
1.
eoan oder, in der dichterischen Sprache, eoasJai bedeutet, das volle und ganze Gefühl auf den Gegenstand lenken, sich dem Gegenstand hingehen, für ihn fühlen und wahrnehmen. Dieses Zeitwort bezieht sich auf die Liebe als Leidenschaft, auf den eifrigen und selbst sinnlichen Wunsch, Daraus folgt, daß eowV der allgemeine Ausdruck für die Liebe und ihr Pathos und zugleich für den Liebes-Wunsch ist.
2.
jilein entspricht am meisten unserem "lieben" in seiner allgemeinen Bedeutung und wird entgegengesetzt dem misein und ecJaioein. Die Nuance, welche durch dieses Zeitwort der Liebe ausgedrückt wird, ist die aus einer seelischen Gemeinschaft und Nähe erwachsene innerliche Zuneigung zu einer Person, und daher bezieht sich jilein auf jede Art der Liebe von Personen, die in irgendwelchen innerlich nahen Beziehungen zueinander stehen. insbesondere bezeichnet jilein (mit oder ohne den Zusatz tw stomati, mit den Lippen) den äußeren Ausdruck dieser innerlichen Nähe, küssen. Als ein seine Befriedigung in der Nähe der Liebenden Findendes schließt jilein das Moment der Zufriedenheit, der Selbst-Sättigung in sich ein; nach der Erklärung der alten Lexikographen bedeutet jilein "aokeisJai tini, mhde pleon epizhtein, mit etwas zufrieden sein, nach nichts mehr suchen". Aber anderseits, als ein sich natürlich entwickelndes Gefühl hat jilein keine moralische oder genauer moralistische Nuance. jilia, jilothV bedeutet eine freundschaftliche Beziehung, einen zärtlichen Ausdruck der Liebe, welcher sich auf die innere Verfassung der Liebenden bezieht. Insbesondere bedeutet jilhma den Kuß.
3.
steogein bedeutet nicht die leidenschaftliche Liebe oder die Zuneigung zu einer Person oder zu einem Ding, nicht das Begehren nach einem Objekt, welches unser Streben bestimmt, sondern ein ruhiges und stetiges Gefühl im tiefsten Innern des Liebenden, so daß kraft dieses Gefühls der Liebende das Objekt der Liebe als ihm nah zugehörig, eng mit ihm verbunden, anerkennt und in dieser Anerkennung den Seelenfrieden erlangt; steogein bezieht sich auf die organische, gattungsmäßige Verbindung, welche kraft dieses Angeborenseins selbst durch das Böse unzerreißbar ist. Solcher Art ist die zärtliche, ruhige und sichere Liebe der Eltern zu den Kindern, des Mannes zur Frau, des Bürgers zum Vaterland. Eine dem steogein entsprechende Bedeutung hat auch das abgeleitete stoogh.
4.
agapan weist auf eine verstandesmäßige Liebe hin, welche sich auf eine Bewertung des Geliebten gründet und darum nicht leidenschaftlich, nicht heiß und nicht zärtlich ist. Über diese Liebe können wir uns im Verstande Rechenschaft geben, weil agapan weniger Empfindungen, Gewohnheiten oder unmittelbare Zuneigung enthält als Überzeugungen. Im allgemeinen Sprachgebrauch der Zeitwörter der Liebe ist der Ausdruck agapan der schwächste und entspricht am meisten unserem schätzen, achten. Je größeren Raum der Verstand einnimmt, um so schwächer wird das Moment des Gefühls. Dann kann agapan sogar bedeuten "richtig schätzen, nicht überschätzen". Da die Bewertung ein Vergleichen, eine Auswahl ist, so schließt agapan den Begriff einer freien, auswählenden Willensrichtung ein.
[...]
Die griechische Sprache unterscheidet demnach vier Richtungen in der Liebe: den stürmischen, heftigen
eowV oder die Liebe der Empfindung, die Leidenschaft; die zärtliche, organische stoogh oder die gattungsmäßige Liebe, die Anhänglichkeit; die etwas trockene, verstandesmäßige agaph oder die Liebe der Bewertung, der Achtung; die herzliche, aufrichtige jilia oder die Liebe der inneren Anerkennung, des persönlichen Durchschauens, das Wohlwollen. Im Grunde genommen drückt keines dieser Worte jene freundschaftliche Liebe aus, von der in diesem Brief die Rede ist, einer Liebe, welche die Momente jilia, eowV und agaph in sich vereinigt, was die Alten durch das zusammengesetzte Wort jilojoosunh teilweise zum Ausdruck zu bringen bestrebt waren. Jedenfalls ist aber von allen Worten das hier am besten passende jilein mit seinen Ableitungen.
[...]
Der vierfache Ausdruck für die Liebe ist eine der großen Kostbarkeiten aus der Schatzkammer der griechischen Sprache, und man wird kaum mit einem Blick den ganzen Kreis der Vorzüge umfassen können, welche die Lebensanschauung durch dieses vollendete Werkzeug erhält. Die anderen Sprachen können sich nicht einmal eines ähnlichen rühmen in der Sphäre der Idee der Liebe; daher kommen die end- und nutzlosen Debatten und Dispute, daher auch das Bedürfnis, wenigstens ein Surrogat der hellenischen Vierheit zu erdenken, d.h. mit Hilfe mehrerer Worte einen Ausdruck zu schaffen, welcher dem einzelnen griechischen Worte gleichwertig wäre.
Solche zusammengesetzte Ausdrücke schlägt Arnold Geulinx in seiner 1665 erschienenen "Ethik" vor. Er stellt nämlich folgende vier Arten der Liebe fest:
Amor affectionis = die Liebe des Gefühls,
Amor benevolentiae = die Liebe des Wohlwollens,
Amor concupiscentiae = die Liebe des Begehrens,
Amor oboedientiae = die Liebe der Achtung.
Im Vergleich zu den griechischen Worten für Liebe entspräche sich ungefähr folgendes:
amor affectionis =
jilia,
amor benevolentiae =
agaph,
amor concupiscentiae =
eowV,
amor oboedientiae =
stoogh.
[...]
Die religiöse Gesellschaft wird durch ein doppeltes Band vereinigt und zusammengehalten. Erstens durch das persönliche Band, welches von Mensch zu Mensch gellt, und das sich auf die Empfindung der überempirischen Realität der Glieder der Gesellschaft untereinander als selbständiger Einheiten, als Monaden, stützt. Zweitens ist die Wahrnehmung des einen durch den anderen im Lichte der Idee von der ganzen Gesellschaft ein solches Band, und dann erscheint schon nicht die einzelne Persönlichkeit an sich, sondern die ganze auf die Persönlichkeit projizierte Gesellschaft als Objekt der Liebe. Für die antike Gesellschaft waren der
eowV als persönliche Kraft und die stoogh als gattungsmäßiges Prinzip Bande solcher Art; gerade sie bildeten den metaphysischen Pfeiler des gesellschaftlichen Seins. Dagegen bildeten den natürlichen Boden für die Christliche Gesellschaft als solche die jilia in der persönlichen und die agaph in der gesellschaftlichen Sphäre. Beide Kräfte vergeistigen und verwandeln sich, wenn sie von der Gnade gesättigt werden, so daß die Ehe, die ganz eigentlich die stoogh in sich aufnimmt, und die antike Freundschaft, in der hauptsächlich der eowV erschien, im Christentum die Farben der vergeistigten agaph und jilia annahmen.
Es genügt, die drei Dialoge des Xenophon, des Platon und des hl. Methodius Olympicus, welche den gleichen Titel "Gastmahl" führen, zu lesen, um diese Veredelung und Vergeistigung der Liebesbegriffe mit erstaunlicher Plastizität hervortreten zu lassen. Und eine solche Zusammenstellung wirkt um so anschaulicher, als alle drei Dialoge nach dein gleichen literarischen Schema geschrieben sind und jeder folgende als bewußte Erhebung über den vorhergehenden erscheint. Man kann sagen, daß alle drei Dialoge Stockwerke eines Hauses ausmachen, welche zwar in verschiedener Höhe gebaut sind, aber ungefähr die gleiche Zimmerverteilung haben. Wahrend in Xenophons Dialog das tierische Leben betrachtet wird, handelt Platos Dialog vom menschlichen, der Dialog des hl. Methodius vom englischen Leben. Indem also der Mensch jenen Typus der Organisation, der ihm wesentlich ist, jenes Verhältnis der Kräfte und Fähigkeiten, welches in seiner Natur angelegt ist, bewahrt, erhebt er sich immer höher und höher "zur Ehre eines höheren Berufes" und vergeistigt alle Lebenstätigkeiten seines Wesens.
Der agapische Charakter der christlichen Gesellschaft - welcher in der urchristlichen Ekklesie, in der Kirchengemeinde, in der mönchischen Kynobie (
koino-bia = Konvikt) verwirklicht wird - findet seinen höchsten Ausdruck in den Liebesabenden oder Agapen, welche in einem offenkundig mystischen, sogar mysterienhaften Mit-Genuß des Allerreinsten Leibes und Kostbaren Blutes gipfeln. In dieser Blüte des ekklesialen Lebens liegt auch der Quell, welcher die gesamte übrige Lebenstätigkeit der Ekklesie, vom täglichen Märtyrertum des gegenseitigen Tragens der Lasten bis einschließlich zum blutigen Bekenntnis nährt. Solcher Art, sage ich, ist der agapische Charakter des Lebens. Der philische aber verwirklicht sich in den Beziehungen der Freundschaft, die ihre Blüte in der sakramentalen Bruder-Handlung und in dem Mit-Genuß der hl. Eucharistie finden und durch diesen Genuß zur gemeinsamen Werktätigkeit, zum gemeinsamen Dulden und zum gemeinsamen Märtyrertum gefestigt werden.
Beide Seiten des kirchlichen Lebens, d.h. die agapische und die philische Seite, die Brüderlichkeit und die Freundschaft verlaufen in vielem einander parallel; man könnte auf eine Reihe solcher Formen und Schemen hinweisen, die sich gleichmäßig auf beide Sphären beziehen. [...] In den Punkten der größten Bedeutsamkeit, auf ihren Höhen, suchen beide Ströme, die Brüderlichkeit und die Freundschaft, sich vollständig miteinander zu vereinigen; das ist auch begreiflich, denn das Christi-teilhaftig-werden durch das Sakrament der hl. Eucharistie ist der Quell aller Geistlichkeit. Aber nichtsdestoweniger sind sie nicht zurückführbar aufeinander; jede ist in ihrer Art für die kirchliche Ökonomie notwendig, in Verbindung damit und gleichwie das persönliche Schaffen und die Stetigkeit der Tradition jedes in seiner Art notwendig sind: ihre Verbindung ergibt eine Zwei-Einheit, aber keine Vermischung, keine Identifizierung. Für den Christen ist jeder Mensch ein Nächster, aber durchaus nicht jeder - ein Freund. Der Feind, der Hasser und der Verleumder sind gleichwohl Nächste, aber sogar der Liebende ist nicht immer ein Freund, denn die Beziehungen der Freundschaft sind in der Tiefe individuell und ausschließlich. So nennt sogar der Herr Jesus Christus die Apostel nur vor dem Abschied von ihnen, auf der Schwelle seiner Kreuzespein und seines Todes, seine "Freunde" (Joh. 15, 15). Das Vorhandensein von Brüdern, so geliebt sie auch immer sein mögen, beseitigt folglich nicht die Notwendigkeit des Freundes und umgekehrt. Im Gegenteil, die Sehnsucht nach einem Freunde wird durch das Vorhandensein von Brüdern nur noch brennender, und die Gegebenheit eines Freundes schließt die Notwendigkeit von Brüdern ein. '
Agaph und jilia können nur bei beiderseitiger mangelhafter Stärke als fast dasselbe erscheinen, gleichwie nur die unreine Ehe der - unreinen! - Jungfernschaft "ähnlich" ist; in ihrer höchsten Form aber sind Ehe und Jungfernschaft ein antinomisch verbundenes Paar. Aber je leuchtender und farbiger "die entfaltete Blume der Seele" ist, um so offenkundiger und unstreitiger ist das Antinomische der beiden Seiten der Liebe, ihre zwiefache Verbundenheit. Um inmitten von Brüdern zu leben, muß man einen, wenn auch fernen, Freund haben; um einen Freund zu haben, muß man inmitten von Brüdern leben, wenigstens im Geiste mit ihnen sein. In der Tat: um mit allen so zu sein wie mit sich selbst, muß man wenigstens in einem sich selbst sehen, sich selbst empfinden, muß man an diesem einen den schon verwirklichten, wenn auch partiellen Sieg über die Selbstheit erfahren. Als dieser Eine erscheint eben der Freund; die agapische Liebe zu ihm ist eine Folge der filischen Liebe zu ihm. Aber, anderseits, damit die filische Liebe zum Freunde nicht zu einer eigentümlichen Selbst-Liebe entarte, damit der Freund nicht bloß zur Bedingung eines komfortablen Lebens werde, damit die Freundschaft Tiefe erhalte, ist die Manifestation nach außen und die äußere Entfaltung jener Kräfte, welche, durch die Freundschaft gegeben werden, notwendig; d.h. die agapische Liebe zu den Brüdern ist notwendig. Die jilia ist in der allgemein-kirchlichen Ökonomie (in der die Personen - "drei Maß Mehl", die Kirche aber - "das Weib" ist) der "Sauerteig", die agaph aber das vor Zersetzung bewahrende "Salz" der menschlichen Beziehungen: ohne jenen gibt es keine Gärung, kein Erschaffen der kirchlichen Menschheit, gibt es keine Bewegung vorwärts, kein Pathos des Lebens; ohne dieses keine Unberührtheit von Fäulnis, keine Sammlung, keine Reinheit und Unbeschädigtheit dieses Lebens - gibt es kein Bewahren der Pfeiler und Gesetzestafeln, keine Organisiertheit des Lebens.
[...]
Die Antinomie
agaph-jilia ist schon in den Büchern des Alten Testaments angedeutet. Vielleicht haben auch die hellenischen "Christen vor Christus" sie unklar vorausgesehen. Aber vollständig hat sie sich zuerst in jenem Buch offenbart, in dem sich die Antinomien des geistigen Lebens wahnsinnig-klar und rettend-scharf enthüllten - im Evangelium.
Die gleichmäßige Liebe zu allen und zu jedem in ihrer Einheit und die in einem Brennpunkt konzentrierte Liebe zu einigen, sogar zu einem in seiner Aussonderung aus der allgemeinen Einheit; die Klarheit vor allen, die Offenheit mit allen und der Esoterismus, das Geheimnis für einige; der weitgehendste Demokratismus und der strengste Aristokratismus; unbedingt alle - die Auserwählten und die Auserwählten von den Auserwählten; "Predigt das Evangelium aller Kreatur" (Mark. 16, 15; vgl. Kol. 1, 23) und "Werfet die Perlen nicht vor die Säue"; kurz:
agaph-jilia - das sind die antinomischen Paare der Frohen Botschaft. Die Kraft des Evangeliums liegt darin, daß es allen zugänglich ist, keines Interpreten bedarf; aber seine Kraft liegt auch darin, daß es durch und durch esoterisch ist, daß man hier kein einziges Wort richtig verstehen kann ohne "die Überlieferung der Altvorderen", ohne Interpretation der geistlichen Lehrer, welche den Sinn des Evangeliums von Generation zu Generation stetig weitergeben. Ein wie Kristall durchsichtiges Buch und zugleich ein Buch mit sieben Siegeln. In der christlichen Gemeinde sind alle gleich und dennoch ist die ganze Struktur der Gemeinde hierarchisch. Um Christus sind einige konzentrische Schichten, die nach Maßgabe ihrer Verengerung ein immer größeres und tieferes Wissen enthalten. An der äußeren Peripherie - die äußeren "Volksmassen"; darauf folgen die "Christum Umgebenden"; dann die geheimen Schüler und Anhänger wie Nikodemus, Joseph von Arimathäa, Lazarus mit seinen Schwestern, die Frauen, welche dem Herrn folgten usw.; ferner - die Auserwählten: "die Siebzig", nach ihnen "die Zwölf", nach diesen - "die Drei", d.h. Petrus, Jakobus und Johannes und schließlich der "Eine", "welchen der Herr lieb hatte" (Joh. 13, 23; 19, 26; 20, 2; 21, 7 u. 20). Das ist der charakteristische Aufbau der heiligen Gemeinde der Jünger Christi. Es ist wohl kaum nötig, noch an die Predigt in Gleichnissen, an die Beschränkung des Zeugenkreises durch die oder jene konzentrische Schicht, an die Erklärung des Gleichnisses unter vier Augen zu erinnern.
[...]
Und dennoch, wenn dieses und vieles andere den unzweifelhaft esoterischen Charakter des Christentums beweist, so gibt es eine nicht geringere Anzahl von Datis (- sie sind wohlbekannt! -), welche seinen völlig exoterischen Charakter beweisen. Der Exoterismus und der Esoterismuus sind miteinander verstandesmäßig unvereinbar und versöhnen sich nur in dem geheimnisvollen christlichen Leben selbst, nicht aber in verstandesmäßigen Formeln und rationalen Schemata.
Die freundschaftliche, philische Struktur der brüderlichen, agapischen Gemeinde der Christen charakterisiert nicht nur die hierarchische und philarchische Beziehung ihrer Mitglieder in der Richtung auf das Zentrum, sondern auch die kleinsten Bruchstücke der Gemeinde. Gleich einem Kristall zerfällt die Gemeinde nicht in amorphe, nicht mehr kristallisierte - sondern in homoiomere oder totalitätsähnliche Teile. Die Grenze der Zerstückelung ist nicht das menschliche Atom, das sich von sich und aus sich auf die Gemeinde bezieht, sondern das Gemeinde-Molekül, das Freundespaar, welches als Prinzip der Handlungen erscheint, ähnlich wie die Familie ein solches Molekül der heidnischen Gemeinde war. Das ist eine neue Antinomie - die Antinomie: Persönlichkeit - Zweiheit. Einerseits ist die einzelne Persönlichkeit alles; aber anderseits ist sie etwas nur dort, wo "zwei oder drei" sind. "Zwei oder drei" ist etwas qualitativ Höheres als "einer", obwohl gerade das Christentum die Idee des absoluten Wertes der einzelnen Persönlichkeit erschaffen hat. Absolut wertvoll kann die Persönlichkeit nur in einer absolut wertvollen Gemeinschaft sein, obwohl man nicht sagen kann, daß die Persönlichkeit der Gemeinschaft vorausgehe oder die Gemeinschaft der Persönlichkeit. Die primäre Persönlichkeit mit der primären Gemeinschaft - die sich gegenseitig verstandesmäßig ausschließen - sind im kirchlichen Leben als Tatsache zugleich gegeben. Und wenn wir sie in ihrem beiderseitigen Entstehen nicht als ontologisch gleichwertig denken können, so sind wir doch um so weniger imstande, sie in der realisierten Wirklichkeit als ontologisch ungleichwertig zu denken. Das geistige Leben der Persönlichkeit ist von ihrer vorläufigen Gemeinschaft mit anderen untrennbar, aber die Gemeinschaft selbst ist undenkbar außerhalb des schon vorhandenen geistigen Lebens. Auf diese Verbundenheit der Gemeinschaft und des geistigen Lebens ist in dem heiligen Buche ausdrücklich hingewiesen.
Der Herr berief "zwölf" Jünger und sandte sie zur Predigt zu zweit, wobei diese Sendung zu zweit in Verbindung gebracht wird mit der Verleihung der Herrschaft über die unsauberen Geister, d.h. mit der Verleihung des Charisma, vor allem der Keuschheit und der Jungfräulichkeit: "Und er berief sie ..., und hob an und sandte sie zwei und zwei und gab ihnen die Macht über die unsauberen Geister." (Mark. 6, 7)
Gerade so war auch die Sendung der "Siebzig"; nach Erwählung der "Siebzig" sandte der Herr sie ebenfalls zu zweit (Luk. 10, 1), wobei er ihnen auch die Gabe der Heilung (Luk. 10, 9) und die Herrschaft über die Teufel (Luk. 10; 17, 19, 20) verlieh. Außerdem ist in den untersuchten Texten des Markus und des Lukas auch eine wenn auch nur teilweise Hindeutung auf das Wissen der Geheimnisse des Reiches enthalten: denn hier wird von der Sendung zur Predigt gesprochen, die Predigt aber setzt ein solches Wissen voraus. Ebensowenig zufällig ist, so sollte man meinen, daß Johannes der Täufer zwei seiner Schüler zu Christus sandte (Matth. 11, 2), als es notwendig wurde, die Persönlichkeit Jesu geistig zu durchschauen und festzustellen, ob er Christus sei.
[...]
So hat also das Wissen der Geheimnisse, d.h die sozusagen nach innen gewandte Geistträgerschaft, sowie auch die Wundertätigkeit, d.h. die sozusagen nach außen gewandte Geistträgerschaft oder kurz gesagt die Geistträgerschaft überhaupt als Voraussetzung das Verbleiben der Jünger zu zweit. "Zwei" sind nicht "einer und der andere", sondern etwas dem Wesen nach größeres, etwas dem Wesen nach viel Bedeutsameres und Gewaltigeres. "Zwei" - das ist eine neue Verbindung der Chemie des Geistes, wenn "einer und der andere" (der "Sauerteig" des Gleichnisses) sich qualitativ verwandeln und ein drittes bilden ("den gesäuerten Teig").
Dieser Gedanke zieht sich - weiter ausgeführt - als roter Faden durch das ganze 18. Kapitel des Matthäus. Ich will aber nur einige Glieder aus der Kette der Gedanken anführen.
Gelegentlich der Gespräche der Jünger Christi über den sündigenden Bruder weist der Herr auf ihre Macht hin, zu lösen und zu binden (Matth. 18, 18). Weil aber das Wesen dieser Macht in dem geistigen Wissen der Geheimnisse des Reiches, in dem Erfassen der geistigen Welt und des Göttlichen Willens besteht, so bezweckt die innere Betonung des 18. Verses, die Jünger an ihre Gnosis, an ihre Geistigkeit zu erinnern. Und weiter, in dem unmittelbar darauf folgenden 19. Vers paraphrasiert der Herr gleichsam seinen Gedanken, indem er das soeben von ihm Gesagte in einer Reihe anderer Begriffe zum Ausdruck bringt, wobei er aber den inneren Sinn des Ausgesprochenen unverändert läßt:
"Weiter sage ich euch" -
palin amhn legw umin -, d.h. ,noch einmal', ,ich wiederhole' - "wo zwei unter euch - duo - eins werden auf Erden, worum es ist, das sie bitten wollen, das soll ihnen widerfahren von meinem Vater im Himmel. Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen." (Matth. 18, 19-20)
Das Wissen der Geheimnisse oder insbesondere die Macht zu binden und zu lösen ist auch -
palin - die gemeinsame Bitte zweier, die eins geworden sind auf Erden, d.h. sich voreinander vollständig gedemütigt haben, die Widersprüche, Widergedanken und Widergefühle bis zur Wesenseinheit miteinander vollständig überwunden haben. Eine solche gemeinsame Bitte wird immer erfüllt - so sagt der Erlöser. Warum ist dem aber so? Weil das Versammeltsein von zweien oder dreien im Namen Christi, das Miteinandereintreten der Menschen in die geheimnisvolle geistige Atmosphäre um Christus, das Teilhaben an seiner gnadenreichen Kraft sie in eine neue geistige Wesenheit verwandelt, aus zweien ein Teilchen des Leibes Christi, eine lebendige Inkarnation der Kirche (- der Name Christi ist die mystische Kirche! -) macht, sie in die Kirche aufnimmt. Es ist begreiflich, daß alsdann auch Christus "mitten unter ihnen" ist - er ist mitten unter ihnen, wie die Seele "in" jedem Glied des von ihr beseelten Körpers ist. Aber Christus ist wesenseins mit seinem Vater, und darum tut der Vater das, worum Ihn der Sohn bittet. Die Macht zu binden und zu lösen setzt die Symphonie zweier auf Erden in allem und jedem voraus, die Überwindung der Selbstheit, die Einmütigkeit zweier, welche schon nicht mehr bedingt und beschränkt, sondern buchstäblich und unbeschränkt zu verstehen ist. Aber erstens wird dies wohl mitunter auf Erden erreicht, ist aber nicht unbedingt erreichbar; zweitens ist das Maß der Erreichbarkeit zugleich auch das Maß der Sanftmut. Unmittelbar nach der von dem Herrn gegebenen Erklärung fragt ihn der selbstvertrauende und stürmische Petrus: "Wie oft muß ich denn meinem Bruder, der an mir sündigt, vergeben? Ist's genug siebenmal?" (Matth. 18, 21), d.h. er wünscht die Norm und die Grenze der Vergebung zu erfahren (sieben ist die Zahl der Fülle, der Vollkommenheit, der Vollendung, der Grenze). Aber dieses "Ist's genug siebenmal?", diese Grenze der Vergebung würde auf eine sinnliche Beschränkung dessen hinweisen, der die an ihm begangene Sünde vergibt, auf das Fehlen der wahren geistigen Liebe in ihm (ganz anders verhielte es sich mit der Vergebung der Sünde wider den Geist, wider die Wahrheit selbst) - es wäre nur eine Modifikation der Selbstheit. In den Beziehungen, welche durch irgendeine bestimmte Zahl von Vergebungen begrenzt sind, ist überhaupt keine christliche Kraft enthalten, das sind ungeistige Beziehungen. Darum antwortet der Herr dem Apostel: "Ich sage dir: nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal" (Matth. 18, 22), d.h. ohne irgendeine Begrenzung, ohne Ende, vollständig und allbarmherzig (denn siebzigmal siebenmal bedeutet schon keine Endlichkeit mehr; sondern die Totalität der Fülle, die aktuellen Unendlichkeit). So muß man also, um einen Menschen für die Sünde gegen den Richtenden zu verurteilen, sich nicht auf eine menschliche, sondern auf eine göttliche Höhe erheben, muß man die göttlichen Geheimnisse wissen. Die Verurteilung würde in der Erfüllung des göttlichen Willens bestehen. Aber die Geheimnisse des Reiches kann man nur in der vollkommenen Liebe, welche bei zweien bis zu einer Symphonie in allem geht, wissen (- einen besonderen Fall davon stellt das "Greisentum" dar -). Diese Symphonie kann durch menschliche Anstrengungen jetzt nicht verwirklicht werden, sondern sie wird nur verwirklicht - in der unendlichen Demut vor dem Freunde, in der Vergebung der Sünde an sich "siebzigmal siebenmal".
Das rätselhafte Gleichnis des Herrn von dem "ungerechten Haushälter" (Luk. 16, 1-8) bringt dieselbe Idee der Vergebung als der Voraussetzung der Freundschaft zum Ausdruck. Der reiche Mann des Gleichnisses ist Gott, reich an schöpferischer Kraft, der Haushälter aber ist - der Mensch. Bei dem Göttlichen Gut angestellt, d.h. bei jenem Leben, welches ihm anvertraut wurde, bei jenen Kräften und Fähigkeiten, welche ihm ausgehändigt winden, damit er sie verwirkliche und vermehre (vgl. das Gleichnis von "den Talenten"), vergeudet der Mensch sein Leben, vernachlässigt seine schöpferischen Fähigkeiten, raubt das Göttliche Gut aus. Da aber zieht ihn Gott zur Rechenschaft; der Mensch muß alles verlassen, in dessen Besitz er sich wähnte, und was in Wahrheit ihm nur anvertraut war; ihm steht der Verlust aller äußeren Kräfte, die er im Leben nutzte, bevor, ferner des Körpers mit seinen Organen und endlich der seelischen Verfassung, welche im Feuer des Gerichts ausbrennen wird. Den Menschen steht bevor, "nackt" und "arm" zu sein und aus dem Hause Gottes "entfernt" zu werden, denn der Herr hat ihm schon erklärt: "Du kannst hinfort nicht Haushalter sein" (Luk. 16, 2). Der Haushalter begreift, daß seine Lage hoffnungslos ist, da er nur von dem Göttlichen Gut, nicht von seinem eigenen gelebt hat, und daß er eine schöpferische Kraft des Lebens weder hat noch auch haben kann: "Was soll ich tun? - sprach er bei sich selbst -. Mein Herr nimmt das Amt von mir; graben kann ich nicht, so schäme ich mich zu betteln. Ich weiß wohl, was ich tun will, wenn ich nun von dem Amt gesetzt werde, daß sie mich in ihre Häuser nehmen" (Luk. 16; 3, 4). Also, da er aus dem Hause Gottes vertrieben wird, will er sich wenigstens in den Häusern der anderen Menschen eine Stätte sichern, d.h. in den Seelen, in den Gebeten und in den Gedanken der anderen Menschen - in dem Gedächtnis der Kirche. Welche Maßregeln ergreift er, um sich dieses Andenken zu sichern, ,im in die fremden Häuser aufgenommen zu werden? Er tut folgendes: "Er rief zu sich alle Schuldner seines Herrn und sprach zu dem ersten: ,wie viel bist du meinem Herrn schuldig?' Er sprach: ,Hundert Tonnen Öl.' Und er sprach zu ihm: ,Nimm deinen Brief, setze dich und schreibe flugs fünfzig.' Darnach sprach er zu dem anderen: ,Du aber, wie viel bist du schuldig?' Er sprach: ,Hundert Malter Weizen.' Und er sprach zu ihm: ,Nimm deinen Brief und schreib achtzig.' (Luk. 16; 6, 7.) Anders gesagt: der ungerechte Haushalter streicht von den Schuldnern seines Herrn einen Teil dessen fort, was sie seinem Herrn schuldig sind, vermindert einen Teil ihrer Schulden vor seinem Herrn, d.h. er vermindert in seinem Bewußtsein ihre Sünden vor Gott. Moralisch, juristisch, gesetzlich ist diese Handlung ein neuer Fehltritt vor dem Herrn. Diese Handlung ist "ungerecht", weil die "Gerechtigkeit" eine Anwendung des Identitätsgesetzes ist, und weil man "nach der Gerechtigkeit" vom Schuldner - besonders von einem fremden - als vom Schuldner sprechen soll, von ihm nicht als von einem Nicht-Schuldner sprechen darf, und von jeder Schuld - besonders aber gegen einen anderen - so, wie sie ist, nicht aber so, wie sie nicht ist. Nach dem Gesetz kann man die Sünde überhaupt nicht vergeben; in keinem Fall darf man aber eine nicht gegen die eigene Person, sondern gegen Gott begangene Sünde vergeben. Aber im geistigen Leben wird gerade diese "Ungerechtigkeit" gefordert: wenn man sich als schuldig vor Gott, als in Schuld bei Gott, als sündig vor Gott erkennt und der Göttlichen Vergebung bedarf, so geziemt es sich, auch den anderen ihre Sünden zu vergeben, das Maß ihrer Schuldigkeit zu vermindern. Ja, wir haben nicht "das Recht", das zu bedecken, was keine Beleidigung unserer Person, sondern Gottes ist - was nicht uns berührt, sondern Gott. Es erscheint sogar sehr natürlich, die Schuld anderer Menschen aus Eifer für den Ruhm Gottes zu verstärken, zu betonen, daß wir ihre Sünden "nicht billigen", daß wir Gottes Schuldner fast zu den eigenen Schuldnern zählen. Und dennoch "lobte der Herr den ungerechten Haushalter, daß er klüglich gehandelt hatte; denn die Kinder dieser Welt sind klüger als die Kinder des Lichtes in ihrem Geschlecht" (Luk. 16, 8). Wenn wir fremde Sünden ungerecht vergeben, rechtfertigen wir uns, die ungerechten "Kinder dieser Welt", mehr, als wir uns, die gerechten "Kinder des Lichtes" durch gerechte Verdammung fremder Sünden rechtfertigen könnten. Aber man muß das unter vier Augen tun, mit jedem Sünder einzeln, im Verborgenen - so daß man in Wahrheit seine Sünde bedeckt, um im eigenen Bewußtsein seine Schuld wirklich zu vermindern, nicht aber um den anderen nur die eigene Großmut zu zeigen. Eine solche offenkundige Vergebung würde nicht nur ihr Ziel nicht erreichen, d.h. die Sünde des Bruders nicht bedecken, sondern, im Gegenteil, außerdem auch noch die anderen zur Sünde verführen: "Es wird ja doch vergeben werden."
Der Sinn des in Frage stehenden Gleichnisses ist die orthodoxe Auffassung der Kirchenbeschlüsse im Gegensatz zu der katholischen Auffassung. Dieser gemäß ist der Kirchenbeschluß eine kirchenrechtliche Norm, ein "Gesetz", das erfüllt werden muß, und dessen Nichterfüllung durch "Satisfaktion" zu sühnen ist. Im Gegensatz dazu sind, nach der orthodoxen Auffassung, die Kirchenbeschlüsse nicht Gesetze, sondern regulative Symbole der kirchlichen Gesellschaft. Sie werden niemals restlos erfüllt, und man kann auch nicht erwarten, daß sie irgendwann genau erfüllt würden; aber stets mußte und muß man sie im Auge behalten zum klareren Bewußtsein der eigenen Schuld vor Gott. "Sei dessen eingedenk" - so scheint die Kirche ihren Kindern zu sagen, sagt es aber jedem unter vier Augen, nicht-öffentlich, im Verborgenen -, "sei dessen eingedenk, wie du sein solltest, und was dir gerechterweise dafür gebührte, daß du der Göttlichen Gerechtigkeit nicht genügst. Aber deine Schuld wird dir vermindert, nicht weil du gut bist, nicht um deiner Verdienste willen, sondern weil Gott barmherzig, langmütig und gnädig ist. Sieh also zu, daß du demütig seist und andere nicht verurteilst, wenn sie schuldig sind, auch wenn du ihre Schuld mit einer solchen Zweifellosigkeit sehen solltest wie ,einen Schuldschein'."
Das Eigentum des reichen Mannes aus dem Gleichnisse ist durchaus gut und durchaus gerecht. Aber, um den Schuldnern seines Herrn einen Teil ihrer Schulden zu erlassen, nahm der Haushalter im Grunde den erlassenen Teil der Schuld aus dessen Eigentum für sich und schenkte ihn schon von sich aus den Schuldnern; jene Schuld, die er den Schuldnern erließ, war in bezug auf ihn selbst ein ungesetzliches Eigentum, ein "unrechtmäßiger Reichtum", ein "ungerechter Mammon", "
mamona thV adikiaV" (Luk. 16, 9). Kein Eigentum ist an sich gerecht oder ungerecht, gesetzlich oder ungesetzlich: es ist einfach und es ist gut. Aber jedes Eigentum ist in bezug auf die Person, die von ihm Besitz ergreift, gerecht oder ungerecht, gesetzlich oder ungesetzlich. Und für den Haushalter des Gleichnisses war das Eigentum des Herrn, welches er zuerst für sich und dann für die anderen ausraubte, und welches er demnach als das seinige betrachtete, in dem einen wie auch in dem anderen Falle ein "ungerechter Reichtum".
Gerade so gehört auch die Möglichkeit, die Sünde durch Gottes Barmherzigkeit, auf Rechnung der Göttlichen Gnade zu bedecken, nicht uns, und ist, wenn wir sie uns zueignen, ein "ungerechter Reichtum". Aber, da wir auch ohne dies diesen Reichtum auf jede Weise fortwährend für uns, zur Bedeckung unserer Sünden ausrauben, so ist das einzige, was uns - als Maßregel für den Fall unserer Lostrennung von diesem Reichtum der Göttlichen Gnade - übrig bleibt: uns in den Herzen anderer Menschen, in den "ewigen Hütten", einen Platz zu sichern, und dann wird Gott vielleicht unsere Klugheit loben. Dieses Für-sich-sichern eines Platzes ist gar nichts anderes als ein Knüpfen freundschaftlicher Bande. "Und ich sage euch" - so erläutert der Erlöser selbst das Gleichnis - "machet euch Freunde mit dem ungerechten Mammon, auf daß, wenn ihr nun darbet, sie euch aufnehmen in die ewigen Hütten" (Luk. 16, 9).
[...]
Das Gleichnis von dem ungerechten Haushalter zeigt, welche Wichtigkeit der Herr der Freundschaft beilegte. Bemerkenswert ist, daß hier ganz und gar nicht von der Wohltätigkeit aus dem Mammon der Ungerechtigkeit die Rede ist, von der Hilfe für die Armen. Nein, als unmittelbares Ziel wird nicht die Philanthropie hingestellt, sondern die Gewinnung von Freunden für sich, die Freundschaft: "Und Ich sage euch: Machet euch Freunde mit dem ungerechten Mammon" (Luk. 16, 9). Auf diese Stelle hat schon der hl. Klemens von Alexandria aufmerksam gemacht. Er sagt: "Der Herr sagte nicht: ,Gib' oder ,Verschaffe', oder ,Sei wohltätig', oder ,Hilf', sondern - ,Werde zum Freunde', weil die Freundschaft nicht in dem Geben allein zum Ausdruck kommt, sondern in der vollständigen Selbstaufopferung und in dem dauernden Zusammenleben."
Das mystische Eins-werden von zweien ist Bedingung des Wissens und folglich der Erscheinung des Geistes der Wahrheit, der dieses Wissen verleiht. Zugleich mit der Unterwerfung der Kreatur unter die inneren ihr von Gott gegebenen Gesetze und mit der Vollständigkeit der Keuschheit entspricht es dem Kommen des Reiches Gottes (- d.h. des Heiligen Geistes -) und der Vergeistigung der ganzen Kreatur. Nach einer bemerkenswerten Überlieferung, die in der sogenannten "Zweiten Epistel des hl. Klemens von Rom an die Korinther" aufbewahrt ist, heißt es: "Als jemand den Herrn fragte, wann Sein Reich kommen werde, gab er auf diese Frage zur Antwort: ,Wenn zwei eins sein werden, und das Äußere - wie das Innere, und das Männliche eins mit dem Weiblichen - weder männlich noch weiblich."
Klemens selbst deutet dieses rätselhafte Wort folgendermaßen: ",Zwei sind eins', wenn sie einander die Wahrheit sagten und in zwei Körpern ohne Heuchelei eine Seele wäre. Und ,das Innere wie das Äußere' - das bedeutet: Christus nennt die Seele das Innere, den Körper aber das Äußere. Wie also dein Körper erscheint, also wird sich auch deine Seele in deinen schönen Werken offenbaren,
en toiV kaloiV eogoiV (gesagt ist kaloiV, schönen, nicht agaJoiV guten, segensreichen). Und ,das Männliche mit dem Weiblichen - nicht das Männliche und nicht das Weibliche'. Das bedeutet, daß der Bruder, wenn er die Schwester erblickt, von ihr nicht etwas Weibliches denke (etwas, das sich auf das Weib bezieht, Jhlukon, d.h. wie von einem Weibe), und daß sie von ihm nicht etwas Männliches denke (aosenikon, d.h. wie von einem Manne). ,Wenn Ihr so tun werdet' - sagt Er - ,dann wird das Reich meines Vaters kommen.'"
Aber diese - sehr wahrscheinliche! - Interpretation bezieht sich mehr auf die äußere psychologische Seite des Kommenden Reiches und dringt wenig in die ontologischen Bedingugen ein, unter denen ein solches Leben der Seele möglich sein wird. Mir scheint, daß der Agraph genügend für sich spricht, wenn man ihn nur so nimmt, wie er ist. Aber hier ist für mich nur das erste Glied des Agraphen wichtig, nämlich: "wenn zwei eins sein werden", d.h. der Hinweis auf die bis zu Ende geführte Freundschaft - sofern diese nicht so sehr seitens der Handlungen und Gefühle, nicht nominalistisch als vielmehr seitens des metaphysischen Bodens, auf dem eine völlige Ein-mütigkeit möglich ist - realistisch - verstanden wird.
Bei den heiligen Vätern wird vielfach der Gedanke wiederholt von der Notwendigkeit des Nebeneinanderbestehens der universalen Liebe (
agaph) und der abgeschiedenen Freundschaft (jilia). Wie sich jene auf jeden, ungeachtet seiner Schlechtigkeit, beziehen soll, so umsichtig soll diese in der Wahl des Freundes sein. Denn mit dem Fretinde wächst man zusammen, den Freund nimmt man mit seinen Eigenschaften in sich auf; damit beide nicht zugrunde gehen, ist eine sorgfältige Wahl notwendig.
[...]
Zwischen den Liebenden zerreißt die trennende Membran der Selbstheit, und jeder sieht im Freunde gleichsam sich selbst, sein intimstes Wesen, sein anderes Ich, welches übrigens von dem eigenen Ich nicht verschieden ist. Der Freund wird in das Ich des Liebenden aufgenommen, ihm angenehm, d.h. von ihm angenommen, zur inneren Verfassung des Liebenden zugelassen und ihr in keiner Weise fremd, aus ihr nicht ausgestoßen. Der Geliebte im ursprünglichen Sinne dieses Wortes ist der von seinem Freunde "Aufgenommene", denn wie die Mutter das Kind, so hat der Liebende ihn in seinen Schoß aufgenommen und trägt ihn unter seinem Herzen. So sagt der Dichter Tjutschew, freilich aus einem etwas anderen Anlaß:
"Hier ist Dämmerung, dort Glut und Geschrei -
ich wandle wie im Traum;
nur das Eine fühle ich lebhaft:
Du bist mit mir, und alles ist in mir."
Die Aufnahme des befreundeten Ich in die Seele läßt zwei getrennte Ströme des Lebens zusammenfließen. Diese lebendige Einheit ergibt sich nicht aus der Unterwerfung der einen Persönlichkeit unter die andere und erst recht nicht als bewußte Sklaverei der einen Persönlichkeit bei der anderen. Man kann die freundschaftliche Einheit auch nicht als Konzession, als Nachgiebigkeit bezeichnen. Sie ist eben - Einheit. Der eine fühlt, wünscht, denkt und spricht nicht darum, weil der andere gerade so sprach, dachte, wünschte und fühlte, sondern darum, weil beide mit einem Gefühl fühlen, mit einem Wunsche wollen, mit einem Gedanken denken, mit einer Stimme sprechen. Jeder lebt durch den anderen, oder, richtiger gesagt, das Leben des einen wie des anderen strömt aus dem in-sich-einigen, gemeinsamen Mittelpunkt hervor, welchen die Freunde durch die schöpferische Tat über sich setzen. Daher sind seine verschiedenen Manifestationen immer an und für sich harmonisch. Ja, an und für sich - nicht durch angespanntes Gefühl, durch den Willen, durch das Denken oder durch eine Wortformel, die als Prinzip der Einheit hingestellt wird. Ob es nun eine Wortformel ist oder auch ein System solcher Formeln, welche ein Programm geben - das ist einerlei, diese wesens-gleiche Einheit oder dieses Bündnis, alliance, ist durchaus nicht dasselbe wie wesenseine Einheit oder die Einheit im eigentlichsten Sinne dieses Wortes, unité.
In den noumenalen Tiefen bestimmen die Freunde ihre Freundschaft - nicht in der Ebene der halb-imaginären und flügellosen Phänomenalität ("der Psychik"). Darum bilden die Freunde eine Zwei-Einheit, eine Dyas; sie sind nicht - sie selbst, sondern sie sind mehr als das - eine Seele.
[...]
Das gemeinsame Leben - das ist die gemeinsame Freude und das gemeinsame Leiden. In der Freundschaft ist nicht - Mit-Freude und Mit-Leiden, sondern eine harmonische Freude und ein harmoisches Leiden: die Zustände erster Art gehen von der Peripherie der Seele zu ihrem Zentrum und beziehen sich auf diejenigen, welche verhältnismäßig ferner von uns sind. Aber die Freude und das Leiden ganz Nahestehender richten sich, indem sie in dem Zentrum unserer Seele selbst entstehen, von hier aus zur Peripherie; das ist schon keine Widerspiegelung eines fremden Zustan-des, sondern ein eigener harmonischer Zustand eigene Freude und eigenes Leiden. Schon Aristoteles hat diesen Unterschied der Erlebnisse - mit Rücksicht auf das Leiden - bemerkt. Euripides aber in seiner Tragödie "Herakles" gibt uns den dichterischen Beweis eines solchen Unterschieds, indem er die Leiden des Amphitryon und des Herakles, des Amphitryon und des Theseus vergleicht.
Wenn aber die nahen Bande für die harmonischen Erlebnisse überhaupt günstig sind, so ist die Freundschaft der für sie am meisten geeignete Boden: nach der Versicherung des hl. Maximus des Bekenners "sieht der treue Freund die Unglücksfälle seines Freundes als die seinigen an und erduldet sie mit ihm zusammen, indem er bis zum Tode leidet". Liegt doch der unterscheidende Vorzug der Liebe nach dem hl. Nilus von Sinai darin, daß sie alle bis zur innersten Seelenverfassung vereinigt; infolge einer solchen Einheit übergibt ein jeder seine Leiden allen anderen und empfängt von ihnen ihre Leiden. Alle sind für alle verantwortlich und alle leiden für alle.
Indem sie sich so in ihrem Wesen vereinigen und eine verstandesmäßig unbegreifliche Zwei-Einheit bilden, kommen die Freunde zur Gefühls-Einheit, zur Willens-Einheit und zur Denk-Einheit, welche die Gefühls-Verschiedenheit, die Willens-Verschiedenheit und die Denk-Verschiedenheit vollkommen ausschließen. Aber diese Einheit ist zugleich, da sie aktiv gesetzt wird, durchaus kein mediumhaftes gegenseitiges Von-einander-Besitz-ergreifen der Persönlichkeiten, nicht ihr Versenken in das unpersönliche und indifferente - und daher unfreie - Element beider. Sie ist keine Auflösung der Individualitat, nicht ihre Erniedrigung, sondern ihre Erhebung, Verdichtung, Befestigung und Vertiefung. Das gilt um so mehr von der Freundschaft. In den Freundschaftsbeziehungen manifestieren sich der unersetzbare und mit nichts vergleichbare Wert und die Eigenart jeder Persönlichkeit in ihrer ganzen Schönheit. In dem andern Ich entdeckt die Persönlichkeit des einen ihre eigenen Keime, welche von der Persönlichkeit des anderen geistig befruchtet werden. Nach Platons Wort zeugt der Liebende im Geliebten. Jeder der Freunde erhält eine Befestigung für seine Persönlichkeit, indem er sein Ich in dem Ich des anderen findet. "Wer einen Freund hat" - sagt Chrysostomos - "der hat ein anderes Selbst (
allon eauton ecei)."
"Der Geliebte ist für den Liebenden" - so sagt der hl. Vater anderwärts - "dasselbe wie er selbst. Die Eigenschaft der Liebe ist solcher Art, daß der Liebende und der Geliebte schon nicht mehr zwei getrennte Personen zu bilden scheinen, sondern einen Menschen."
Die Trennung in der Freundschaft ist eine nur grob-physische, nur für das Sehen in der alleräußerlichsten Bedeutung des Wortes. Daher wird in dem Lobgesang am Tage der Drei Hohenpriester, am 30. Januar, von ihnen, die an verschiedenen Orten lebten, als von "leiblich getrennten, aber geistig vereinten" gesungen. Aber im gemeinsamen Leben wird sogar der Leib gleichsam einer. So schreibt der Mönchpriester Antonius vom Kiewer Höhlenkloster, indem er das Ende des Archimandriten Meletios beschreibt: "Über dreißig Jahre lebten wir mit ihm in engster freundschaftlicher Gemeinschaft, die letzten drei Jahre war es aber so, daß wir gleichsam ein Leib und eine Seele wurden."
Die Wucht und die Schwere des Dienstes liegt nicht in dem feuerwerkartig aufflammenden Werk der Minute, sondern in der unwandelbar glimmenden Geduld des Lebens. Es ist eine stille Ölflamme, keine Gasexplosion. Der Heroismus ist immer nur ein Schmuck, nicht das Wesen des Lebens, und als Schmuck hat er unabänderlich seinen rechtmäßigen Teil an affektierter Haltung. Wenn er sich aber an Stelle des Lebens stellt, artet er unvermeidlich in Schminke, in eine mehr oder weniger wahrscheinliche Pose aus. Der unmittelbarste Heroismus ist in der Freundschaft, in ihrem Pathos; aber auch hier ist der Heroismus nur die Blüte der Freundschaft, nicht ihr Stengel und nicht ihre Wurzel. Der Heroismus vergeudet, aber sammelt nicht; er lebt stets auf Kosten des anderen, nährt sich von den Säften, die aus der Alltäglichkeit gezogen sind. Hier, im Dunkel der Alltäglichkeit, sind die feinsten und zartesten Wurzeln der Freundschaft verborgen, welche das wahre Leben gewinnen und selbst für niemandes Blick sichtbar sind, bisweilen sogar von niemand vermutet werden. Aber sie nähren das im Gegenwärtigen gegebene Leben, die entfaltete Blume des Heroismus aber wird, wenn sie keine taube Blüte ist, nur den Samen einer anderen, zukünftigen Freundschaft hervorbringen.
Die freundschaftliche Liebe bezieht sich nicht auf die einzelnen Momente der geistigen Belebung, nicht auf Begegnungen, Eindrücke und Feste des Lebens, sondern auf das Ganze der irdischen, sogar der alltäglichen Lebenswirklichkeit - fordert ein "Achten auf sich selbst" gerade dort, wo der "Held" sich völlig gehen läßt. Wenn man gesagt hat, daß es für seinen Diener keinen bedeutenden Menschen gibt, oder richtiger, keinen Helden für seinen Diener, so liegt das eben daran, daß der eine von ihnen ein Held und der andere - ein Diener ist. Der Heroismus bringt nicht die wesentliche Größe der Persönlichkeit zum Ausdruck, sondern hüllt sich nur zeitweilig in sie ein; für den Diener bleibt er aber nur er selbst. In der Freundschaft aber ist es umgekehrt. Jede äußere Handlung des einen erscheint dem anderen ungenügend, weil er, die Seele des Freundes kennend, die Nichtübereinstimmung gleichviel welcher Handlung mit der inneren Größe der Seele sieht. Die einen bewundern den Helden, die andern schätzen ihn gering; die einen sind von ihm hingerissen, die andern hassen ihn. Der Freund bewundert aber niemals seinen Freund und schätzt ihn auch nicht gering; er ist nicht hingerissen von ihm und haßt ihn nicht. Er - liebt; für die Liebe ist aber einzig diese geliebte Seele unendlich lieb, unschätzbar, schwerwiegender als die ganze Welt mit allen ihren Verlockungen. Denn die
jilia kennt den Freund nicht an den äußeren Umrissen, nicht am Gewande des Heroismus, sondern an seinem Lächeln, an seinen leisen Reden, an seinen Schwächen, an seinem Verkehr mit den Menschen im einfachen menschlichen Leben - daran, wie er ißt und schläft.
Man kann rhetorisch Reden halten - und täuschen. Man kann rhetorisch leiden, sogar sterben kann man rhetorisch und - durch seine Rhetorik täuschen. Aber durch das alltägliche Leben kann man nicht täuschen, und die wahre Probe der Echtheit der Seele erfolgt durch das Leben zusammen, in der freundschaftlichen Liebe. Diesen oder jenen Akt des Heroismus kann jeder vollbringen; jeder kann interessant sein; aber so lächeln, so sprechen. so trösten, wie es der Freund tut, kann er allein und niemand anders. Ja, niemand und nichts in der Welt kann mir seinen Verlust ersetzen. Hier, in der Freundschaft beginnt die Manifestation der Persönlichkeit, und darum haben hier auch die eigentliche innerste Sünde und die eigentliche innerste Heiligkeit ihren Anfang. Man kann in vielen Bänden von Werken eine große Lüge über sich sagen; aber in der lebendigen Gemeinschaft mit dem Freunde kann man nicht einmal die kleinste aussprechen: "Wie der Scheme im Wasser ist gegen das Angesicht; also ist eines Menschen Herz gegen den andern" (Spr. Sal. 27, 19). Das Verhältnis des Alltäglichen und des Heroischen ist dem Verhältnis der Gesichtszüge und der zufälligen Lichtstellen im Gesicht ähnlich: letztere können sehr effektvoll sein, sie betreffen aber nicht das, was uns im Gesicht teuer oder abstoßend, anziehend oder hassenswert ist. Die Freundschaft aber gründet sich auf diese Halbschatten, welche die Gesichtszüge offenbaren, auf das Lächeln, auf das schlichte Leben - eben jenes Leben, in dem entweder die Liebe oder der Haß wahrhaft und endgültig zur Herrschaft gelangen. Man nehme dem Menschen seinen Heroismus, und der Mensch bleibt das, was er ist; man versuche in Gedanken seine innerste Heiligkeit oder innerste Liebe, sein verborgenes Leben und seine verborgene Sünde, welche in jeder seiner Gesten durchscheinen, aus ihm auszusondern und... kein Mensch wird übrigbleiben, gerade so, wie wenn man aus dem Wasser den Wasserstoff absondern würde.
Diese endgültige Zersetzung, diese vollständige Destillation erfolgt durch den Heiligen Geist am Ende der Tage. Hier aber und jetzt kann sich eine solche Scheidung durch einen freundschaftlich liebenden Menschen vollziehen, denn nur er wird uns auf unser Verborgenes hinweisen. Hier enthüllt sich noch einmal die metaphysische Natur der freundschaftlichen Verbindung. Die Freundschaft ist nicht nur psychologisch und ethisch, sondern vor allem ontologisch und mystisch. So haben sie zu allen Zeiten alle tiefen Beschauer des Lebens angesehen. Was ist denn also die Freundschaft? Das Schauen seiner selbst durch den Freund in Gott.
Die Freundschaft ist das Schauen seiner selbst durch die Augen eines anderen vor dem Antlitz eines dritten, eben DES DRITTEN. Indem das Ich sich im Freunde, in dessen Ich widerspiegelt, anerkennt es sein anderes Ich. Hier entsteht auf natürliche Weise das Bild des Spiegels, und es klopft schon während vieler Jahrhunderte unter der Schwelle des Bewußtseins an. Auch Plato bedient sich seiner: nach der Versicherung des größten Kenners
twn eowtikwn, des Platonischen Sokrates, "sieht der Freund in dem Liebenden sich selbst wie im Spiegel". Und nach zweimal zwölf Jahrhunderten sekundiert ihm Schiller in einem fast wörtlichen Widerhall: "Posa schaute" - so sagt er - "in diesem schönen Spiegel (d.h. in seinem Freunde Don Karlos) sich selbst und freute sich an seinem eigenen Bild." Dieses Sich-finden und Sich-erkennen in dem gleichklingenden Gefühl des Freundes ist in den Worten des Karlos an Philipp konkret dargestellt:
"Wie entzückend
Und süß ist es, in einer schönen Seele
Verherrlicht uns zu fühlen, es zu wissen,
Daß unsre Freude fremde Wangen rötet,
Daß unsre Angst in fremden Busen zittert,
Daß unsre Leiden fremde Augen wässern!"
Aber noch vor Platon hat Homer mit Rücksicht auf die Freundschaft bemerkt, daß "die Gottheit stets dem Ähnlichen den Ähnlichen zuführt und sie miteinander bekannt macht (auf diese Stelle beruft sich auch Platon im "Lysis"), und Nietzsche versichert nach Schiller, daß jeder Mensch sein
metoon habe, und daß die Freundschaft - zwei Menschen mit einem gemeinsamen metoon oder, anders gesagt, die gleiche Stimmung zweier Seelen sei.
Aber der Freund ist nicht nur ein Ich, sondern auch ein anderes Ich, ein anderer für das Ich. Aber das Ich ist einzig und alles; was ein anderes ist in bezug auf das Ich, das ist schon auch ein Nicht-Ich. Der Freund ist ein Ich, welches ein Nicht-Ich ist: der Freund ist - eine contradictio, und in seinem Begriffe selbst ist eine Antinomie eingeflochten. Wenn die Thesis der Freundschaft Identität und Gleichheit ist, so ist ihre Antithesis Nicht-Identität und Un-gleichheit. Ich kann dasjenige nicht lieben, was nicht Ich ist, denn dann hätte ich zu mir etwas mir Fremdes zugelassen. Zugleich aber will ich, wenn ich liebe, nicht das, was ich selber bin: in der Tat, wozu brauche ich denn das, was ich schon habe. Dieser innere Widerspruch der Freundschaft ist von dem jugendlichen Platon im "Lysis" aufgedeckt; von neuem aber entdeckt ihn Schiller.
"Die Liebe" - so sagt er in bezug auf die Freundschaft, im Gegensatz zu dem oben Angeführten - "entsteht nicht zwischen zwei gleichklingenden Seelen, sondern zwischen harmonisch klingenden"; und dann: "Mit Vergnügen" - schreibt Julius sich an seinen Freund Rafael wendend - "sehe ich meine Gefühle in deinem Spiegel, aber mit glühendem Genuß verzehre ich deine höheren, welche mir fehlen."
In der Liebe findet ein Austausch der Wesen statt, ihre gegenseitige Ergänzung. "Wenn ich hasse" - versichert Schiller durch den Mund seines Julius - "nehme ich etwas von mir; wenn ich liebe, bereichere ich mich mit dem, was ich liebe." Die Liebe bereichert; Gott ("Bog") - der die vollkommene Liebe hat -, Er ist - ein Reicher ("Bogatyj"): Er ist reich an Seinem Sohn, den Er liebt; Er ist die Fülle.
Die Gleichheit (
to omoion) und die Un-gleichheit oder die Gegensätzlichkeit (to enantion) sind in der Freundschaft gleich notwendig, indem sie ihre Thesis und Antithesis bilden. In der Platonischen Dialektik wird das Antinomische der Freundschaft aufgehoben oder, genauer, verdeckt durch den Begriff der Eigentümlichkeit, der beide Gegensätze in sich vereinigt; "die Freunde" - heißt es bei Platon - "sind ihrem Wesen nach einander eigen (oikeioi), in dem Sinne "eigen", daß jeder von ihnen ein Teil des anderen ist, welcher den metaphysischen Mangel seines Wesens ergänzt und darum mit ihm gleichartig ist. Aber weder der logische Begriff der Eigentümlichkeit noch die mit ihm gleichbedeutende in ihrer Plastizität ewige Gestalt des Androgyns kann die Kluft zwischen den beiden Pfeilern der Freundschaft ausfüllen, denn dieser Begriff und diese Gestalt sind in Wahrheit gar nichts anderes als eine abgekürzte Bezeichnung der Antinomie Ich und Nicht-Ich.
Man kann die Freundschaft auch noch mit der Konsonanz vergleichen. Das Leben ist eine ununterbrochene Reihe von Dissonanzen; aber durch die Freundschaft werden sie aufgelöst, und das gesellschaftliche Leben erhält in der Freundschaft seine Gedankenfülle und Versöhnung. Aber, gleichwie der strenge Einklang nichts Neues gibt, und einander naheliegende, aber nicht gleich hohe Töne sich in für das Ohr unerträglichen Interferenzen verbinden - so ist es auch in der Freundschaft: die übermäßige Nähe in der Verfassung der Seelen, jedoch bei Fehlen der Identität, führt zu allaugenblicklichen Stößen, zu ungleichen Schlägen, welche in ihrer Unverhofftheit und Unvoraussehbarkeit unerträglich sind und gleich einem flackernden Lichte reizen.
Hier, in dem Begriff der Konsonanz, verhüllen wir wieder die Antinoinien, denn die konsonierenden Töne müssen einander in etwas gleich und zugleich voneinander verschieden sein. Aber wie immer die metaphysische Natur der Freundschaft sei - jedenfalls ist die Freundschaft eine wesentliche Bedingung des Lebens.
Die Freundschaft verleiht dem Menschen Selbsterkenntnis; sie enthüllt, wo und wie man an sich arbeiten muß. Aber diese Durchsichtigkeit des Ich für sich selbst wird nur in der lebendigen Wechselwirkung der liebenden Persönlichkeiten enthüllt. Das "Zusammen" der Freundschaft ist der Quell ihrer Kraft. Sogar über das Gemeindeleben schrieb der hl. Ignatius der Gott-Träger an die Epheser, indem er auf die geheimnisvolle und wundertätige Kraft hinwies, welche die Christen von dem Leben zusammen erhalten:
"So strebt denn danach, euch dichter zu sammeln zum Danke an Gott und zu seinem Ruhme. Denn wenn ihr an einem Orte dichter versammelt seid, so werden die Kräfte Satans fortgefegt, und sein Verderben wird beseitigt in der Einmütigkeit eures Glaubens. Es gibt nichts Besseres als den Frieden, in welchem aller Krieg des Himmlischen mit dem Irdischen aufhört."
Hier wird offen darauf hingewiesen, daß das "Zusammen" der Liebe sich nicht auf den abstrakten Gedanken allein beschränken soll, sondern durchaus fühlbare, konkrete Manifestationen fordert bis einschließlich zur "Enge" in der Berührung. Man muß nicht nur einander "lieben", sondern man muß auch eng (
puknwV) zusammen sein, sich bemühen, nach Möglichkeit enger (puknoteoon) beieinander zu sein. [...]
Man muß ein gemeinsames Leben leben, man muß das alltägliche Leben selbst durch die äußere und körperliche Nähe durchleuchten und durchdringen, und dann werden bei den Christen neue und unerhörte Kräfte erscheinen, welche Satan überwinden, alle seine unsauberen Kräfte fortfegen und entfernen. Darum schreibt derselbe Heilige dem hl. Polykarpus, dem Bischof der Kirche zu Smyrna und also damit der ganzen Kirche: "Arbeitet miteinander, strebt miteinander, lauft miteinander, leidet miteinander, ruhet miteinander, wachet miteinander wie Gottes Haushalter, Gäste und Diener."
Indem er vielleicht vor seinen geistigen Augen diese Worte des schon geschiedenen Lehrers hatte, lehrte der heilige Polykarpus von Smyrna seinerseits die Philipper: "Wer die Liebe (
agaphn) hat, ist aller Sünde fern."
Hier wiederholt sich derselbe Grundgedanke. Die Liebe gibt dem Liebenden besondere Kräfte, und diese Kräfte überwinden die Sünde; nach den Worten [des hl. Ignatius] des Gott-Trägers entfernen und fegen sie die Kräfte Satans und sein Verderben hinweg.
Dasselbe versichern immer wieder auch andere, welche die Gesetze des geistigen Lebens kennen. So mahnte der Greis des Swirschen Klosters Vater Theodor vor seinem Tode mit väterlicher Milde: "Ihr Väter, um des Herrn willen trennt euch nicht voneinander, weil man in der gegenwärtigen Zeit, die großen Leiden entgegengeht, nur wenige finden kann, mit denen man auch nur ein offenes Wort reden könnte."
Diese Worte sind im höchsten Grade bemerkenswert: denn in ihnen ist nicht davon die Rede, daß man einander gram sein, einander zürnen oder miteinander streiten sollte. Nein, hier ist mit vollkommener Bestimmtheit von der Notwendigkeit die Rede, äußerlich, leiblich, empirisch, alltäglich zusammen zu bleiben.
Ein solches gemeinsames Leben durch die Kirche wurde und wird für so unabänderlich notwendig, für so wesentlich mit dein Besten im Leben verbunden gehalten, daß wir sogar über dem Dahingeschiedenen ihre Stimme vernehmen: "Wie gut und wie schön ist es für die Brüder, zusammen zu leben." Am Grabe eines meiner Angehörigen ist mir dieser Sehnsuchtsseufzer nach der Freundschaft ins Herz gefallen. Selbst dann, so dachte ich, wenn mit dem Leben völlig abgeschlossen ist, wird mit glühendem Verlangen an das gemeinsame Leben, an das Ideal der Freundschaft gedacht. Alles ist dahin, das Leben selbst ist entschwunden! Und dennoch bleibt die Sehnsucht nach freundschaftlicher Gemeinschaft. Folgt nicht daraus, daß gerade die Freundschaft das letzte Wort des eigentlich menschlichen Elements der Kirchlichkeit ist, den Gipfel der Menschlichkeit bildet? Solange der Mensch Mensch bleibt, sucht er Freundschaft. Das Ideal der Freundschaft ist dem Menschen nicht angeboren, sondern es ist für ihn a priori: es ist - ein konstitutives Element seines Wesens.
Johannes Chrysostomos interpretiert sogar die ganze christliche Liebe als Freundschaft. In der Selbstaufopferung des Apostels Paulus, in seiner Bereitwilligkeit, sich für die Geliebten in das Gehenna zu stürzen, sieht er "die flammende Liebe" der Freundschaft.
"Ich will", so sagt er, "ein Beispiel der Freundschaft geben! Freunde sind teurer als Väter und Söhne - Freunde in Christo." Es wird weiter das Beispiel der ersten Christen der Gemeinde zu Jerusalem angeführt, welches in der Apostelgeschichte 4, 32-35 dargestellt ist. "Das ist Freundschaft", so fährt der heilige Vater fort, "so jemand das Seinige nicht als das Seinige, sondern als dem Nächsten gehörend betrachtet, das Eigentum des Nächsten aber als für ihn fremdes ansieht -, so einer das Leben des andern hütet wie sein eigenes, und jener ihm mit der gleichen Nächstenliebe heimzahlt." In dem Fehlen einer solchen Freundschaft erblickt Chrysostomos die Sünde der Menschheit und den Quell alles Unglücks und sogar der Haeresien. "Aber wo denn", so wird man sagen, "kann man einen solchen Freund finden? Man kann es eben nirgends, weil wir nicht so sein wollen; wenn wir aber wollten, so wäre es sehr wohl möglich. Wenn es in der Tat nicht möglich wäre, so hätte Christus es nicht geboten und nicht soviel von der Liebe gesprochen. Die Freundschaft ist etwas Großes, und wie groß sie ist, das kann niemand begreifen, das kann sogar kein Wort zum Ausdruck bringen, das kann einer nur durch persönliche Erfahrung erkennen. Aus ihrem Nicht-Begreifen entsprangen die Haeresien; es läßt die Hellenen bis jetzt Hellenen bleiben" usw.
Zusammen sein, miteinander bleiben wird in dem Gemeinde-leben gefordert. Um so mehr bezieht sich dieses "mit" auf das freundschaftliche Leben, in welchem die konkrete Nähe eine besondere Kraft bat, und hier erhält dieses "mit" eine gnoseologische Bedeutung. Dieses "mit", als "Tragen der Lasten" des einen durch den anderen (Gal. 6, 2), als gegenseitiger Gehorsam verstanden, ist der Lebensnerv der Freundschaft und ihr Kreuz. Und eben darum haben erfahrene Leute so oft im Verlauf der Geschichte der Kirche auf diesem "mit" bestanden.
Von dem Wandern der Mönche zu zweit sprechend, führt Thomas von Canterbury das volkstümliche Sprichwort an: "Miles in obsequio famulum, clericus socium, monachus habet dominum - für den Krieger ist der Novize ein Diener, für den Kleriker ein Gefährte, für den Mönch ein Herr."
Ja, und alles Mönchtum wie überhaupt alles christliche Leben ist in diesem Sinne Mönchtum. Jeder von den Freunden demütigt sich, ohne zu murren, vor seinem Lebensgefährten wie der Diener vor dem Herrn: hier erhält das französische Sprichwort: "Qui a compagnon, a maitre - wer einen Gefährten hat, der hat auch einen Herrn" - seine vollkommene Rechtfertigung. Darin eben liegt der Gehorsam der Freundschaft, das Tragen des Kreuzes vom Bruder.
Die Treue der einmal geknüpften Freundschaft, die Unzerreißbarkeit der Freundschaft, die wie die Unzerreißbarkeit der Ehe strenge Festigkeit bis zum Ende, bis zum "Märtyrerblut" - das ist das Grundvermächtnis der Freundschaft, und in dessen Befolgung liegt ihre ganze Kraft. Es gibt viele Verlockungen, sich von dem Freunde loszusagen, viele Versuchungen, allein zu bleiben oder neue Beziehungen zu knüpfen. Wer aber die einen zerrissen hat, der wird auch die zweiten und die dritten zerreißen, weil der Weg des Kampfes bei ihm durch das Streben zum seelischen Behagen vertauscht ist; letzteres wird aber niemals erreicht werden und kann und soll auch bei keiner Freundschaft erreicht werden. Im Gegenteil, das vollbrachte Werk gibt der Freundschaft Festigkeit. Wie bei der Aufführung von Mauern diese um so fester werden, je mehr Wasser auf den Stein gegossen wird, so wird auch von den um der Freundschaft willen vergossenen Tränen diese nur dauerhafter.
Tränen sind der Zement der Freundschaft, aber nicht alle, sondern jene, welche infolge einer Liebe fließen, die sich nicht auszudrücken vermag, und infolge von Kränkungen, welche durch den Freund zugefügt wurden. Je größer die Freundschaft ist, um so mehr Tränen gibt es, und je mehr es Tränen gibt, um so größer ist die Freundschaft.
Tränen in der Freundschaft sind dasselbe wie Wasser bei der Feuersbrunst in einer Spiritusfabrik: je mehr Wasser gegossen wird, um so höher erhebt sich die Flamme.
Es wäre ein Fehler zu glauben, daß Tränen nur aus Mangel an Liebe kämen. Nein, "es gibt Keime, welche in unserer Seele nur unter einem Regen von Tränen erwachsen, die für uns vergossen wurden; inzwischen bringen aber diese Keime herrliche Blumen und heilsame Früchte... Und ich weiß nicht, ob ich mich entschließen würde, einen Menschen zu lieben, der niemanden zum Weinen gebracht hat. Wer am stärksten liebte, mochte oft am meisten leiden, denn eine unergründliche, zärtliche und verschämte Grausamkeit ist in der Regel die unruhige Schwester der Liebe. Die Liebe sucht überall Beweise der Liebe; wer aber wäre nicht ge-neigt, diese Beweise vor allem in den Tränen des Geliebten zu sehen? ... Selbst der Tod würde nicht genügen, den Liebenden zu überzeugen, wenn er entschlossen wäre, den Forderungen der Liebe Gehör zu schenken, denn der Augenblick des Todes erscheint der inneren Grausamkeit der Liebe zu kurz; jenseits des Todes ist Raum für ein Meer von Zweifeln; wer zusammen stirbt, stirbt vielleicht nicht ohne Unruhe. Hier sind lang und langsam fließende Tränen nötig. Der Kummer ist die Hauptnahrung der Liebe, und jede Liebe, die sich nicht etwas von reinem Herzeleid nährte, stirbt wie ein Neugeborener, den man wie einen Erwachsenen ernähren wollte... Es ist - leider! - nötig, daß die Liebe weine, und sehr oft werden die Ketten der Liebe geschmiedet und in dem Augenblick für's Leben gestählt, wenn sich das Schluchzen erhebt." [Maurice Maeterlinck, Le trésor des humbles]
[...]
Aber diese gegenseitige Durchdringung der Persönlichkeiten ist eine Aufgabe, keine ursprüngliche Gegebenheit in der Freundschaft. Wenn sie erreicht ist, dann wird die Freundschaft durch die Macht der Dinge unzerreißbar, und die Treue für die Persönlichkeit des Freundes hört auf, ein verdienstliches Werk zu sein, weil sie nicht gebrochen werden kann. Solange aber eine solche höhere Einheit nicht erreicht ist, ist die Treue nicht nur zur Aufrechterhaltung der Freundschaft, sondern auch um des Lebens der Freunde willen selbst notwendig und wurde von dem kirchlichen Bewußtsein stets für notwendig gehalten. Die Bewahrung der einmal begonnenen Freundschaft gibt alles, ihr Bruch erscheint nicht nur als Bruch der Freundschaft, sondern setzt auch das geistige Dasein des Abtrünnigen der Gefahr aus: denn die Seelen der Freunde begannen bereits ineinander zu wachsen.
Indessen gibt es eine Leidenschaft, vor welcher die Freundschaft auf der Hut sein muß, welche in einem Augenblick die heiligsten Bande zerreißen kann. Diese Leidenschaft ist - der Zorn. Ihn müssen die Freunde am meisten fürchten. "Nichts" - so sagt ein Psychologe - "vernichtet mit einer solchen Unaufhaltsamkeit die Wirkung von Verboten wie der Zorn, weil sein Wesen die Zerstörung und nur die Zerstörung ist" - wie Moltke sich über den Krieg ausgedrückt hat. "Diese Eigenschaft des Zornes macht ihn zum unschätzbaren Bundesgenossen jeder anderen Leidenschaft. Die wertvollsten Genüsse werden von uns mit grausamer Freude mit Füßen getreten, wenn sie den Ausbruch unserer Empörung zurückhalten. In einem solchen Augenblick ist es leicht genug, die Freundschaft zu brechen, sich von alten Privilegien und Rechten loszusagen, jegliche Beziehungen und Bande zu zerreißen. Wir finden eine rauhe Freude in der Zerstörung; und was den Namen der Charakterschwäche führt, geht in den meisten Fällen auf die Unfähigkeit zurück, sein niederes ,Ich' und alles, was ihm lieb und teuer ist, zum Opfer zu bringen."
[...]

[Übersetzung Nikolai von Bubnoff, mit einer Ergänzung von Fritz Mierau (Anfang)]

 

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