pavel florenskij

werke in zehn lieferungen

band 2 kult und kultur

2.2 christentum und kultur

 

 

 

 

 

 

 

 

Herausgegeben von Christian Hufen
Aus dem Russischen von Annett Jubara, Fritz Mierau, Jörg Milbradt, Olga Radetzkaja und Ulrich Werner
336 Seiten / Format 205 x 125 mm / Französische Broschur
Ê 22
ISBN 3-931337-34-0

 

 

Inhalt

Das Dreifaltigkeits-Sergi-Kloster und Rußland
Der Kultakt als Synthese der Künste
Die Gebetsikonen des ehrwürdigen Sergij
Das Gesetz der Illusion
Die Ikonostase
Notizen zu Christentum und Kultur

Denkschrift zur Orthodoxie

 

 

Wer sich in das Herz Rußlands, des einzig legitimen Erben von Byzanz, eingelebt hat, und auf diesem Wege, aber auch unmittelbar, in das Herz des alten Griechenland, wer sich in dieses Herz, sage ich, hier in der Lawra eingelebt hat, der fühlt immerfort den Gedanken in sich aufsteigen, daß es in den verborgensten Tiefenschichten der Kultur Entsprechungen zwischen dem, was er vor sich sieht, und der griechischen Antike gibt. Es handelt sich dabei nicht um eine äußerliche, also oberflächlich-zufällige Nachahmung der Antike, nicht einmal um geschichtliche Einflüsse, die übrigens unbestreitbar und zahlreich sind, sondern vielmehr um den eigentlichen Geist der Kultur, um jenes Flair ihrer Musik, das man mit einer verwandtschaftsbedingten Ähnlichkeit vergleichen könnte: diese reicht bisweilen bei Gliedern einer Familie bis zu kleinsten Eigentümlichkeiten, bis hin zur Intonation und Stimmfärbung, während eine ins Auge springende äußere Ähnlichkeit fehlt...

Großes entsteht nicht durch Zufall, es ist kein launenhaftes Strohfeuer; es ist das Wort, auf das ungezählte, in der Geschichte schon seit langem bemerkbare Fäden hinlaufen. Das Große ist die Synthese dessen, was hier und dort im ganzen Volke phosphoreszierend aufgeblinkt ist; es wäre nicht groß, wenn es nicht der schöpferischen Sehnsucht des ganzen Volkes die Erfüllung brächte. Es synthetisiert ja gerade die dunklen Regungen auf schöpferische Weise und sammelt sie in einem einzigen Wort. Von solcher Art war das Wort des Ehrwürdigen Sergi: er hat ausgedrückt, was das Suchen und Streben des russischen Volkes im Innersten ausmacht. Dieses Wort ist, obschon es auch früher schon angeklungen war, doch erst durch ihn bewußt und vollgültig ausgesprochen worden. In diesem Sinne besitzt die Lawra-Kirche zur Allheiligen Dreifaltigkeit unbestreitbar eine Vorrangstellung im Weltmaßstab. Der Beginn der Selbständigkeit Rußlands gegenüber Westeuropa ist durch den Bau einer Dreifaltigkeits-Kirche markiert worden [... wie] durch einen ebensolchen Bau seinerzeit der Beginn der Selbständigkeit Rußlands im Osten markiert worden ist.

Der Verehrer der Allheiligen Dreifaltigkeit, der Ehrwürdige Sergi, erbaut eine Dreifaltigkeits-Kirche und sieht in ihr einen Mahnruf zur Einheit des russischen Landes im Namen der höheren Wirklichkeit. Er erbaut eine Kirche zur Allheiligen Dreifaltigkeit, "damit durch ihren beständigen Anblick", wie sich der Verfasser der Vita des Ehrwürdigen Sergi ausdrückt, "die Furcht vor der haßerfüllten Zerrissenheit der Welt besiegt werde". Die Dreifaltigkeit wird "Lebenschaffend", d.h. Ursprung, Quell und Born des Lebens, genannt, und sie ist es als die wesenseine und unteilbare, denn Einheit in der Liebe ist Leben und Ursprung des Lebens, Feindschaft aber, Zwistigkeiten und Spaltungen zerstören, verderben und führen zum Tode. Der todbringenden Zerteilung steht die lebenschaffende Einheit entgegen, die ohne Unterlaß durch den geistigen Akt der Liebe und des gegenseitigen Verständnisses verwirklicht wird. Nach der schöpferischen Idee ihres Gründers ist die Dreifaltigkeits-Kirche - die er auf geniale Weise sozusagen entdeckt hat - der Prototyp der Sammlung Rußlands in geistiger Einheit, in brüderlicher Liebe. Sie sollte das Zentrum der kulturellen Einung Rußlands sein, in welchem alle Seiten des russischen Lebens ihren Halt und ihre höhere Rechtfertigung finden.

Pavel Florenskij
aus: Das Dreifaltigkeits-Sergi-Kloster und Rußland

 

biographie

editionen

texte zu florenskij

bibliographie

 

homepage

 


© KONTEXTverlag [anfragen] relaunch version 2004 [bestellungen] alle rechte vorbehalten