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Alles bewegt sich im Kreise, alles gleitet hinab in den Abgrund
des Todes. Nur Einer verbleibt, nur in Ihm ist Unwandelbarkeit,
Leben und Ruhe. "Zu Ihm gravitiert der ganze Fluß
der Ereignisse. In Ihm vereinigen sich, wie in einem Mittelpunkt,
ausgehend von der Peripherie alte Radien des Kreises der Zeiten."
So rede nicht ich auf Grund meiner dürftigen Erfahrung;
vielmehr wird es von einem Mann bezeugt, welcher vollkommen in
das Element des Einen Zentrums untergetaucht ist - vom Bischof
Feofan dem Einsiedler. Dagegen ist außerhalb dieses Einen
Zentrums "dies einzig gewiß - daß es nichts
Gewisses gibt und nichts, was unglücklicher und stolzer
wäre als der Mensch - solum certum nihil esse certi
et homine nihil miserius aut superbius", wie einer der edelsten
Heiden, der sich völlig der Befriedigung seiner unbegrenzten
Wißbegierde hingab - Plinius der Ältere - bezeugt
hat. Ja, im Leben wirbelt und schwankt alles wie in einer Luftspiegelung.
Aus der Tiefe der Seele erhebt sich aber das unabweisbare
Bedürfnis, sich auf den "Pfeiler und die
Grundfeste der Wahrheit" zu stützen, auf
den stuloz
cai edoaiwma thz alhneiaz (1. Tim. 3, 15). Thz alhneiaz nicht einfach alhneiaz - nicht auf eine der vielen
Wahrheiten, eine vereinzelte und zersplitterte menschliche Wahrheit,
welche schwankt und verweht
wird wie der auf den Bergen vom Hauch des Windes getriebene Staub,
sondern auf die vollständige Wahrheit, welche von Ewigkeit
zu Ewigkeit währt, auf "die Eine und Göttliche,
hell leuchtende Wahrheit" - jene "Wahrheit", die
nach dem Ausspruch eines alten Dichters die "Sonne der Welt"
ist.
Wie soll man nun aber an diesen Pfeiler herantreten?
Bei dem unverweslichen Leichnam des heiligen Sergius, welcher
die geängstete Seele stets beruhigt, hören wir alltäglich
und allstündlich einen Ruf, der auch der verwirrten Vernunft
Ruhe verheißt. Die ganze 43. Perikope von Matthäus,
welche in dem Bittgebet an den Heiligen verlesen wird (Matth.
11, 27-39), hat vornehmlich eine erkenntnismäßige
Bedeutung - ich möchte sagen, eine theoretisch-erkenntnismäßige,
gnoseologische, und diese Bedeutung der Perikope wird noch einleuchtender,
wenn wir uns klar machen, daß das ganze 11. Kapitel
von Matthäus die Frage der Erkenntnis zu seinem Gegenstande
hat - die Mangelhaftigkeit der verstandesmäßigen Erkenntnis
und die Notwendigkeit einer geistigen Erkenntnis. Ja, Gott hat
alles, was einzig als der Erkenntnis wert bezeichnet werden kann,
"den Weisen und Klugen verborgen und es den Unmündigen
offenbart" (Matth. 11, 26). Es wäre eine unberechtigte
Vergewaltigung des Wortes Gottes, die "Weisen und Klugen"
in "scheinbar Weise" und "scheinbar Kluge",
welche es in Wirklichkeit nicht sind, umzudeuten, sowie in den
"Unmündigen" tugendhafte Weise zu erblicken. Gewiß
hat der Herr ohne Ironie das gesagt, was er hat sagen wollen;
die wahre menschliche Weisheit, die wahre menschliche Vernunft
ist ungenügend, eben deshalb, weil sie menschlich ist. Zugleich
kann die Unmündigkeit des Verstandes, der Mangel an intellektuellem
Reichtum, welcher dem Eintritt in das Reich Gottes hinderlich
ist, eine Bedingung für den Erwerb des geistigen Wissens
sein. Aber die Fülle von allem ist in Jesu Christo, und
daher kann man das Wissen nur durch ihn und von ihm erhalten.
Alle menschlichen Erkenntnisanstrengungen, mit denen sich die
armen Weisen abgequält haben, sind vergeblich. Wie unförmige
Kamele sind sie mit ihren Erkenntnissen beladen, und wie salziges
Wasser facht die Wissenschaft den Wissensdurst nur an, ohne jemals
den erregten Verstand zu beruhigen. Aber das "sanfte Joch",
des Herrn und seine "leichte Last" geben dem Verstande,
was das grausame und schwere Joch der Wissenschaft, ihre unerträgliche
Last nicht geben kann. An dem Gnade spendenden Grabe tönen
daher immerfort, wie ein unversiegbarer Quell lebendigen Wassers,
die göttlichen Worte:
"Alle Dinge sind mir übergeben von meinem Vater. Und
niemand kennet den Sohn denn nur der Vater; und niemand
kennet den Vater denn nur der Sohn und wem es der Sohn
will offenbaren. Kommet zu mir alle, die ihr mühselig
und beladen seid; ich will euch erquicken. Nehmet auf
euch mein Joch und lernet von mir; denn ich bin sanftmütig
und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für
eure Seelen. Denn mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht."
(Matth. 11, 27-30)
Aber ferne sei mir der Wunsch, jemanden zu überreden. Von
meiner Armut gebe ich. Und wenn nur eine Seele fühlte,
daß ich ihr nicht mit Lippen und nicht in die Ohren spreche,
so wünschte ich nichts mehr. Ich weiß, daß du
mich u hören wirst, weil eben durch dich meine Selbstsucht
vernichtet wird.
Mein seelenverwandter Bruder! Auch getrennt von dir und einsam
bin ich doch mit dir. Mich über die Zeit erhebend, sehe
ich deinen klaren Blick, rede mit dir von neuem von Angesicht
zu Angesicht. Für dich möchte ich meine fragmentarischen
Zeilen schreiben. Du wirst mir nicht verdenken, daß ich
sie systemlos hinwerfe, indem ich nur wenige Pfähle abstecke.
In dunklen Herbstnächten, in den heiligen Stunden des Schweigens,
wenn in den Wimpern die Träne der Begeisterung funkelt,
werde ich dir heimlich die Schemata und dürftigen Bruchstücke
jener Fragen schreiben, welche wir so oft zusammen erwogen haben.
Du weißt schon vorher, was ich schreiben werde. Du wirst
begreifen, daß es nicht Belehrungen sind, und daß
der feierliche Ton von meiner törichten Ungewandtheit herstammt.
Wenn der weise Lehrer auch das Schwere spielend macht, so nimmt
der unerfahrene Schüler auch in unwichtigen Dingen einen
feierlichen Ton an. Ich aber bin nicht mehr als ein Schüler,
welcher die Lehren der Liebe nach dir wiederholt.
[Übersetzung
Nikolai von Bubnoff]
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