pavel florenskij

der pfeiler und die

grundfeste der wahrheit

 

 

 

 

erster brief:

die beiden welten

[...]
Alles bewegt sich im Kreise, alles gleitet hinab in den Abgrund des Todes. Nur Einer verbleibt, nur in Ihm ist Unwandelbarkeit, Leben und Ruhe. "Zu Ihm gravitiert der ganze Fluß der Ereignisse. In Ihm vereinigen sich, wie in einem Mittelpunkt, ausgehend von der Peripherie alte Radien des Kreises der Zeiten." So rede nicht ich auf Grund meiner dürftigen Erfahrung; vielmehr wird es von einem Mann bezeugt, welcher vollkommen in das Element des Einen Zentrums untergetaucht ist - vom Bischof Feofan dem Einsiedler. Dagegen ist außerhalb dieses Einen Zentrums "dies einzig gewiß - daß es nichts Gewisses gibt und nichts, was unglücklicher und stolzer wäre als der Mensch - solum certum nihil esse certi et homine nihil miserius aut superbius", wie einer der edelsten Heiden, der sich völlig der Befriedigung seiner unbegrenzten Wißbegierde hingab - Plinius der Ältere - bezeugt hat. Ja, im Leben wirbelt und schwankt alles wie in einer Luftspiegelung. Aus der Tiefe der Seele erhebt sich aber das unabweisbare Bedürfnis, sich auf den "Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit" zu stützen, auf den
stuloz cai edoaiwma thz alhneiaz (1. Tim. 3, 15). Thz alhneiaz nicht einfach alhneiaz - nicht auf eine der vielen Wahrheiten, eine vereinzelte und zersplitterte menschliche Wahrheit, welche schwankt und verweht
wird wie der auf den Bergen vom Hauch des Windes getriebene Staub, sondern auf die vollständige Wahrheit, welche von Ewigkeit zu Ewigkeit währt, auf "die Eine und Göttliche, hell leuchtende Wahrheit" - jene "Wahrheit", die nach dem Ausspruch eines alten Dichters die "Sonne der Welt" ist.
Wie soll man nun aber an diesen Pfeiler herantreten?
Bei dem unverweslichen Leichnam des heiligen Sergius, welcher die geängstete Seele stets beruhigt, hören wir alltäglich und allstündlich einen Ruf, der auch der verwirrten Vernunft Ruhe verheißt. Die ganze 43. Perikope von Matthäus, welche in dem Bittgebet an den Heiligen verlesen wird (Matth. 11, 27-39), hat vornehmlich eine erkenntnismäßige Bedeutung - ich möchte sagen, eine theoretisch-erkenntnismäßige, gnoseologische, und diese Bedeutung der Perikope wird noch einleuchtender, wenn wir uns klar machen, daß das ganze 11. Kapitel von Matthäus die Frage der Erkenntnis zu seinem Gegenstande hat - die Mangelhaftigkeit der verstandesmäßigen Erkenntnis und die Notwendigkeit einer geistigen Erkenntnis. Ja, Gott hat alles, was einzig als der Erkenntnis wert bezeichnet werden kann, "den Weisen und Klugen verborgen und es den Unmündigen offenbart" (Matth. 11, 26). Es wäre eine unberechtigte Vergewaltigung des Wortes Gottes, die "Weisen und Klugen" in "scheinbar Weise" und "scheinbar Kluge", welche es in Wirklichkeit nicht sind, umzudeuten, sowie in den "Unmündigen" tugendhafte Weise zu erblicken. Gewiß hat der Herr ohne Ironie das gesagt, was er hat sagen wollen; die wahre menschliche Weisheit, die wahre menschliche Vernunft ist ungenügend, eben deshalb, weil sie menschlich ist. Zugleich kann die Unmündigkeit des Verstandes, der Mangel an intellektuellem Reichtum, welcher dem Eintritt in das Reich Gottes hinderlich ist, eine Bedingung für den Erwerb des geistigen Wissens sein. Aber die Fülle von allem ist in Jesu Christo, und daher kann man das Wissen nur durch ihn und von ihm erhalten. Alle menschlichen Erkenntnisanstrengungen, mit denen sich die armen Weisen abgequält haben, sind vergeblich. Wie unförmige Kamele sind sie mit ihren Erkenntnissen beladen, und wie salziges Wasser facht die Wissenschaft den Wissensdurst nur an, ohne jemals den erregten Verstand zu beruhigen. Aber das "sanfte Joch", des Herrn und seine "leichte Last" geben dem Verstande, was das grausame und schwere Joch der Wissenschaft, ihre unerträgliche Last nicht geben kann. An dem Gnade spendenden Grabe tönen daher immerfort, wie ein unversiegbarer Quell lebendigen Wassers, die göttlichen Worte:
"Alle Dinge sind mir übergeben von meinem Vater. Und niemand kennet den Sohn denn nur der Vater; und niemand kennet den Vater denn nur der Sohn und wem es der Sohn will offenbaren. Kommet zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken. Nehmet auf euch mein Joch und lernet von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. Denn mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht." (Matth. 11, 27-30)
Aber ferne sei mir der Wunsch, jemanden zu überreden. Von meiner Armut gebe ich. Und wenn nur eine Seele fühlte, daß ich ihr nicht mit Lippen und nicht in die Ohren spreche, so wünschte ich nichts mehr. Ich weiß, daß du mich u hören wirst, weil eben durch dich meine Selbstsucht vernichtet wird.
Mein seelenverwandter Bruder! Auch getrennt von dir und einsam bin ich doch mit dir. Mich über die Zeit erhebend, sehe ich deinen klaren Blick, rede mit dir von neuem von Angesicht zu Angesicht. Für dich möchte ich meine fragmentarischen Zeilen schreiben. Du wirst mir nicht verdenken, daß ich sie systemlos hinwerfe, indem ich nur wenige Pfähle abstecke.
In dunklen Herbstnächten, in den heiligen Stunden des Schweigens, wenn in den Wimpern die Träne der Begeisterung funkelt, werde ich dir heimlich die Schemata und dürftigen Bruchstücke jener Fragen schreiben, welche wir so oft zusammen erwogen haben. Du weißt schon vorher, was ich schreiben werde. Du wirst begreifen, daß es nicht Belehrungen sind, und daß der feierliche Ton von meiner törichten Ungewandtheit herstammt. Wenn der weise Lehrer auch das Schwere spielend macht, so nimmt der unerfahrene Schüler auch in unwichtigen Dingen einen feierlichen Ton an. Ich aber bin nicht mehr als ein Schüler, welcher die Lehren der Liebe nach dir wiederholt.

 

[Übersetzung Nikolai von Bubnoff]

 

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