pavel florenskij

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band 3 denken und sprache

 

 

 

 

 

 

 

 

Herausgegeben von Sieglinde und Fritz Mierau
Aus dem Russischen von Fritz Mierau
352 Seiten / Format 205 x 125 mm / Französische Broschur
Ê 20,35
ISBN 3-931337-16-2

 

 

Inhalt

Wissenschaft als symbolische Beschreibung
Dialektik
Die Antinomie der Sprache
Der Terminus
Die Struktur des Wortes
Die Magie des Wortes
Namensverehrung als philosophische Voraussetzung
Über den Namen Gottes

 

 

Fünfzig oder sogar einhundertfünfzig Jahre, so vermutete Pawel Florenski zum Schluß, sei sein Denken zu früh gekommen. Mit Staunen werde man einst feststellen, schreibt er aus dem Lager auf den Solowki-Inseln im Weißen Meer, daß da einer gewesen sei, der in seiner "altmodischen Sprache" schon dasselbe gesagt habe, was man als ein allerneuestes Ergebnis eben erzielt glaubte... Und doch ist Florenski früher angekommen, als er selber vermuten konnte.

"Denken und Sprache" gehört zu einem philosophischen Vorhaben, das Pawel Florenski als eine konkrete Metaphysik versteht und das ihn als den eigentlichen Denker der russischen Moderne zeigt. Seit 1910 bedacht, spätestens 1912 entworfen, wird es im Oktober 1917 zum erstenmal genauer skizziert und 1922 als Teil eines Buches mit dem Titel "An den Wasserscheiden des Denkens (Grundzüge einer konkreten Metaphysik)" angekündigt. In einem Vorwort umreißt er seine Methode: keine einheitliche Konstruktion, keine logische Koordination, keine Abgeschlossenheit, vielmehr Anstrengung des Alltagsdenkens, primäre Intuitionen, Autonomie der Fragmente.Leben und Denken in eins - dies ist der metaphysische Ansatz der russischen Moderne in Wissenschaft und Kunst, der alle sozialen und politischen Instrumentalisierungen oder Demontagen, die er im Laufe des 20. Jahrhunderts erfuhr, weiterhin übergreift. Florenski hat mehrfach darauf hingewiesen, daß es der russische Symbolismus war, der das Kontinuitätsdenken des europäischen Determinismus am Ende des 19. Jahrhunderts durchbrach. Dieser Mathematiker, Dichter, Priester ist der einzige gewesen, der die weit auseinanderstrebenden Bemühungen in den Wissenschaften, in der Poesie und in der Malerei gedanklich zusammenzuhalten vermochte. Quintessenz seiner Erfahrungen im Umgang mit den Gelehrten, Dichtern und Malern im ersten Viertel unseres Jahrhunderts, ist "Denken und Sprache" nichts geringeres als die Sprach- und Lebensphilosophie der russischen Moderne. Noch aus den Lagerbriefen vernimmt man die Gewißheit Florenskis über die Jahrhunderttat der russischen Symbolisten, die mit der Sprache und der Poesie dem Leben die Freiheit wiedergab: "Mit großer Gebärde wiesen die Symbolisten auf das Schöpferische der Rede hin, auf die Erschaffung des Wortes in jedem einzelnen Akt des Sprechens, auf die Legitimität von Wortschöpfung gemäß dem Stil und der Natur jeder Sprache."

"Wege und Mittelpunkte" nennt Florenski das methodische Vorwort zu den "Wasserscheiden des Denkens". Der Plural beschreibt sein Vorgehen. "Blütenstände von Fragen" werde man finden, kaum Antworten, die Ansätze dazu höchstens in Echos, Harmonien, Wiederholungen, keinesfalls jedoch in einem System. Die Struktur solch eines gedanklichen Gewebes könnte ein Netz sein mit vielen einzelnen Gedankenknoten: "In diesem Netzwerk sind auch dem, der das Netz geknüpft hat, nicht sogleich alle Beziehungen seiner einzelnen Knotenpunkte untereinander deutlich und nicht alle möglichen wechselseitigen Verknüpfungen der gedanklichen Mittelpunkte: Auch ihm eröffnen sich unverhofft neue Wege von Mittelpunkt zu Mittelpunkt, die ohne die direkte Absicht des Autors durch das Netz schon angelegt sind" - kreisendes Denken...

Einen Polyhistor hat man ihn genannt, einen in vielen Wissenschaften bewanderten Gelehrten, gleichermaßen beschlagen in Mengenlehre, Thermodynamik und Relativitätstheorie wie in Kabbala und Gnosis, in der Literatur der Kirchenväter wie in der Philosophie Henri Bergsons, in der Ideenlehre Platos und den Antinomien Kants wie in den Zaubersprüchen der russischen Bauern, in Goethe und Wilhelm von Humboldt wie im russischen Symbolismus und italienischen Futurismus. In einem Brief an seine Mutter vom 3. März 1904 hatte Florenski seinen Entschluß mitgeteilt, die "gesamte positive Lehre der Kirche und die wissenschaftlich-philosophische Weltanschauung samt Kunst u.ä." wieder zusammenführen zu helfen. Daran hat er gearbeitet. Und als vierzig Jahre danach Sergi Bulgakow, der Freund aus der Zeit der geistlichen Akademie, seiner im Pariser Exil gedachte, da nannte er diese Begegnung von Kultur und Kirchlichkeit die Begegnung von "Athen und Jerusalem".

Diese lebendige Begegnung von "Athen und Jerusalem", die von der Überzeugung geleitet war, daß die Wahrheit niemandes einzelner Besitz sei, prägte Florenskis Denken so sehr, daß er sich immer nur als einen glücklichen Finder verstand... Man muß sich nur einmal dem Rhythmus dieses anschwellenden und zurückweichenden Zitierens, diesem Kommen und Gehen der Zeiten, diesem sanften Kreisen um die Mittelpunkte anvertraut haben, um den Charme, den Humor und die Freiheit dieses Denkens ganz zu erfahren.

Als das Milieu seines Denkens hat sich Florenski immer eine kleine Gemeinde vorgestellt, in der das Leben nicht von der Wissenschaft getrennt ist und die Wissenschaft nicht von der Erziehung, in der es nicht die nötigende Differenzierung und Spezialisierung gibt, sondern einfach den lebendigen Austausch der individuellen Temperamente, Interessen und Fähigkeiten. An der Spitze der Gemeinde stehen Presbyter, "Geweihte". Um sie herum in konzentrischen Kreisen die Hörer, die bis hin zu den Kindern zu erziehen sind. Sie alle verfolgen die Arbeiten der Älteren. Man arbeitet gemeinsam, führt seine Wirtschaft und erhält sich aus eigener Kraft. "Das Leben wird jeden Augenblick aufs neue zeigen, womit man sich befassen und wie man vorgehen muß. Der Antrieb für alle ist einzig das geistige Leben, dessen sich die Glieder der Gemeinde in verschiedenem Maße und in verschiedenem Grade befleißigen." "Denken und Sprache" ist ein Schlüsselbuch für dieses pythagoräische Konzept.

Fritz Mierau

 

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