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Schon in
den sechziger Jahren konnte der Mathematikhistoriker Herbert
Moschkowski die Behauptung aufstellen, nichts habe die moderne
Kultur so substanziell verändert wie der Sieg des verallgemeinerten
Zahlbegriffs der Mengenlehre in der Mathematik. Nicht nur, dass
damit der Jahrtausendstreit über das Wesen der Ideenlehre
zwischen Platon und Aristoteles zugunsten des Ersteren entschieden
war. Auch über das Wesen von Wissenschaft überhaupt,
ob sie letzten Endes immer nur deskriptiv und phänomenologisch
verfahren könne, oder ob sie analytische und innovative
Praxis sei, war damit implizit geurteilt worden. Aber auch dem
stumpfesten Auge evident müssten die Auswirkungen einer
Logik-Entdeckung sein, die schon vor mehr als 300 Jahren gemacht
worden ist: Leibniz' Aufstellung des Dualzahlensystems, Basis
aller Softwaresysteme, die unsere Gesellschaft so umfassend verändert
haben, dass sie sich mittlerweile den Namen "Informationsgesellschaft"
beizulegen angewöhnt hat.
Bei den Exkursen in Pavel Florenskijs "Der Pfeiler und die
Grundfeste der Wahrheit" scheint es sich um sehr enge, spezielle
und technische Probleme im Grenzgebiet von Logik und Mathematik
zu handeln. Diese freilich weit verbreitete Meinung ist irrig.
Denn Florenskij gehört zu den wenigen Wissenschaftlern des
vorigen Jahrhunderts, denen die unglaubliche philosophische Tragweite
dieser mathematischen Probleme schon um 1910 klargeworden war.
Nicht zuletzt ist es die Unterschätzung dieses Arbeitsbereiches,
der zahlreiche Fehldeutungen Florenskijs geschuldet sind, die
in ihm mehr einen phantasiebegabten Mystagogen statt einen verantwortlich
von seinem Tun Rechenschaft gebenden Wissenschaftler sehen wollen.
Es ist nichts weniger als ein Zufall, dass Florenskij, der in
einer Eintragung aus dem Jahre 1907 für sich in Anspruch
genommen hatte, unter dem Einfluss seines Lehrers Nikolai Bugaev
der erste an der Moskauer Universität gewesen zu sein, der
in Vorlesungen und öffentlichen Vorträgen die außerordentliche
Bedeutung der Entdeckung transfiniter Zahlen bekanntgemacht habe,
als Paradigma seiner Logik der Diskontinuität die irrationalen
Zahlen vorstellt.
Er beginnt mit einer Schilderung der wissenschaftsgeschichtlichen
Außerordentlichkeit, die sich im Umgang mit irrationalen
Zahlen begeben habe. Schon die vorchristliche griechische Mathematik
wusste längst vor Sokrates, Platon und Aristoles, dass es
unmöglich sei, zwei ganze natürliche Zahlen zu finden,
mittels derer - das heißt durch einen Bruch a/b - das Verhältnis
der Diagonale zu den Seiten des Quadrats dargestellt werden könnte.
Gleichwohl musste es ein solches Verhältnis doch geben,
wie man sich jederzeit durch Augenschein überzeugen konnte.
Niemand aber, der den Satz des Pythagoras kannte, war in der
Lage zu bestreiten, dass die Länge der Quadratdiagonale
der Wurzel aus der Summe der Quadrate zweier Quadratseiten gleich
sein müsse, im einfachsten Falle also der Wurzel aus 2.
Aber welche Zahl ergibt mit sich selbst multipliziert 2? Erst
im 13. Jahrhundert sprach man dieser Zahl wenigstens eine fiktive
Existenz zu. Aber es dauerte abermals dreihundert Jahre, bis
Michael Stiefel, ein Zahlentheoretiker des 16. Jahrhunderts,
diese Existenz so weit ernstnahm, dass er diesen Zahlen den noch
heute gebräuchlichen Namen "numeri irrationales"
gab, wobei man freilich nicht übersehen sollte, dass für
das 16. Jahrhundert der Begriff "irrationalis" noch
nicht wie heute so etwas wie "unvernünftig", "absurd",
sondern "verhältnislos, inkompatibel" bedeutete.
Florenskij legt nun dar, wie das, was man mit Hilfe der natürlichen
Zahlen, ihrer Vervielfachung und Teilung nicht mehr darstellen
kann, ein ganz anderes Aussehen gewinnt, wenn man einen völlig
anderen Zahlbegriff einführt, nämlich den Begriff einer
Zahl, die identisch ist mit einer Reihe von Zahlen, die sich
nach einer bestimmten Bildungsformel verkleinern und einem bestimmten
Grenzwert zustreben, dies jedoch so, dass zwischen der jeweils
letzten immer noch ein kleinerer Wert eingeschoben werden kann,
der kleiner als dieser Grenzwert ist.
Worauf Florenskij hinaus will, ist einleuchtend: Der neue, den
Irrationalzahlen angemessene Zahlbegriff ist die aus einer nicht
mehr abzählbaren, weil transfiniten Menge bestehende Reihe
jener einem Grenzwert zustrebenden Größen. Den metamathematischen,
nämlich logischen Sinn dieses neuartigen Zahlbegriffes sieht
Florenskij nun darin, dass er zwar Zahlen einer neuen Ordnung
einführt, sich dabei aber zu deren Formulierung der natürlichen
Zahlen bedient, aus denen die Irrationalzahlen durch keine Deduktion
abgeleitet werden können.
In der Tat handelt es sich auch um etwas völlig anderes,
nämlich um den Übergang vom unbestimmten Begriff des
Unendlichen, dem potenziell Unendlichen, zum bestimmten Begriff
des Unendlichen, eben des Transfiniten, des aktual Unendlichen,
zu jenem Unendlichen, das im Unterschied zur Variablen des potenziell
Unendlichen eine Konstante ist.
Der im Sinne Florenskijs verstandene Grenzübergang betätigt
eine Logik der Diskontinuität, die irgendeine wie auch immer
geartete Abbildung der Wirklichkeit in Form eines deduktiven
Systems ("Die Welt ist ..."), einer Weltformel, in
jeder Hinsicht ausschließt.
Wer auf ein solches Abbild hinaus will, wird Florenskijs Gedanken
als eher störend empfinden und darum jenen Zustand zu verlängern
trachten, den Florenskij am Ende seines Exkurses mit Staunen
konstatiert: die Blindheit für die enorme Wichtigkeit der
Operation des Grenzüberganges. Freilich, dort wo der "horror
infiniti" (Florenskij) regiert, wird man einer Logik der
Diskontinuität immer mit Ablehnung gegenüberstehen.
Man tut das um einen hohen Preis: Um den der immer neuen Konfrontation
mit Irrationalitäten, die sich dem Vollständigkeitsanspruch
deduktiver Systeme stets aufs neue entziehen.
Florenskijs Verallgemeinerung des mathematischen Grenzüberganges
zu einer nichtdeduktiven Logik der Diskontinuität scheint
der bisher einzig wirksame Ansatz zu sein, das neuzeitliche Denken
aus dem seit Kant eingetretenen Dilemma zu befreien, entweder
für immer im Zirkel der kritischen Selbstreflexion verharrend
nach synthetischen Sätzen a priori sich wie Sisyphus abzuarbeiten
oder wie Fichte und seine Nachfolger diesen Zirkel durch den
Titanismus einer Tathandlung sprengen zu wollen, die ein neues
Verhältnis des Denkens zum Ganzen der Wirklichkeit zu setzen
beansprucht, aber damit die wechselseitige Fesselung von Ich
und Nicht-Ich nur um so enger anzieht.
Die von Florenskij beschriebene Operation des Grenzüberganges
mutet demgegenüber recht bescheiden an. Aber ich bin der
Meinung, es lohnt sich zu prüfen, ob der Sprung, den sie
vollzieht, nicht ein verheißungsvollerer Aufbruch in eine
Wirklichkeit ist, deren Kontinuitäten und Diskontinuitäten
nur um den Preis unserer Selbstauslieferung an gefährliche
Illusionen voreilig zu Identitäten verschmolzen werden können.
Am sogenannten Lewis-Carroll-Problem erläutert Florenskij
eine andere, nicht weniger überraschende Konsequenz der
nichtdeduktiven Aspekte von Logik. Folgendes ist mit diesem Problem
gemeint: Wir untersuchen ein System von drei Aussagen. Die erste
behauptet, aus q folge r; es existiert aber gleichzeitig eine
Aussage p, die behauptet, aus q folge die Verneinung vor r. Welcher
Schluss ist aus dieser offenkundigen Paradoxie zu ziehen?
Florenskijs scheinbar triviales Ergebnis dazu lautet: Bei dem
Lewis-Carroll-Problem handelt es sich um ein System wahrer Aussagen,
zu dessen Wahrheit es gehört, dass zwei derselben sich ausschließen.
Denn auch diese Ausschließung ist eine Wahrheit! Die Formalisierung
ist kein bloßer Taschenspielertrick, denn sie verifiziert
erstens den Zusammenhang der in Frage stehenden Aussagen und
sie bringt zweitens den positiven und verifikatorischen Sinn
der Negation ans Licht. Gerade das Letztere wird erst durch einen
Formalismus möglich, der die ursprüngliche Negation
aus p in einen positiven Zusammenhang mit q bringt, nämlich
als genau die Negation von q.
Nicht leicht kann die Tragweite dieser Feststellungen überschätzt
werden. Gibt es doch ein populäres Vorurteil, das die Negation
in einem problematischen Verhältnis oder gar einem Unverhältnis
zur Wahrheit sieht. Wie weit dieses Vorurteil das Denken bis
zu metaphysischen Konsequenzen verleiten kann, zeigt der berühmte
Basissatz von Wittgensteins "Tractatus logico-philosophicus",
der in nicht allzuweitem zeitlichen Abstand von Florenskijs "Pfeiler
und Grundfeste der Wahrheit" niedergeschrieben wurde: "Die
Welt ist alles was der Fall ist." Welch eine grandiose Halbierung
der Wirklichkeit! Denn wie wir gerade gesehen haben, ist die
Welt nicht minder alles, was nicht der Fall ist.
An Wittgensteins berühmten Satz aber kann man sich zweierlei
klarmachen. Erstens: wie entschieden Florenskijs Gegensatz gegen
den noch heute herrschenden Positivismus des "Alles was
der Fall ist" sich artikuliert hat, und zweitens, dass es
sich hier um eine wissenschaftliche Alternative handelt, die
bereits im Gebiet der formalen Logik wirksam wird, keineswegs
- wie man meistens annimmt - erst im Bereich von Metaphysik beziehungsweise
Ontologie, zum Beispiel im spekulativen Idealismus. Das gilt
gerade für Hegel und dessen Aufwertung der Negation im System
seiner Dialektik. Von Florenskijs Beispiel ausgehend müsste
man sagen, die Hegelsche Auffassung der Negation als Mittelglied
einer Dialektik zwischen Position und Synthesis schließt
eine Formalisierung wie die Florenskijs aus. Denn die Dialektik
Hegels beansprucht ja selbst, die weitestgetriebene Verallgemeinerung
der Wahrheit zu sein, die ihre eigene Negation schon immer bei
sich führt.
Eher schon der späte Schelling, besonders der der Darstellung
der rein rationalen Philosophie hat das ungeheure Erkenntnisproblem
in vollem Gewinn verspürt, das mit Hegels Relativierung
der Wahrheit in Form eines metaphysischen Prozesses heraufgeführt
ist: Wer immer in diesen Prozess schaut, steht stets an seinem
unwiderruflichen Ende, ohne doch erkennen zu können, ob
das, was er sieht, Wahrheit oder deren Negation ist. Schelling
wollte dem einen anderen Begriff von Dialektik entgegenstellen,
indem er die Negation als ein nichtausgeschlossenes Drittes so
verstand, dass immer nur die Gleichzeitigkeit von A und ?A ausgeschlossen
sein sollte. Diese Lösung weist überraschende Ähnlichkeiten
mit jenen Versuchen auf, die das Carroll-Paradoxon durch einen
Rekurs auf die Tatsachenbasis der in Rede stehenden Aussagen
lösen wollen. Aber Schelling gibt sich keine Rechenschaft
darüber, wie der Schritt vom Aussagensystem zu einer möglichen
Verifikationsbasis getan werden soll, ohne dass das Aussagensystem
als solches infrage gestellt wird. So bleibt es auch in Schellings
monumentalen Systemgrundlegungen bei jener katastrophenträchtigen
Identifikation von Logik, Metaphysik und Ethik, als die der Idealismus
sich uns Nachgeborenen darstellt. Um so wichtiger sind für
uns Ansätze, die wie Florenskij die Logik aus der Umklammerung
metaphysischer Vorurteile zu befreien versuchen und uns damit
lange verschüttete Zugänge zu einer unbefangenen Wahrnehmung
aller Wirklichkeiten zu bahnen versuchen.
Florenskij ist nicht nur ein immer neu in den philosophischen
Diskurs einzulassender frischer Luftzug. Er ist zugleich bedeutsam
als Entdecker einer Kategorie, auf die wenige Jahre zuvor ein
deutscher Philosoph gestoßen war, als er mit der Testfrage
nach der Stellung der Logik im System der Philosophie eine Bestandaufnahme
über die Situation dieser Wissenschaft in Deutschland versuchte.
Ich spreche von Hans Ehrenbergs 1911 erschienener "Parteiung
der Philosophie". Ehrenberg fühlt sich aus einem ganz
anderen Grund als Florenskij, von einer ganz anderen Seite her
gedrängt, die Kategorie des Metalogischen einzuführen.
Es ist für Ehrenberg die Priorität des Wirklichen gegenüber
dem Möglichen, das zuerst Gegenstand der Logik ist, die
ihn zwingt, den Begriff des Metalogischen als dessen, was jenseits
der Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Logik liegt
und doch zweifelsfrei existiert, einzuführen, genau wie
Florenskij die Inkompatiblität des nummerisch Individuellen
jenseits aller Klassen und Relationen.
Die hier mit dem Begriff des Metalogischen gesetzte Schwierigkeit
wird noch vieler Bemühungen bedürfen, damit sie nicht
zum Tummelplatz methodisch fragwürdiger Subjektivismen wird.
Aber es sei erlaubt, wenigstens vermutungsweise den Kern der
Schwierigkeiten zu bezeichnen. Handelt es sich vielleicht um
den Grenzübergang vom "individuum ineffabile",
dem für die Logik unzugänglichen Konkreten, zum "individuum
loquens", dem, das nicht mehr Objekt, sondern Subjekt einer
Logik ist, die ihre Augen nicht mehr vor den Diskontinuitäten
einer Wirklichkeit verschließt, die sogar noch die Formalismen
der Mathematik prägt?
Eine abschließende Würdigung wird zuerst daran zu
erinnern haben, dass die hier interpretierten Texte der Zeit
vor 1914 entstammen, das heißt einer Epoche, da in Deutschland
wie in Russland der Neukantianismus alles Denken dominierte.
Für die Logik bedeutete dies, dass einer der schwerwiegendsten
Irrtümer Kants, der noch heute außerhalb der Fachwelt
nachwirkt, damals unbestrittene Geltung besaß: Dass die
Geschichte der Logik mit Aristoteles ihr Ziel erreicht habe,
darum ihre Geschichte seither nur, wie Karl Prantls klassisch
gewordene "Geschichte der Logik im Abendlande" behauptete,
allenfalls Modifikationen und Verschlechterungen gebracht habe,
ehe Kants Kritik das letzte Wort brachte, über das hinaus
jede Weiterentwicklung unmöglich sei.
Doch die Boolesche Algebra, Freges Ansätze einer Begriffsschrift
und sogar das monumentale Unternehmen von Whitehead/Russel, 1910-13,
in ihren "Principia mathematica" eine Axiomatisierung
der gesamten Mathematik als Paradigma von Wissenschaft überhaupt
zu konstituieren - all das bewegt sich deshalb weitab von einem
nachkantischen Logikverständnis, dem selbst die epochalen
Entdeckungen von Leibniz in dieser Wissenschaft vollkommen unbekannt
waren.
Um so mehr Bewunderung verdient der junge Florenskij, der, seinen
deutschen und russischen Zeitgenossen um Jahrzehnte voraus, ein
sehr klares Bewusstsein von der wissenschaftstheoretischen Zukunftsträchtigkeit
der mathematischen Logik besaß. Und wahrscheinlich haben
wir immer noch lange Wege zurückzulegen, bis die Einsicht
sich durchsetzt, dass Florenskijs gesamtes Wirken gegen einen
einzigen Irrtum gerichtet war, den Fundamentalirrtum des 19.
Jahrhunderts, der Materialismus sei die Alternative zu den Aporien
des Idealismus aus der ersten Hälfte jenes Jahrhunderts.
Dass er es nicht war, hat uns die Katastrophe des marxistischen
Materialismus nach 1989 gelehrt. Aber diese Scheinalternative
lebt weiter im positivistischen Materialismus des Westens.
So lange dieser Zustand anhält, bleiben wir auf Denker wie
Florenskij angewiesen, die uns aus der idealistischen Verstörung
von Wahrnehmung, Erfahrung und Erkenntnis ebenso herauszuhelfen
in der Lage sind wie aus der Realitätsblindheit positivistischer
Verdinglichung des Lebens. Worin Florenskij in diesem Dilemma
Vorbild sein kann, das ist sein von keiner Repression zu brechender
Wille, der Wirklichkeit in allen ihren Widersprüchen so
standzuhalten, dass sie sich gegen alle Illusionen, gegen eigene
wie fremde, durchsetzt zur unerlässlichen Erkenntnis der
nicht mehr strittigen Wahrheit.
editionen
texte zu florenskij
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