wolfgang ullmann

die welt ist auch alles,

was nicht der fall ist

 

 

 

 

 

 

 

 



Schon in den sechziger Jahren konnte der Mathematikhistoriker Herbert Moschkowski die Behauptung aufstellen, nichts habe die moderne Kultur so substanziell verändert wie der Sieg des verallgemeinerten Zahlbegriffs der Mengenlehre in der Mathematik. Nicht nur, dass damit der Jahrtausendstreit über das Wesen der Ideenlehre zwischen Platon und Aristoteles zugunsten des Ersteren entschieden war. Auch über das Wesen von Wissenschaft überhaupt, ob sie letzten Endes immer nur deskriptiv und phänomenologisch verfahren könne, oder ob sie analytische und innovative Praxis sei, war damit implizit geurteilt worden. Aber auch dem stumpfesten Auge evident müssten die Auswirkungen einer Logik-Entdeckung sein, die schon vor mehr als 300 Jahren gemacht worden ist: Leibniz' Aufstellung des Dualzahlensystems, Basis aller Softwaresysteme, die unsere Gesellschaft so umfassend verändert haben, dass sie sich mittlerweile den Namen "Informationsgesellschaft" beizulegen angewöhnt hat.
Bei den Exkursen in Pavel Florenskijs "Der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit" scheint es sich um sehr enge, spezielle und technische Probleme im Grenzgebiet von Logik und Mathematik zu handeln. Diese freilich weit verbreitete Meinung ist irrig. Denn Florenskij gehört zu den wenigen Wissenschaftlern des vorigen Jahrhunderts, denen die unglaubliche philosophische Tragweite dieser mathematischen Probleme schon um 1910 klargeworden war. Nicht zuletzt ist es die Unterschätzung dieses Arbeitsbereiches, der zahlreiche Fehldeutungen Florenskijs geschuldet sind, die in ihm mehr einen phantasiebegabten Mystagogen statt einen verantwortlich von seinem Tun Rechenschaft gebenden Wissenschaftler sehen wollen.
Es ist nichts weniger als ein Zufall, dass Florenskij, der in einer Eintragung aus dem Jahre 1907 für sich in Anspruch genommen hatte, unter dem Einfluss seines Lehrers Nikolai Bugaev der erste an der Moskauer Universität gewesen zu sein, der in Vorlesungen und öffentlichen Vorträgen die außerordentliche Bedeutung der Entdeckung transfiniter Zahlen bekanntgemacht habe, als Paradigma seiner Logik der Diskontinuität die irrationalen Zahlen vorstellt.
Er beginnt mit einer Schilderung der wissenschaftsgeschichtlichen Außerordentlichkeit, die sich im Umgang mit irrationalen Zahlen begeben habe. Schon die vorchristliche griechische Mathematik wusste längst vor Sokrates, Platon und Aristoles, dass es unmöglich sei, zwei ganze natürliche Zahlen zu finden, mittels derer - das heißt durch einen Bruch a/b - das Verhältnis der Diagonale zu den Seiten des Quadrats dargestellt werden könnte. Gleichwohl musste es ein solches Verhältnis doch geben, wie man sich jederzeit durch Augenschein überzeugen konnte. Niemand aber, der den Satz des Pythagoras kannte, war in der Lage zu bestreiten, dass die Länge der Quadratdiagonale der Wurzel aus der Summe der Quadrate zweier Quadratseiten gleich sein müsse, im einfachsten Falle also der Wurzel aus 2. Aber welche Zahl ergibt mit sich selbst multipliziert 2? Erst im 13. Jahrhundert sprach man dieser Zahl wenigstens eine fiktive Existenz zu. Aber es dauerte abermals dreihundert Jahre, bis Michael Stiefel, ein Zahlentheoretiker des 16. Jahrhunderts, diese Existenz so weit ernstnahm, dass er diesen Zahlen den noch heute gebräuchlichen Namen "numeri irrationales" gab, wobei man freilich nicht übersehen sollte, dass für das 16. Jahrhundert der Begriff "irrationalis" noch nicht wie heute so etwas wie "unvernünftig", "absurd", sondern "verhältnislos, inkompatibel" bedeutete.
Florenskij legt nun dar, wie das, was man mit Hilfe der natürlichen Zahlen, ihrer Vervielfachung und Teilung nicht mehr darstellen kann, ein ganz anderes Aussehen gewinnt, wenn man einen völlig anderen Zahlbegriff einführt, nämlich den Begriff einer Zahl, die identisch ist mit einer Reihe von Zahlen, die sich nach einer bestimmten Bildungsformel verkleinern und einem bestimmten Grenzwert zustreben, dies jedoch so, dass zwischen der jeweils letzten immer noch ein kleinerer Wert eingeschoben werden kann, der kleiner als dieser Grenzwert ist.
Worauf Florenskij hinaus will, ist einleuchtend: Der neue, den Irrationalzahlen angemessene Zahlbegriff ist die aus einer nicht mehr abzählbaren, weil transfiniten Menge bestehende Reihe jener einem Grenzwert zustrebenden Größen. Den metamathematischen, nämlich logischen Sinn dieses neuartigen Zahlbegriffes sieht Florenskij nun darin, dass er zwar Zahlen einer neuen Ordnung einführt, sich dabei aber zu deren Formulierung der natürlichen Zahlen bedient, aus denen die Irrationalzahlen durch keine Deduktion abgeleitet werden können.
In der Tat handelt es sich auch um etwas völlig anderes, nämlich um den Übergang vom unbestimmten Begriff des Unendlichen, dem potenziell Unendlichen, zum bestimmten Begriff des Unendlichen, eben des Transfiniten, des aktual Unendlichen, zu jenem Unendlichen, das im Unterschied zur Variablen des potenziell Unendlichen eine Konstante ist.
Der im Sinne Florenskijs verstandene Grenzübergang betätigt eine Logik der Diskontinuität, die irgendeine wie auch immer geartete Abbildung der Wirklichkeit in Form eines deduktiven Systems ("Die Welt ist ..."), einer Weltformel, in jeder Hinsicht ausschließt.
Wer auf ein solches Abbild hinaus will, wird Florenskijs Gedanken als eher störend empfinden und darum jenen Zustand zu verlängern trachten, den Florenskij am Ende seines Exkurses mit Staunen konstatiert: die Blindheit für die enorme Wichtigkeit der Operation des Grenzüberganges. Freilich, dort wo der "horror infiniti" (Florenskij) regiert, wird man einer Logik der Diskontinuität immer mit Ablehnung gegenüberstehen. Man tut das um einen hohen Preis: Um den der immer neuen Konfrontation mit Irrationalitäten, die sich dem Vollständigkeitsanspruch deduktiver Systeme stets aufs neue entziehen.
Florenskijs Verallgemeinerung des mathematischen Grenzüberganges zu einer nichtdeduktiven Logik der Diskontinuität scheint der bisher einzig wirksame Ansatz zu sein, das neuzeitliche Denken aus dem seit Kant eingetretenen Dilemma zu befreien, entweder für immer im Zirkel der kritischen Selbstreflexion verharrend nach synthetischen Sätzen a priori sich wie Sisyphus abzuarbeiten oder wie Fichte und seine Nachfolger diesen Zirkel durch den Titanismus einer Tathandlung sprengen zu wollen, die ein neues Verhältnis des Denkens zum Ganzen der Wirklichkeit zu setzen beansprucht, aber damit die wechselseitige Fesselung von Ich und Nicht-Ich nur um so enger anzieht.
Die von Florenskij beschriebene Operation des Grenzüberganges mutet demgegenüber recht bescheiden an. Aber ich bin der Meinung, es lohnt sich zu prüfen, ob der Sprung, den sie vollzieht, nicht ein verheißungsvollerer Aufbruch in eine Wirklichkeit ist, deren Kontinuitäten und Diskontinuitäten nur um den Preis unserer Selbstauslieferung an gefährliche Illusionen voreilig zu Identitäten verschmolzen werden können.
Am sogenannten Lewis-Carroll-Problem erläutert Florenskij eine andere, nicht weniger überraschende Konsequenz der nichtdeduktiven Aspekte von Logik. Folgendes ist mit diesem Problem gemeint: Wir untersuchen ein System von drei Aussagen. Die erste behauptet, aus q folge r; es existiert aber gleichzeitig eine Aussage p, die behauptet, aus q folge die Verneinung vor r. Welcher Schluss ist aus dieser offenkundigen Paradoxie zu ziehen?
Florenskijs scheinbar triviales Ergebnis dazu lautet: Bei dem Lewis-Carroll-Problem handelt es sich um ein System wahrer Aussagen, zu dessen Wahrheit es gehört, dass zwei derselben sich ausschließen. Denn auch diese Ausschließung ist eine Wahrheit! Die Formalisierung ist kein bloßer Taschenspielertrick, denn sie verifiziert erstens den Zusammenhang der in Frage stehenden Aussagen und sie bringt zweitens den positiven und verifikatorischen Sinn der Negation ans Licht. Gerade das Letztere wird erst durch einen Formalismus möglich, der die ursprüngliche Negation aus p in einen positiven Zusammenhang mit q bringt, nämlich als genau die Negation von q.
Nicht leicht kann die Tragweite dieser Feststellungen überschätzt werden. Gibt es doch ein populäres Vorurteil, das die Negation in einem problematischen Verhältnis oder gar einem Unverhältnis zur Wahrheit sieht. Wie weit dieses Vorurteil das Denken bis zu metaphysischen Konsequenzen verleiten kann, zeigt der berühmte Basissatz von Wittgensteins "Tractatus logico-philosophicus", der in nicht allzuweitem zeitlichen Abstand von Florenskijs "Pfeiler und Grundfeste der Wahrheit" niedergeschrieben wurde: "Die Welt ist alles was der Fall ist." Welch eine grandiose Halbierung der Wirklichkeit! Denn wie wir gerade gesehen haben, ist die Welt nicht minder alles, was nicht der Fall ist.
An Wittgensteins berühmten Satz aber kann man sich zweierlei klarmachen. Erstens: wie entschieden Florenskijs Gegensatz gegen den noch heute herrschenden Positivismus des "Alles was der Fall ist" sich artikuliert hat, und zweitens, dass es sich hier um eine wissenschaftliche Alternative handelt, die bereits im Gebiet der formalen Logik wirksam wird, keineswegs - wie man meistens annimmt - erst im Bereich von Metaphysik beziehungsweise Ontologie, zum Beispiel im spekulativen Idealismus. Das gilt gerade für Hegel und dessen Aufwertung der Negation im System seiner Dialektik. Von Florenskijs Beispiel ausgehend müsste man sagen, die Hegelsche Auffassung der Negation als Mittelglied einer Dialektik zwischen Position und Synthesis schließt eine Formalisierung wie die Florenskijs aus. Denn die Dialektik Hegels beansprucht ja selbst, die weitestgetriebene Verallgemeinerung der Wahrheit zu sein, die ihre eigene Negation schon immer bei sich führt.
Eher schon der späte Schelling, besonders der der Darstellung der rein rationalen Philosophie hat das ungeheure Erkenntnisproblem in vollem Gewinn verspürt, das mit Hegels Relativierung der Wahrheit in Form eines metaphysischen Prozesses heraufgeführt ist: Wer immer in diesen Prozess schaut, steht stets an seinem unwiderruflichen Ende, ohne doch erkennen zu können, ob das, was er sieht, Wahrheit oder deren Negation ist. Schelling wollte dem einen anderen Begriff von Dialektik entgegenstellen, indem er die Negation als ein nichtausgeschlossenes Drittes so verstand, dass immer nur die Gleichzeitigkeit von A und ?A ausgeschlossen sein sollte. Diese Lösung weist überraschende Ähnlichkeiten mit jenen Versuchen auf, die das Carroll-Paradoxon durch einen Rekurs auf die Tatsachenbasis der in Rede stehenden Aussagen lösen wollen. Aber Schelling gibt sich keine Rechenschaft darüber, wie der Schritt vom Aussagensystem zu einer möglichen Verifikationsbasis getan werden soll, ohne dass das Aussagensystem als solches infrage gestellt wird. So bleibt es auch in Schellings monumentalen Systemgrundlegungen bei jener katastrophenträchtigen Identifikation von Logik, Metaphysik und Ethik, als die der Idealismus sich uns Nachgeborenen darstellt. Um so wichtiger sind für uns Ansätze, die wie Florenskij die Logik aus der Umklammerung metaphysischer Vorurteile zu befreien versuchen und uns damit lange verschüttete Zugänge zu einer unbefangenen Wahrnehmung aller Wirklichkeiten zu bahnen versuchen.
Florenskij ist nicht nur ein immer neu in den philosophischen Diskurs einzulassender frischer Luftzug. Er ist zugleich bedeutsam als Entdecker einer Kategorie, auf die wenige Jahre zuvor ein deutscher Philosoph gestoßen war, als er mit der Testfrage nach der Stellung der Logik im System der Philosophie eine Bestandaufnahme über die Situation dieser Wissenschaft in Deutschland versuchte. Ich spreche von Hans Ehrenbergs 1911 erschienener "Parteiung der Philosophie". Ehrenberg fühlt sich aus einem ganz anderen Grund als Florenskij, von einer ganz anderen Seite her gedrängt, die Kategorie des Metalogischen einzuführen. Es ist für Ehrenberg die Priorität des Wirklichen gegenüber dem Möglichen, das zuerst Gegenstand der Logik ist, die ihn zwingt, den Begriff des Metalogischen als dessen, was jenseits der Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Logik liegt und doch zweifelsfrei existiert, einzuführen, genau wie Florenskij die Inkompatiblität des nummerisch Individuellen jenseits aller Klassen und Relationen.
Die hier mit dem Begriff des Metalogischen gesetzte Schwierigkeit wird noch vieler Bemühungen bedürfen, damit sie nicht zum Tummelplatz methodisch fragwürdiger Subjektivismen wird. Aber es sei erlaubt, wenigstens vermutungsweise den Kern der Schwierigkeiten zu bezeichnen. Handelt es sich vielleicht um den Grenzübergang vom "individuum ineffabile", dem für die Logik unzugänglichen Konkreten, zum "individuum loquens", dem, das nicht mehr Objekt, sondern Subjekt einer Logik ist, die ihre Augen nicht mehr vor den Diskontinuitäten einer Wirklichkeit verschließt, die sogar noch die Formalismen der Mathematik prägt?
Eine abschließende Würdigung wird zuerst daran zu erinnern haben, dass die hier interpretierten Texte der Zeit vor 1914 entstammen, das heißt einer Epoche, da in Deutschland wie in Russland der Neukantianismus alles Denken dominierte. Für die Logik bedeutete dies, dass einer der schwerwiegendsten Irrtümer Kants, der noch heute außerhalb der Fachwelt nachwirkt, damals unbestrittene Geltung besaß: Dass die Geschichte der Logik mit Aristoteles ihr Ziel erreicht habe, darum ihre Geschichte seither nur, wie Karl Prantls klassisch gewordene "Geschichte der Logik im Abendlande" behauptete, allenfalls Modifikationen und Verschlechterungen gebracht habe, ehe Kants Kritik das letzte Wort brachte, über das hinaus jede Weiterentwicklung unmöglich sei.
Doch die Boolesche Algebra, Freges Ansätze einer Begriffsschrift und sogar das monumentale Unternehmen von Whitehead/Russel, 1910-13, in ihren "Principia mathematica" eine Axiomatisierung der gesamten Mathematik als Paradigma von Wissenschaft überhaupt zu konstituieren - all das bewegt sich deshalb weitab von einem nachkantischen Logikverständnis, dem selbst die epochalen Entdeckungen von Leibniz in dieser Wissenschaft vollkommen unbekannt waren.
Um so mehr Bewunderung verdient der junge Florenskij, der, seinen deutschen und russischen Zeitgenossen um Jahrzehnte voraus, ein sehr klares Bewusstsein von der wissenschaftstheoretischen Zukunftsträchtigkeit der mathematischen Logik besaß. Und wahrscheinlich haben wir immer noch lange Wege zurückzulegen, bis die Einsicht sich durchsetzt, dass Florenskijs gesamtes Wirken gegen einen einzigen Irrtum gerichtet war, den Fundamentalirrtum des 19. Jahrhunderts, der Materialismus sei die Alternative zu den Aporien des Idealismus aus der ersten Hälfte jenes Jahrhunderts. Dass er es nicht war, hat uns die Katastrophe des marxistischen Materialismus nach 1989 gelehrt. Aber diese Scheinalternative lebt weiter im positivistischen Materialismus des Westens.
So lange dieser Zustand anhält, bleiben wir auf Denker wie Florenskij angewiesen, die uns aus der idealistischen Verstörung von Wahrnehmung, Erfahrung und Erkenntnis ebenso herauszuhelfen in der Lage sind wie aus der Realitätsblindheit positivistischer Verdinglichung des Lebens. Worin Florenskij in diesem Dilemma Vorbild sein kann, das ist sein von keiner Repression zu brechender Wille, der Wirklichkeit in allen ihren Widersprüchen so standzuhalten, dass sie sich gegen alle Illusionen, gegen eigene wie fremde, durchsetzt zur unerlässlichen Erkenntnis der nicht mehr strittigen Wahrheit.

 

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