boris groyszwischen byzanz und futurismus |
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Am Ende des 19. Jahrhunderts wollten viele in Europa nicht mehr an die Ideale der bürgerlichen Zivilisation glauben. Man suchte nach dem "anderen" innerhalb und außerhalb des tristen europäischen Alltags. Die russische Intelligenzija dieser Zeit wurde - unter dem Einfluß der westlichen ästhetischen Moderne - ebenfalls von dieser Suche mitgerissen. Die Jahrhundertwende bedeutete für das russische kulturelle Leben einen schnellen Wechsel der Orientierungen: weg vom wissenschaftlichen und sozialen Progreß - hin zu den Visionen einer völlig anderen, ekstatischen, radikal utopischen,spirituellen Ordnung. Dieser Orientierungswechsel führte zu einer neuen Entdeckung Rußlands, in dem noch viel Altes, Nichtwestliches, Byzantinisches: die orthodoxe Kirche, das Zarentum und die traditionelle Lebensweise der Bauern, geblieben war. Am konsequentesten
ist dies im Werk von Pawel Florenski (1882-1937) verkörpert,
der ein Priester der russisch-orthodoxen Kirche und zugleich
ein bedeutender auf der Höhe seiner Zeit denkender Philosoph,
Wissenschaftler und Schriftsteller war. Er wendete sich mit äußerster
Entschiedenheit gegen alle Versuche, die orthodoxe Kirche der
Moderne anzupassen, sie mit den liberalen, emanzipatorischen
Tendenzen der Zeit zu versöhnen, ihre radikale Andersartigkeit
und ihren totalen geistigen Anspruch in Frage zu stellen. Die
Mehrheit der russischen Philosophen und Autoren war dagegen bestrebt,
den Geist des östlichen Christentums aus seiner jahrtausendelangen
Knechtschaft unter Buchstabe und Ritual zu befreien, um ihn in
der menschlichen Geschichte wirken zu lassen. Florenski bestand
darauf, daß der Geist vom Buchstaben nicht zu trennen ist,
daß es keinen verborgenen Inhalt gibt, der aus einer "alten
Form" befreit werden könnte, und daß das Ritual
nicht etwas "ausdrückt", das unter Umständen
auch anders ausgedrückt werden könnte, sondern mit
dem Sinn identisch ist. Damit argumentiert Florenski aus einem
Verständnis des Zeichens, der Sprache und des Bildes heraus,
das die äußerste künstlerische Avantgarde seiner
Zeit charakterisiert. Das Zeichen ist für ihn in erster
Linie materiell und autonom. Wort, Bild und Ritual sind materielle
Dinge oder Prozesse, die ihre eigene Realität haben und
auf den bloßen Ausdruck von etwas anderem - einem Geist,
Inhalt, Sinn usw. - nicht reduziert werden dürfen. Deswegen
lehnt Florenski jede kirchliche, soziale oder kulturelle Reform
entschieden ab. Bei der Lektüre von Texten der ostchristlichen Tradition konzentriert sich Florenski auf die Deutung mittels einer parasemantischen Analyse der einzelnen, autonomen Worte und Namen, wobei er diese interpretative Praxis explizit mit den Wortexperimenten der russischen Futuristen in Verbindung bringt. Er beschreibt den gesamten Ritus der Ostkirche an mehreren Stellen als eine Art Gesamtkunstwerk, das in keinem seiner Details gefährdet werden könne, ohne daß das Ganze unwiderruflich zerfiele. Florenski ist ein Konservativer aus dem Prinzip der ästhetischen Verantwortung, das er bei der künstlerischen Avantgarde gelernt hat. Erst zwanzig
Jahre nach Florenskis Tod konnten seine Schriften durch den Samisdat
verbreitet und zunehmend gelesen werden. Vor allem in
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