wolfgang ullmann

zukunft aufklärung

eine bestandsaufnahme

nach dem ende der utopien

 

 

 

 

408 Seiten / Format 205 x 125 mm
Französische Broschur
Ê 20,45
ISBN 3-931337-10-3



 

Inhalt

Aufklärung als Geschichte und als politische Aufgabe
Die Weltrevolution von Weltkrieg I und II
Weltorganisation und Menschheitsperspektive
Das Fiasko der Geisteswissenschaften
Die Atombombe oder der Primat der Physik über die Politik
1968 - Die Unfreiheit des politischen Willens und die Lähmung der politischen Urteilskraft
Bedingungen der Aufklärung - Bedingungen der Demokratie

Anhang
Was ist Theologie?
Zur Dogmengeschichte der Schöpfungslehre
Barmen im dogmengeschichtlichen Zusammenhang
Prolegomena zu einer Dogmengeschichte nach Harnack

 

 

 

 

 

Von Sarajewo nach Sarajewo führte der Zyklus dieses unseres Jahrhunderts, eines der blutigsten und barbarischsten der bekannten Geschichte. Und es sind nicht nur die Örtlichkeiten, die sich gleichen. 1914 begann der Zerfall der Donaumonarchie, und die großen Mächte erwiesen sich als unfähig, eine für die betroffenen Völker demokratisch akzeptable Staatsordnung an ihrer Stelle zu errichten. Seit 1989 begann der Sowjetblock zu zerfallen. Im Herbst 1990 schien die Charta von Paris die neue gesamteuropäische Friedensordnung auf der Basis des Helsinkiprozesses für Sicherheit und Zusammenarbeit zu entrollen. Aber schon nach der öffentlichen Diskreditierung Gorbatschows, eines der wichtigsten Initiatoren des Umgestaltungsprozesses, im August 1991, begann die Vision des neuen Europa zu verblassen. An die Stelle der Demokratisierung ersetzte die Ethnisierung die kommunistische Diktatur und wiederum wird Serbien zum Paradigma des Rückfalls der Politik auf die Barbarei von Stammesfehden, Blutrache, Völkermord.
Es ist eine wohl auch von Nietzsche so nicht geahnte gespenstische Art der Wiederkehr des Gleichen. Denn wer beginnt im Kreis herumzulaufen, hat sich ersichtlich verirrt und die Richtung verloren. Sollte das etwa unser Fall sein?
Die Beunruhigungen dieser Frage gaben den Anlaß zu den Überlegungen, die hier vorgelegt werden. Denn ebenso beunruhigend wie das Faktum unseres Rückwärtslebens und -handelns ist die offenkundige Unfähigkeit der zuständigen Geistes- oder Gesellschaftswissenschaften, die alarmierende Situation auch nur wahrzunehmen. Das zweite Kapitel versucht, dem mit der Entfaltung der These entgegenzutreten, daß die beiden Weltkriege als ein einheitlicher Vorgang aufzufassen sind, als eine Weltrevolution, die das globale Staatensystem in seiner Ganzheit, aber in nicht geringem Maße auch unsere ethischen Grundeinstellungen verändert hat.
Es wird dann der Frage nachgegangen, welchen Anteil oder Nichtanteil an diesen Vorgängen jene Wissenschaften haben, die die Führungsrolle in der Gesellschaft nicht nur beanspruchten, sondern auch insoweit wahrnahmen, wie sie die politischen Verantwortungsträger ausgebildet und geprägt haben.
Das negative Ergebnis dieser Reflexionen führt der Verfasser darauf zurück, daß die Gesellschaft des 20. Jahrhunderts nicht wahrzunehmen in der Lage war, was sich am Anfang des Jahrhunderts ereignet hatte: Eine Revolution im Verhältnis zwischen Mensch und Wirklichkeit, wie sie wahrscheinlich seit der neolithischen Revolution nicht mehr stattgefunden hat. Physik und Mathematik wurden fast gleichzeitig mit der Erfahrung konfrontiert, daß die Einheit der Wirklichkeit in ihrem materiellen Bestand nicht gegeben ist, die Kontinente und Dimensionen der unsichtbaren Wirklichkeit denen der sichtbaren gegenüber völlig inkommensurabel sind. Eine Tatsache, die jeder Blick auf den Nachthimmel schon immer lehrte. Aber wer ahnt, was alles vor unseren Sinnen offen daliegt, ohne daß wir es auch nur wahrnehmen?
Der Leser erwarte hier also zuallererst geschichtliche Reflexion, die sich der Methoden philosophischer und theologischer Kritik bedient. Wegen des Anteils der Theologie sind die Texte des Anhangs nicht nur als ein illustrierender Bestandteil des Buches zu betrachten. Sie enthalten vielmehr die wissenschaftliche Detailarbeit, auf die im Haupttext aus Gründen der Stileinheitlichkeit verzichtet worden ist.
Eine detaillierte Auseinandersetzung mit der unermeßlichen politologischen Literatur zu ähnlicher oder gleicher Thematik findet nur punktuell und nach dem subjektiven Ermessen des Verfassers statt. Wie weit das gerechtfertigt ist, muß die Darstellung selbst erweisen und kann dem Urteil des Lesers überlassen bleiben.
Aber ausdrücklich betont werden soll, daß diese Entscheidung ebenso wie die Nichtdiskussion ökonomischer Theorien einem methodischen Vorurteil geschuldet ist, das keineswegs verschwiegen oder bemäntelt werden soll. Es ist die Überzeugung des Verfassers, daß der größere Teil der dem Zusammenbruch und der Diskreditierung des Marxismus gewidmeten politologischen oder ökonomietheoretischen Literatur doch in einem Punkt sich vom Marxismus überhaupt nicht unterscheidet: dem ihr zugrundeliegenden Materialismus.
Natürlich ist es kein mechanischer oder dialektischer, auch keineswegs immer ein physikalistischer, aber in jedem Fall ein positivistischer Materialismus, kritiklos dominiert von einem ebenso übermächtigen wie selbstverständlichen Drang zur Verdinglichung dessen, was in irgendeiner Weise als Gegebenheit angesehen werden kann.
Am krassesten aber auch anschaulichsten tritt das zutage an einer Sprachwissenschaft, die das Sprechen auf Informationsaustausch mittels zum Zeichen verdinglichter Worte interpretiert. Wen wundert, daß eine solche Wissenschaft am Ende Computer von Menschen nicht mehr zu unterscheiden vermag. So erklärt es sich, daß dieser Materialismus auch in den Geisteswissenschaften gegen deren eigenes Selbstverständnis einen Triumph nach dem anderen feiert. Folgerichtig ist daran allein, daß dieser geisteswissenschaftliche Überbau auf einer Basis errichtet wird, in der die Einheit der Wirklichkeit bereits auf die Einheit der Natur (Weizsäcker) reduziert und damit der materialistischen Metaphysik ausgeliefert ist.
Aber eine Soziologie, der die Einheit der Gesellschaft identisch ist mit deren Gegebenheiten, wird natürlich dann auch wie Max Weber die Unterschiede des biologischen Erbguts der Rassen zu diesen Gegebenheiten zählen und ohnmächtig sein gegenüber denen, die auf solche Gegebenheiten mit diskriminierenden oder Lebensrechte verneinenden Gesetzgebungsakten oder Verwaltungsmaßnahmen reagieren.
Völlig dunkel bleibt in dieser Welt des Materialismus der Verdinglichung, von wo aus es einen Zugang zur Welt des Rechtes und des Staates geben soll, eine Welt, die nun einmal dank ihrer notorischen Historizität, Individuiertheit und Sprachlichkeit sich der Verdinglichung entzieht. Vermag sie es aber nicht, sich dieser Verdinglichung zu entziehen, dann ist es um die menschliche Freiheit geschehen, nicht nur unter den Bedingungen der kommunistischen Diktatur, sondern auch unter denen des Warenfetischismus und der Marktmonopole. Und ist diese Freiheit schon gerettet, wo die Einheit des Rechtes in der Gegebenheit der es konstituierenden Kommunikationsakte gefunden werden soll (Habermas)?
Es sind diese Fragen, denen im Interesse der Demokratie und ihrer Zukunft im Buch nachgegangen wird.

Michael Gormann-Thelen

Wolfgang Ullmanns anzuzeigendes Buch halte ich für eines der wichtigsten Werke der letzten Jahre. Dieses wird es auch auf einige Zukunft noch bleiben. Es ist nämlich nicht nur im Inhalt sehr gewichtig, darüber hinaus ist es ebenso anregend wie im besten Sinne, so eines der wichtigsten Ullmannschen Schlüsselworte, grenzüberschreitend.

I
Leider haben es Autor und Verlag unterlassen, den Verfasser selbst auch (auto-)biografisch vorzustellen. Wolfgang Ullmann als namentliches geschichtliches Individuum hat jedoch eine Lebensgeschichte, die für vorliegendes Werk und darüber hinaus von Interesse wie Belang gewesen wäre! Angeboten hätte sich der sehr schöne Text "Vertreibung aus dem Paradies ­ biographische Notizen" aus dem Band "Demokratie ­ jetzt oder nie!" (München 1990). Wolfgang Ullmanns Kindheits-, Kriegs- und Studienjahre verlaufen von Gottleuba (geboren wurde er 1929) über Dresden, dann West-Berlin, Göttingen nach Berlin (DDR). Eine zweite Lebensbahn von Colmnitz, wo er als Dorfpfarrer wirkte, über Naumburg nach Berlin (DDR), wo er am "Sprachenkonvikt" lehrte, welches heute bezeichnenderweise wieder nur Kirchliche Hochschule heißt. 1987 beteiligte er sich an der Initiative "Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung". 1989 gehörte er zu den Mitbegründern der Bürgerbewegung "Demokratie Jetzt". Von Dezember 1989 bis März 1990 war er deren Sprecher am Zentralen Runden Tisch, den er ebenfalls mitinitiierte. Von Februar bis April 1990 war er Minister ohne Geschäftsbereich im Kabinett Modrow, seit März desselben Jahres Abgeordneter der letzten Volkskammer der DDR und seit April einer ihrer Vize-Präsidenten. Danach wurde er für "Bündnis 90/Die Grünen" zum Abgeordneten des ersten gesamtdeutschen Parlaments gewählt. Nach Ablauf der Legislaturperiode 1994 ging er dann als Abgeordneter ans Europäische Parlament in Straßburg und Brüssel. Seine Lebensbahn läuft demzufolge zwei Mal vom Dorf in die Welt ­ ein Lebenslauf, an dem Jean Paul, einer der Lieblingsschriftsteller Wolfgang Ullmanns, seine helle Freude hätte.
Seine Erfahrungen als mittätiges Mitglied der Bürgerbewegungen am Ende der DDR sowie als bundesdeutscher Abgeordneter verdichtete Ullmann in einem sehr konzisen wissenschaftlichen Beitrag zu "Bürgerbewegungen und Parlament" für das "Handbuch der Parlamentswissenschaft im technischen Zeitalter, herausgegeben von Raban Graf von Westphalen (München 1994). Auch dieser wichtige Beitrag hätte in den hier vorzustellenden Band hineingehört, denn seine korporationsrechtlichen und verfassungskonstitutiven Überlegungen zu den "Bürgerbewegungen" und zum "Rundem Tisch" (Beitrag der polnischen Bürgerbewegungen zu einer Demokratie, die zukünftig mehr Gehör ihren Bürgern schenken werden muß, andererseits aber auch gesellschaftliche Pflichten und Rechte beanspruchen wird dürfen) bilden das systeminterne wie systemüberschreitende Herz seines Buches zum Überkreuz von Aufklärung, Demokratie, Geschichte und Politik. Leider fehlt noch ein von Ullmann stammendes Kapitel zu seiner Tätigkeit in der vom Einigungsvertrag auferlegten Verfassungskommission, die prüfen sollte, inwiefern die Einigung Konsequenzen für die Verfassung selbst habe. Diesem unrühmlichen Kapitel konservatver Abwehrpolitik gegen bürgerlich-souveräne Prüfung von Geschichtstatsachen machte Ullmann ein selbstbewußtes Ende, indem er als einziger diese Kommission unter Protest verließ. Die Wunden, die das herrschende Politikverständnis der politischen Klasse der altwestdeutschen Republik Ullmann und der gesamten Bürgerbewegung der DDR und ihrem Recht auf Geschichte schlug, sind an Ullmanns Buch zu spüren. So ist es gewidmet der "Evangelischen Brüdergemeine Berlin II, die unter ihrem damaligen Pfarrer Heinz Küchler in ihrem Gemeindesaal vom 7. bis zum 22. Dezember den Zentralen Runden Tisch der DDR beherbergt hat." Das Buch selbst wurde auch von dem inzwischen "gesamtdeutschen" Bonner Parlament ermöglicht, denn die einzelnen Stücke dieses Buches verdanken sich einer von Heilkraft nicht abgekoppelten Denklust, die in ihrem Gestus einer gewissen Ödnis der Bonner Verhältnisse und ihrem eingeschliffenen Betrieb im Aufbegehren abgerungen wurde.

II
ZUKUNFT AUFKLÄRUNG. Wer meine Meinung teilt, daß seit der ,Wiedervereinigung' das geistige Klima der ,alten' Bundesrepublik, die phantomartig immer noch vorherrschend ist, erschreckend unbeeindruckt mit immer neuen Tiefenrekorden fast jedes Thema und Niveau unterbietet, dem sei Ullmanns Buch nachdrücklichst empfohlen. Wie einige wenige andere Bücher von Autoren auch, die der DDR entstammen, beweist auch Ullmanns Buch, daß nach 1989 manches aus der DDR testamentarisch in die neue Bundesrepublik eingebracht wurde, was bis heute von den ,westorientierten' Intellektuellen bislang verweigert wird, zur Kenntnis genommen zu werden. Diese Ignoranz trägt ganz wesentlich zur Verleugnung, Verneinung und Verwerfung (im Freudschen Sinne) der nach 1989 entstandenen neuen Wirklichkeiten bei.
Ullmanns Buch verstößt insbesondere gegen ein altbundesrepublikanisches Tabu oder stellt ein typisches intellektuelles Unvermögen radikal in Frage. Ullmanns Buch nämlich artikuliert eine Tradition wissenschaftlichen Denkens im Deutschland nach 1945, welches einzig so in der DDR gelehrt, überliefert und weitergesagt wurde. Paradoxerweise ist dies eine Tradition theologischen Denkens, welches sich nicht seinen anderen Zwillingsdisziplinen Rechtswissenschaft und Soziologie verweigert hat. Gerade diese Koppelung aber macht(e) Ullmanns Buch bei der Intelligenz der alten BRD unmöglich. Erst 1977 wurde diese Ignoranz durch die Entdeckung Eugen Rosenstock-Huessys im Deutschen Herbst unterbrochen. Die Traditionen eines Denkens, die nicht von ,Theologie' sich abspalten ließen, endeten 1940 mit den berühmten "Geschichtsphilosophischen Thesen" von Walter Benjamin. Die Rezeption dieses Vermächtnisses (ohne daß die Wissenschaften bislang zu ,evaluieren' vermöchten, was Vermächtnis bedeutet!) unterliegt einer typischen west-deutschen Paradoxie. Wofür sie immer wieder zitiert werden (z.B. für die hehren Ziele echter Aufklärung oder eines nicht korrumpierten Wissenschaftsdiskurses!), bilden sie den paradigmatischen Abwehrtext gegen jene Traditionen, die glauben, nicht auf eine glaubwürdige Theologie verzichten zu dürfen! Mit anderen Worten: dieser Schlüsseltext fungiert innerhalb der bundesdeutschen Episteme rein als "Deckerinnerung" (Freud) mit Entstellung in sein Gegenteil!
Gegen diese unheilige Allianz von Ignoranten und Ignoranzien bäumt sich Ullmann auf und macht dagegen auf einer in der alten BRD unüblichen intelligenten wie stupenden Weise geltend: "Allein aus der Kooperation von Rechtswissenschaft und Theologie und Soziologie kann eine Form historischer Kritik gewonnen werden, wie sie in den Geisteswissenschaften noch immer herrschenden Litaraturkritik (auch auf dem jüngsten Stand) nie zu erreichen vermag. Aber eben diese Koperation kann erst zustandekommen, wenn die rechtsgeschichtliche und theologische und soziologische Relevanz der historischen Verflechtung von Wahrheiten in der Kategorie des Ökumenischen ihre volle methodische Kraft entfaltet hat." (S. 113, vgl. auch S. 66 f.)
Dieser Imperativ notwendiger Kooperation dreier besonders verstandener, nämlich orientiert-orientierender Wissenschaftsdiskurse (denen eine noch beigesellt werden müßte: die der "Ökodynamik" transklassischer Maschinen bzw. Medien sich widmete. Daß Rosenstock-Huessys drei ökodynamischen Grundsätze, wie er sie im "Unbezahlbaren Menschen" 1938/1956 formulierte, die drei thermodynamischen Grundsätze der Physik aushebeln und auf einen bestimmten Platz in der Natur einschränken, ist bislang noch gar nicht ausgeleuchtet worden) beweist seine beabsichtigte (Un-)Wucht, wenn man dagegen sich Rosenstock-Huessys ebenso dekonstruktionistische wie im besten Sinne materialistische Herabstufung von Kants ,kategorischem Imperativ' vor Augen führt und vor den beiden derzeitigen Großtheorien aufrichtet, also vor Habermas von normativen Verständigungsidealen geleiteten kommunikativen Vernunft, die eine Art vierte "reine" Kritik im Sinne Kants zu sein beansprucht, oder vor der sich einer Pseudorezeption mancher naturwissenschaftlichen Theorien verdankenden Systemtheorie "sozialer Systeme" Niklas Luhmanns, die Hegels Logik der "absoluten Idee" zu beerben sich herausnimmt. So wie Habermas niemals von der "Metakritik der reinen Vernunft" von Hamann, Herder, Humboldts und Saussures sich ankränkeln ließ, so Luhmanns Metasoziologie niemals von einer "Metanomik" im Sinne Eugen Rosenstock-Huessys (vgl. "Out of Revolution", 1938). Beide Großtheorien, und dies ist wohl die Pointe Rosenstocks, versagen vor der entscheidenden Wirklichkeit, nämlich vor uns Laien, insoweit wir als Gesellschaftsmitglieder im Haushalt der Geschichte der "Vollzahl der Zeiten" uns zusammentun, bezeugen und bewähren müssen (Rosenstocks "Ichthys"-Kapitel in der "Sprache des Menschengeschlechts" wäre einmal einer wirklich radikalen Lektüre zu unterziehen). Mit anderen Worten ­ Rosenstocks Punkt ist immer wieder Geschichte als ­ inzwischen 3. Glaubensartikel! Was bestimmt unsere Zukunft, wie reißt diese uns über uns heraus (nicht hinaus)?!

III
Diese Frage treibt Ullmann an und an. Wie anders läßt sich ein deutscher Professor aus seiner Stellung als "philosophe salarié" (G. Ferrari) hinaus in die Welt katapultieren? Natürlich ­ es gibt den Prof. Biedenkopf, aber der verwechselt seinen ehemaligen Professorenstand mit dem Sonnenkönig in seiner sächsischen Variante Karls des Starken. Aber dies ist die Farce. Ullmann wurde zum Politiker durch Nöte und Umstände und geschichliche Erschütterungen gezwungen, und entdekt darüber Traditionen einer Theologie und Kirchengeschichte und Glaubenswirklichkeiten, die weit davon entfernt sind, uns nichts mehr anzugehen, uns nicht mehr zu bestimmen! Als in diesen Traditionen leider nur vom fernen Hörensagen Bewanderter, fand ich Ullmanns theologisches Kreuz der Wirklichkeit, welches mit dieser Theologie als (s)einem Kreuz selbst ernst macht, hochinteressant, sogar hochvergnüglich, manchmal sehr wundersam. Dieses Kreuz Ullmannscher Theologie findet sich ganz im Sinne Rosenstockscher "grammatischer Methode" als zweites Buch im Buch. Im Anhang ­ dieser unprätentiöse Gestus täte vielen gut! Die vier Kapitel lauten "Was ist Theologie?" (1974), "Zur Dogmengeschichte der Schöpfungslehre" (1981), "Barmen im dogmengeschichtlichen Zusammenhang" (1984) und "Prolegomena zu einer Dogmengeschichte nach Harnack" (1990). Diesen "Anhang" endecke der Leser oder die Leserin lieber selbst. Mich verwundert bloß, daß in seinen Bemerkungen zur Schöpfungslehre nichts über "die zweite Schöpfung" steht, d.h. über den Menschen als Schöpfer von Leben (die Problematik dessen, was seit Foucault Bio-Macht heißt) und ­ Tod! Ebenfalls wundere ich mich, daß "Barmen" als dogmengeschichtliche Zäsur der Theologie nicht detaillierter Hans Ehrenberg diskutiert. Denn dies führte nach Barmen zur Geschichte nach 1942, zu einer Theologie nach der Wannsee-Konferenz, also zu den Fragen, die Auschwitz nicht nur der Theologie, sondern allen Menschen auf der Erde stellt. Vor diesen Fragen hat nicht nur die Theologie versagt...
"Zukunft Aufklärung" nannte Ullmann sein Buch. Diese Parataxe allein schon ist eine Überraschung. Aufklärung neben Zukunft zu stellen wagen, dies bricht mit allen ,deutschen' Traditionen der ,Aufklärung', besser des Umgangs mit Aufklärung. Denn es ist nicht zu vergessen, daß "Aufklärung" in der deutschen Geschichte der letzten 200 Jahre der Kampfbegriff aller Konservativen war. "Die verspätete Nation" ­ so Plessners berühmtes Buch, welches mit Rosenstocks "Europäischen Revolutionen" auch noch nicht zusammengesehen wurde (Plessner selbst mußte nach Groningen emigrieren) ­ und ihr Bildungs- oder Unbildungsbürgertum bekämpften ihre eigene Unfähigkeit zur bürgerlichen Emanzipation ("Nation" im Sinne der europäischen Staaten des 19. Jhdt.) immer mit dem blinden und wütenden Affekt gegen Aufklärung! Aufklärung war "natürlich" immer antisemitisch getönt ("Die Wunde Heinrich Heine" z.B. ­ Karl Kraus, Freud (!) bis Adorno. Oder Ossietzky oder Luxemburg...). Diesen deutschen Affekt gegen Aufklärung, ,reines' Schimpfwort, unterbach in seiner fatalen Geschichte gerade das, was in der BRD "68" heißt! Nach 1989 ­ nach der Einigung ­ wagt sich der alte Diskurs der Verächtlichung der Aufklärung wieder hervor! Diese Geschichte spricht Ullmann leider nicht an, er setzt sie voraus. Das hätte er aber vielleicht nicht so tun sollen, denn ­ als gewesener Literaturwissenschaftler sei mir diese Bemerkung gestattet ­ es gehört zum Ruhmesblatt der DDR-Wissenschaftsgeschichte, daß die Arbeitsstelle Aufklärung der Akademie der Wissenschaften die Fundamente der Erforschung der Aufklärung legte. Nicht nur Germanisten (von Hans Mayer bis Fontius) waren und sind an dieser Forschung beteiligt, auch die Romanistik seit ihrer überragenden DDR-Gestalt Werner Krauss (wer kennt in der alten BRD den Widerstandsroman "PLN", geschrieben in der Haft!)?

IV
Das Buch "Zukunft Aufklärung. Eine Bestandsaufnahme nach dem Ende der Utopien" zählt sieben Kapitel. Da das erste und letzte Kapitel strukturiert sind wie ein Möbius-Band, zudem seine Titelstichworte über Kreuz verbunden sind (doppelt chiasmatisch, da jeweils zwei Begriffe auf der Basis der beiden anderen fundiert und entgründet werden), nehme ich diese beiden Kapitel als eines: "Aufklärung als Geschichte und als politische Aufgabe" und "Bedingungen der Aufklärung ­ Bedingungen der Demokratie". Dieser seltsamen ­ auto-hetero-selbstbezüglichen ­ Struktur ist es zu verdanken, daß das, was das erste Kapitel an- oder vorgibt, im letzten, das, was das letzte im Titel an- oder vorgibt im ersten Kapitel artikuliert wird. Dies ist so seltsam nicht, denn dies macht eine doppelte Probe auf, à la Rosenstock, nämlich a) "Wir haben soviel Zukunft wie wir Vergangenheit haben"; und b) "Bewußtsein dreht die Reihenfolge um". Ein drittes Rosenstocksches Axiom wendet die beiden Sätze ­ metanomisch ­ aufeinander an.
Man könnte auch sagen, daß dieses in-sich-gedopptelte erste Kapitel einer Bifurkation, einer Verzweigung sich verdankt. Solche Bifurkation ist immer das Merkmal von solchen Umdrehungen, denn diese Umdrehungen entfalten sich als eine Abfolge von sechs Phasen einer Katastrophe. Diese Entphasenartige Faltung ist nicht meine Erfindung, sie bildet die Entdeckung der Dynamik der "Europäischen Revolutionen" von Eugen Rosenstock als eines sich selbst-organisierenden Systems.
Dieses nannte Rosenstock-Huessy später die "Zirkumvolution" der Europäischen Revolutionen. Leider kommt Ullmann auf diese Dynamik nicht zu sprechen, obwohl er weiß (als Liebhaber der Mathematik), daß Rosenstocks Entfaltung der Dynamik der Europäischen Revolutionen Struktureigentümlichkeiten folgt, die erst 40 Jahre später von den französischen Mathematiker René Thom entdeckt und formuliert wurden! Diese Phasendynamik ist eine Konfiguration dessen, was Ullmann in seinem Buch "Zukunft durch Selbstorganisation" (S. 236 ff.) nennt, also "die Entdeckung von Diskontinuitäten mitten in der uns wohlvertrauten Welt des Kontinuums". Es ist typisch für die soziologische Mächtigkeit und Erheblichkeit Rosenstockschen ,Denkens' (aber dies wäre einmal genau zu spezifizieren), daß diese Erfahrungen von Diskontinuitäten auf einer wissenschaftlichen Konferenz in dem Datum des Ausbruchs der Ende der DDR artikuliert wurden. Dieses Ausbruchsdatum korreliert als Enddatum einer Katastrophendynamik dem ersten Bruchpunkt dieser Dynamik, der aber meistens unbemerkt bleibt. Diesen auslösenden Erschütterungspunkt nennt Rosenstock "den wunden Punkt" . Nicht zufällig wußten die Historiker mit solchen 'Begrifflichkeiten' nichts anzufangen! Es sind eben keine Begriffe, sondern wirklich auch sprachlich "Knotenpunkte" (Hegel) einer Erschütterung (vgl. auch den Aufsatz von Rosenstock zu Guiseppe Ferrari im "Geheimnis der Universität"). Was will ich damit sagen? Ich gebe an Ullmann oder Rosenstock einen Beleg dafür, daß sich beide jenseits der alten unfruchtbaren Spaltung von Geistes- und Naturwissenschaften bewegen! Das Gespür für die Unhaltbarkeit dieser neukantianischen Dichotomie von Rickert brachte schon 1910 jene Versammlung von Ehrenberg, Rosenzweig, Rosenstock u.a. in Baden-Baden zusammen, ließ sie aber damals scheitern, weil sie die Erfahrung einer "Totalerschütterung" (Rosenstock) ­ die des 1. Weltkrieges ­ noch vor sich hatten. Sie ahnten etwas, es gab eine Art taktiler Resonanz ihres Denkens ­ welches sie verwirrte und zu keiner Einigung kommen ließ. Ullmann zieht aus dieser "Losung", die auch eine Metanomik in nuce darstellt/artikuliert, ganz neue Einsichten/Ansprüche für "das Ganze der Gesellschaft". Aber diese unterliegt eben nicht mehr einem "Begriff der Totalität", auch keiner "Illusion einer Homogenität".
Liest man "Zukunft Aufklärung" als solche Abfolge von sechs Kapiteln, dann wiederholen, erweitern und problematisieren sie auf zeitgenössischem Niveau die Reihenfolge der "Europäischen Revolutionen", die gleichsam die Referenz-Wirklichkeit dieser Lektüre bilden. Mit dem 2. Kapitel in Ullmannscher Zählung entrollt sich dann aufs Neue die Abfolge der Revolution ­ aber aufgrund seiner anderen Erfahrung. Statt des Ausgangspunktes "Papstrevolution" entfaltet das 1. Kapitel in meiner Sicht unsere andere Erfahrung (die freilich von Rosenstock schon formuliert wurde), nämlich "Die Weltrevolution von Weltkrieg I und II". Danach folgt dann das die Reformation ent-stellende Kapitel zu "Weltorganisation und Menschheitsperspektive". Diese Doppel-Perspektive erweitert die von der Reformation inaugurierte Doppelperspektive von "Militär" und "Zivil" (die nachhaltige Wirkung der Reformation als "Europäische Revolution" beweist sich in nichts nachdrücklicher als im ,deutsche' "Staatsbürger in Uniform" und der komplementären "Inneren Führung"!). Es folgt ein Kapitel "Das Fiasko der Geisteswissenschften", danach das ,französische' Kapitel "Die Atombombe oder der Primat der Physik über die Politik". Atombombe versus erster Soziologe Saint-Simon. Des weiteren "1968 ­ Die Unfreiheit des politischen Willens und die Lähmung der politischen Urteilskraft". Dreht man die Reihenfolge um, ergibt sich als Ausblick die Perspektive von uns "vorwärtsgekehrten Histroikern" der Zukunft: Zukunft/Vergangenheit "Aufklärung", "1968" (dieses Mal kommt dadurch Ullmanns protestantische und DDR-Perspektive zum Vorschein), "Die Atombombe oder der Primat der Physik über die Politik", "Das Fiasko der Geisteswissenschaften" (Stichwort ist nun Ullmanns Abwehr und Widerlegung des "postmodernen Denkens", "Die Weltrevolution von Weltkrieg I und II".

V
Mit dem ersten Satz schlägt Ullmann seinen Rosenstock an: "Der Weltkrieg, die Einheit von Weltkrieg I und II, war die Weltrevolution" (S. 68). Ullmann als unser Zeitgenosse akzentuiert das Präteritum: "Es ist an dem, daß wir über die Weltrevolution, das Schreckgespenst aller Konservativen und Status-quo-Politiker dieses Jahrhunderts im Präteritum sprechen müssen." Weshalb? "Die Einheit der beiden Weltkriege war die Weltrevolution, die die Kommunisten erst herbeiführen wollten, vor der die Mächte des Westens seit Beginn des Kalten Krieges sich durch ihre Blockpolitik schützen wollten." "Der Zusammenbruch des Ostblocks hat den Illusionismus dieses Politikansatzes offenbar gemacht." Für die europäische Macht wurde dies erst "offenbar" durch Sarajewo! Damit fängt das Buch an: "Von Sarajewo nach Sarajewo führte der Zyklus dieses unseren Jahrhunderts eines der blutigsten und barbarischsten der bekannten Geschichte" (S. 9). "Offenbar", aber für die europäische politische Klasse ­ wider Willen. Dieses ,wider Willen' vollendet diesen "Zyklus", den man, wenn er in seinen Ausgangspunkt zurückkehrt, ohne daß sich etwas verändert hätte, was das ,wider Willen' markiert und offenbar macht, "Hysterisis-Zyklus" nennt. Mythologisch ist dies das allen bekannte Bild von der sich selbst fressenden Schlange, in Wirklichkeit bedeutet dies eine Menschenschlächterei nach der anderen, die im Genozid endet (der seit Beginn im Kopf war).
Ullmanns Zeuge für die Fatalität dieses Zyklus' ist der Karl Kraus von "Die letzten Tage der Menschheit". Seine Apokalypse des Johannes, "Die dritte Walpurgisnacht" gehörte ­ theologisch ­ jener zur Seite gestellt! Aber hat sich je ein Theologe mit diesen ,Heiligen Schriften' befaßt!? Ullmann zieht dann die Konsquenzen aus der "Hochzeit des Krieges und der Revolution" (1920) und den "europäischen Revolutionen" (1931), denn er sagt nun, "daß der Weltkrieg nicht nur das Verhältnis rückständiger Staatsformen zur Gesellschaft, sondern auch die Strukturen der Gesellschaft selbst verändert habe" (S. 76). Während die heutigen akademischen Soziologen am liebsten "Gesellschaft" entbehrlich machen möchten, insistiert Ullmann auf dieser neuen millennaren Großmacht neben Staat (2. Jahrtausend) und Kirche (1. Jahrtausend), die aber niemals eine ,Großmacht im alten Sinne' sein wird.
Leider widmet Ullmann anderen Faktoren neben dem Weltkrieg noch wenig Beachtung. Dazu hätte m.E. gehört, daß er sich ausführlicher dem Insgesamt zugewandt hätte, von dem der Weltkrieg als Weltrevolution nur ein Faktor (gewesen) ist. Dieses Insgesamt möchte ich erst einmal probeweise äonischen Epochenschoß nennen, in Anspielung auf Rosenstocks Arbeit "Ein Sprachenschoß um 1200", in dem dieser erneut das juristische Dokument Sachsenspiegel untersuchte.
Rosenstocks Redeweise geht hierbei wohl auf das lateinische "gremium" von Augustinus zurück. Ein anderer Faktor wäre durch den Namen Hiroshima bezeichnet, also durch die Erkenntnis, daß die Technik es auf immer inzwischen geschafft hat, allem ein unvordenkliches Ende vorstellbar zu machen. Tschernobyl steht für den immer noch herrschenden Illusionismus. Wie kein anderer hat diesen Faktor Günther Stern, der Sohn des Breslauer Psychologen William Stern, bedacht. Daß Anders' Name nicht fällt, obzwar er zweifelsohne ein Denker des "Zivilisationsbruches" (Dan Diner) genannt werden kann, ist bedauerlich, denn in seinen Aufklärungskapitel geht Ullmann den verschiedenen Klüften dessen nach, die sich mit Anders zwischen "herstellen" und "vorstellen" auftun (vgl. "Die Antiqiertheit des Menschen").
Ullmann nennt den "mittlerweile lebensgefährlichen Hiatus zwischen der geschichtlichen Wirklichkeit samt ihrer physischen Wahrnehmung in Wissenschaft und Kunst und dem gesellschaftlichen Bewußtsein von alledem" (S. 14) oder "den Bewußtseinshiat gegenüber dem Erkenntnisstand heutiger Wissenschaft" (S. 15) oder "den Hiat zwischen der emanzipierten und avancierten Kunst" (S. 16). Als dritten Faktor dieses Epochenschoßes nennte ich die von Ullmann nicht erwähnten Medien und als letzten den globalisierter kapitalistischer Weltwirtschaft ohne allen ,Systemgegensatz', was den mexikanischen Schriftsteller und Diplomaten Carlos Fuentes dazu brachte, vor den Gefahren "einer Theologie des Kapitalismus" zu warnen. Diese vier Faktoren bildeten ein Kreuz der Wirklichkeit dieses äonischen Epochenschoßes als ­ Trajekt.

VI
Es gibt aber einen zweiten Epochenschoß als ­ Präjekt. Als dessen geschichtliche neue Faktoren nennte ich die Frauen und ihren Eintritt in den Haushalt der Ökonomie der Vollzahl der Zeiten. Rosenstock-Huessys Ahnungen zur "Tochter" und dem "Töchterlichen" müßten weitergeführt werden. Geht dies mit Rosenstock oder nur ­ gegen ihn? Zum anderen gleichsam als Widerlager für jenen entfesselten globalen Kapitalismus die sozialen Dienste auf unserem Planeten als sichtbare Gestalt der unsichtbaren "Ökodynamik" der "Friedensbedingungen einer Weltwirtschaft". Rosenstock spricht in seiner Denkschrift eindrücklich von "Mad Economics or Polyglot Peace". Als weiterer Faktor, von dem von Ullmann überhaupt nicht die Rede ist, tritt hinzu der Faktor trans-klassischer (Bio-)Maschinen bis hin zur Entschlüsselung des Menschengeschlechts des Genoms und ihre beiden Interfaces zur zweiten biologischen Schöpfung und zu den Medien. Trans-klassisch sind diese Maschinen, Techniken und Erzeugnisse darin, daß sie eine neue Form von Technik herausbilden, bzw. schaffen (!), der die Ökodynamik in ihrem Verhalten auf den verschiedensten Niveaus in Bezug zu anderen System nicht mehr nur extern nachgeliefert wird, sondern nunmehr intern variabel implementiert ist, sodaß sie beginnen, nach und nach auf bestimmte Weise lernfähig zu sein und diese Fähigkeit zu erweitern. Sie werden also fähig sein, Lernen zu lernen zu erzeugen. Auf dieser Ebene wird immer der Roboter mit der Schreckgestalt menschlicher Phantasie, der Homunculus, verwechselt. Als lezten Faktor, den auch Ullmann nennt, kommt die Gesellschaft selbst hinzu, also alle Kräfte, Mächte sowie Namen und Träger der "Zukunft durch Selbstorganisation", d.h. wir machen uns unsere geschichtlichen Strukturen in unserem Umgang mit unseresgleichen und mit nicht-unseresgleichen bewußt. Die Herausforderung Rosenstocks besteht an alle darin, daß er unnachgiebig darauf beharrte und dies vorexerzierte (in seinen Arbeitslagern, anderen Universitäten etc.), daß es Strukturen, Verfahren, Erfahrungen und Assoziationen gebe, bei denen uns die Naturwissenschaften überhaupt nicht hilfreich sind, weil es hier um gesellschaftliche Optima und a potiori-Formen sozialen Friedens gehe! Jahrhundertelang trugen die Geisteswissenschaften ihren Hochmut vor sich her, ohne gemerkt zu haben, Ullmann erwähnt dies Faktum, daß die Inquisition sich längst an ihre Stelle gesetzt habe! Wie Luhmann auf einer allein pseudo-referentiellen Ebene sich Ergebnisse sogenannter ,harter' Naturwissenschaften glaubt aneignen zu können, bringt uns vor den drängenden Aufgaben gesellschaftlichen Friedens überhaupt nicht weiter. Die gegenwärtige Diskussion um die 'Zukunft' der Soziologie als wissenschaftsinterne Debatte spricht deren reale Hilflosigkeiten einmal mehr aus. Aber wie lange können wir uns den Luxus solcher Scheindebatten leisten? Komplementär zu diesen ,Selbstvergewißerungen' gibt es putschistische Aneingungen sozialer Dienste als Himmelsfahrtkommandos (vgl. den Fall des "Friedensunternehmers" Fred Cuny! "Süddeutsche Zeitung", vom 27./28. April 1996). Zur Gesellschaft gehört seit Rosenstock die Wirklichkeit des Menschengeschlechts.
Die Differenz beider ist Thema des 3. Kapitels "Weltorganisation und Menschheitsperspektive". Hier erkundet Ullmann die Entstehungsbedingungen der Charta der Vereinten Nationen als "gemeinsame Abwehrreaktion gegen den von Hitler ausgelösten Angriff auf Frieden und Menschenrecht" (S. 96). In diesem Punkte konzediert Ullmann keine Schwachheiten: "Es ist darum unsere Pflicht, in unseren ehtischen und politischen Grundüberzeugungen die Gewißheit aufzunehmen, daß die Charta der UNO als die Entfaltung dieser neuen menschheitlichen Spiritualität die einzig denkbare Überlebensgrundlage einer von der Möglichkeit ihrer Selbstauslöschung heimgesuchten Menschheit ist. Die hier bestehende Alternativlosigkeit muß ein Eckstein aller politischen Philosophie und eben darum auch aller politischen Bildung werden." Probierstein für diese einzig denkbare Überlebensgrundlage ist nicht zufällig die neue Hervorrufung des Staates Israel gewesen, die noch nicht abgeschlossen ist! Hier radikalisiert Ullmann, ohne auf Rosenstock einzugehen Hinweise von Rosenstock, die niemand bislang wohl in ihrer Radikalität anerkannt und weitergeführt hat (in "Die Sprache des Menschengeschlechts") Nach dem Ende des Vatikanstaates 1870 (Dogma der Unfehlbarkeit!) bezeugt nunmehr Israel die Einheit der Völkerwelt. Auch Ullmann betont, Völker seien keine "geschichtsenthobene Wesenheiten", sondern sie sind "kraft ihrer Sprache geschichtliche Strukturen, die ihrerseits wieder anderen Strukturen angehören" (S. 235). Ullmanns äußerst gehaltvolle Ausführungen lese man selbst nach. Unter Aufnahme eines Berichtes von Herder spricht Ullmann Israel die Rolle der "Friedensfrau der um die UNO geeinten Nachkriegsvölkerwelt" (S. 106) zu. Man lese dazu die grundlegende Diskussion um die universellen Menschenrechte, in der Ullmann zusammen mit Hannah Arendt darauf besteht, sie könnten als universelle nur eingeklagt werden, wenn auch die soziale Basis im gleichen Atemzuge reklamiert werde, die jene ebenso garantieren wie hervorbringen (S. 223 ff.). Mit Rosenstock könnte man weitergehen, was übrigens in gewissen Diskussionen in Israel schon früh eine Rolle spielte. Rosenstock zeigte besonders in "Frankreich-Deutschland", in einer Schrift, die niemand zu kennen scheint, wie die Geschichte und die Struktur beider Länder in Gegenseitigkeit hervorgerufen wurden. Die Selbstgeborenheit eines Staates ist ein barbarischer Gründungsmythus, der mit seiner geschichtlichen Stiftung per Gegenseitigkeits-Vorstellung nichts zu schaffen hat. Israel hat eine doppelte Funktion. Zum einen die der Friedensfrau, andererseits kann Israel diese Einheit der Völkerfamilie nur bezeugen und bewähren, wenn es selbst sich als Gegenseitigkeits-Vorstellung leben lernt ­ diese Gegenseitigkeitsvorstellung Israels heißt Palästina. Daß dies nicht ohne "schaffende Opfer", nicht ohne "Blutzeugen" abgeht, zeigen die schrecklichen Ermordungen von Sadat und jüngst von Rabin. Aber all diese Zukünfte sind schon großartige Beispiele für das, was Ullmann die "verschiedenen Durchdringungen von Religion und Gesellschaft" nennt, wobei er gerade den christlichen Ökumenen und Konzilien im Plural hinter die Ohren schreibt, sie sollten sich endlich ihrer Vorgänger in dieser Frage des "Frieden schaffen ohne Waffen" versichern, so vor allem Nikolaus von Cusa und seinem Traktat "De pace fidei" (Über den Frieden des Glaubens) oder Leibnizens "Theodicee" oder eines Namens, den Ullmann des öfteren nennt, nämlich Florenski (im gleichen Verlag erscheint übrigens die schöne 10-bändige Werkausgabe) und seine "Der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit". Es ist und bleibt ein Skandal, daß die sogenannten christlichen Kirchen in Deutschland, egal welcher Konfession, ihrer Vor- und Fürsprecher in dieser Frage überhaupt nicht erinnern! Insbesondere die Evangelische Kirche Deutschlands kennt nicht einmal die Namen! Aber es gab Hans Ehrenbergs "Östliches Christentum" von 1925 ­ und es gab Eugen Rosenstock-Huessy. Ullmann sagt völlig zurecht, diese Durchdringung könne erst dann zustandekommen, "wenn die rechtsgeschichtliche und theologische und soziologische Relevanz der historischen Verflechtung von Wahrheiten in der Kategorie des Ökumenischen ihre volle methodische Kraft entfaltet hat" (S. 113).
Besteht dafür größere Hoffnung? Alles sieht danach aus, als verschliefen die bundesdeutschen Institutionen diese Aufgaben unserer "Zukunft Aufklärung". Deshalb sollte man in dieser Verfassung nicht mehr auf sie bauen, stattdessen vielmehr seine eigenen Kräfte an den verschiedensten Orten zumTragen bringen. In diesem Sinne sind die Mitglieder, ja Sie selbst, dazu aufgefordert. Als schlimmste rückwärts ziehende Kraft macht Ullmann im nächsten Kapitel "Das Fiasko der Geisteswissenschaften" den Agnostizismus aus. "Längst [aber] hat Agnostizismus aufgehört, eine Kennzeichnung derer zu sein, die keiner kirche und keiner Religion angehören. Mittlerweile sind alle, die an jener grundsätzlichen Verstörung im Verhältnis von Gesellschaft und Wissenschaften aktiv oder passiv anteilhaben, seit Nietzsches Profezeiung der Heraufkunft des Nihilismus sich darin rasch und durchschlagend erfüllt hat, daß auch die Wissenschaften, weit entfernt davon, die obersten Werte zu stabilisieren, deren Selbstentwertung nach Kräften gefördert haben" (S. 114). Das Fiasko besteht vor allem in der "Vernebelung der geschichtlichen Wirklichkeit durch des-orientierende Wissenschaften, weit entfernt davon, die obersten Werte zu stabilisieren, deren Selbstentwertung nach Kräften gefördert haben" (ebda.). Selbst Theologen dämmert langsam, daß die Kategorie der "Orientierung" Grundlage einer neuen "theologischen Hermeneutik" werden müssen. Dies wird gesagt, weil man den Briefwechsel zwischen Rosenzweig und Rosenstock aus dem Jahre 1916 nie vorgestellt bekam! "Orientierung" ist innerhalb des Wissenschaftsbetriebes und seiner Diskurse eine Blindkategorie! Ullmann geht zwei Fällen dieser Selbstentwertung auf glanzvollen Seiten nach. Hier stimmt wirklich: In der Kürze liegt die Würze! Zum einen der Selbstenthauptung Heideggers in seiner berüchtigten, aber bis heute ange- und verhimmelten Rede vom 27. Mai 1933 über "Die Selbstbehauptung der deutschen Universität". Zum anderen reduziert er den Staatsrechtler aller vier Deutschen Verfassungen der letzten 100 Jahre (Kaiserreich, Weimarer Republik, Nationalsozialismus und Bundesrepublik Deutschland), Carl Schmitt, auf die Wirklichkeit seiner Blütenträume. Er kann dies, weil er eben auch die "schillernde Rolle" der Theolgie "im Umkreis der juristischen Begründung des Primates des Staates" (S. 150 ff.) kennt. Ullmanns Zorn richtet sich gegen Wissenschaftler und Wissenschaften, die vermeinen, keinerlei Imperativen der Zukunft, die auch sie orientieren, gehorchen müßten! Die Perversion besteht darüber hinaus darin, daß die Wissenschaften ­ in zweiter Stufe oder auf der Stufe eines zweiten Beobachters (Luhmann) ­ vermeinen, daraus ein positives Forschungs- und Erkenntnisprogramm machen zu können, welches es gelte, oder welches sie vorgeben, zu erkunden! Die LeserInnen gehen einmal dem ,Begriff' nach, der die letzten 10 Jahre eine sagenhafte Karriere machte ­ dem der Kontingenz, der Kontingenzvbewältigung, sogar der doppelten Kontingenz!
Konsquenz dieses Fiaskos ist "Die Atombombe oder der Primat der Physik über die Politik". Vollkommen zurecht wird von Ullmann die historische Usurpation (in der Folge der Französischen Revolution durch den Energiephysiker Carnot, fügte ich hinzu) des Primats der Politik durch die Physik in Abrede gestellt und in ihren Folgen grimmig geschildert (insbes. S. 168). Alle Bündnisse (in) der Politik "werden erst dann wieder [gesellschaftlichen] Sinn und Inhalt bekommen, wenn wir [!!!] uns über die tatsächlichen Primate [öffentliche!] Rechenschaft gegeben haben, unter denen wir leben" (S. 168). Solche Erklärung der uns bestimmenden und der von uns bestimmten "tatsächlichen Primate" sind Komplementärwirklichkeiten zu dem, was uns orientiert! Also unserer Zukunft! Dabei bringen die geliebtem Grenzziehungen nichts. Eines ist gewiß, so Ullmann, solche ,einfachen' Formeln wie die von Freund und Feind bringen uns nicht weiter, höchstens einen Schritt weiter in noch mehr Gewalt und Haß. "Was sollen solche Grenzziehungen?" ­ angesichts der immer neuen technischen, medialen oder ,andersartigen' "Grenzüberschreitungen" von heute? "Denn die Grenzüberschreitung, der Qualitätssprung, der Paradigmenwechsel, von dem wir hier handeln", so Ullmanns zentrale anstößige Einsicht (S. 171), "ist eben nicht ein neuer Begriff von Kriegsgegnern, eine neue Unterscheidung von Freund und Feind. Es ist vielmehr jene Grenzübrschreitung, die den Unterschied von Freund und Feind prinzipiell annulliert, und zwar dadurch, daß sie beide untergehen läßt in der Liquidierung aller Subjekte in einem niemals genau abgrenzbaren Wirken materieller Gewalt." Darum kann Ullmann auch formulieren: "Primat der Physik, das heißt politisch Dominanz
der Logistik in der Exekutive" (S. 173 und 171 Mitte). Mit einem der postmodernen Denker gesagt: "Legitimation durch Verfahren" (N. Luhmann, der Soziologe, der aus der Verwandlung als Verwaltungsbeamter kam). Solche Teilung des Primats der Physik hat den Genozid an den Juden, hat die IG-Farben zur Voraussetzung (S. 175!). Der Medienkrieg von heute visualisiert allen augenfällig die Erzeugung von Gewalt, die die unheilige Allianz von Physik und Politik bewirkt bzw. deren Effekt diese Allianz ist.
Worum es in Wirklichkeit gehen sollte, spricht das nächste Kapitel "1968 ­ die Unfreiheit des politischen Willens und die Lähmung der politischen Urteilskraft" an. Dieses Kapitel ­ dies gestatte man mir als einem der sogenannten 68er zu sagen ­ sieht, so scharf es ihm möglich ist, durch die Brille des DDR-Bürgers. Auf der einen Seite sagt Ullmann sei "1968 diejenige Perspektive, in der allein eine dem historischen Moment angemessene Deutung der Implosion des kommunistischen
Blocks von 1989 möglich wird" (S. 180). Dies bestreite ich kategorisch, denn der "historische Moment" 1968 ist nur ein Phasenmoment der Abfolge von Katastrophen, die zu jener "Implosion" führten. Ullmann, der Liebhaber der Naturwissenschaften (früher die Chemie, später die Mathematik), kennt die Dynamik nichtstabiler Systeme zu gut, als daß er einen solchen Satz aufrecht erhalten könnte, denn jener "Moment" bedeutete nur den Null-Punkt jener späteren "Implosion", was darin seine Richtigkeit hat, daß auf diese Weise demonstriert wird, daß die Katastrophen-dynamik seit 1945 in ihren Phasen unberücksichtgt bliebe.
Selbst im Ostblock ist 1968 nur ein Moment, der des Prager Frühlings! Ullmann hätte zeigen müssen, wie die Dynamik von "1968" im Osten konjungiert mit der Dynamik im Westen. Dies waren zwei distinkte Verläufe, die 1989 derart in Konjunktion gerieten, daß sie für die eine Serie zur fatalen Implosion führten! Aber von einem ,absoluten' Datum "1968" zu sprechen bringt nicht viel. Zum Beispiel kann die Dynamik für die beiden deutschen Staaten und ihre Gesellschaft darüber gar nicht in Blick geraten. Es bedurfte bei mir Rosenstock, um nachträglich verstehen zu können, weshalb "68er" ­ wiewohl höchst bezeichnend ­ der ,falsche' Name war, ist und sein wird ­ in Bezug auf die ,deutsche Geschichte'. 68er ist nämlich der französische Name des Ereignisses, welches die französische Kriegs- und Nachkriegsordnung, die sich im Namen und in der Person und der Politik de Gaulles symbolisiert, zum Einsturz brachte. Dafür steht "der rote Dany" ­ nicht der grüne!!! In der Bundesrepublik war es aber die Konjunktion eines barbarischen Lokalfeudalismus (nämlich Persiens in der Gestalt des Schahs, der sein König-der-Königetum dem Putsch seines Vaters, eines lokalen Generals, verdankt), der sich in Westberlin austoben durfte, mit der westlichen Dynamik der Abschaffung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die im Tod des Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 ihren Märtyrer fand. Die Märtyrer sind die Namenstifter einer Hoch-Zeit, einer Epoche oder eines Zeitalters. Es gehört zu den Fatalitäten deutscher Geschichte seit dem Blutsonntag von 1848, daß statt des deutschen Datums 1967 das französische Datum fälschlicherweise übernommen wurde. Für (west)deutsche Geschichte müßte es also 1967 oder 67er heißen! Was der 2. Juni 1967 für die westdeutsche Republik bedeutete, das bedeutete für die DDR-Geschichte die Ausweisung Wolf Biermanns Ende 1976! Man müßte einmal genauer danach forschen, ob nicht die Zeitenrichtung (in) der Geschichte der beiden deutschen Staaten jeweils im reflektierten Gegensinne verlief, um sich dann 1989 zu treffen. Aber dies ist nur eine Vermutung.
Wiederholen die Kapitel in der Reihenfolge ab dem Kapitel zur Weltrevolution die Reihenfolge der Europäischen Revolutionen im Sinne Eugen Rosenstock-Huessys, so dreht sich einer zukunftsorientierten Lektüre die Reihenfolge um, um mit diesem seltsamen Doppelkapitel zur Aufklärung zu beginnen, wobei wegen der chiasmatischen Verschlingung beider Aufklärungskapitel das zweite Kapitel in dieser Leküre die trajektive Dimension, das erste Kapitel zur Aufklärung die präjektive "Ditmension" (J. Lacan), die der Zukunft ausübt.

VII
Auf die besondere Zwiefältelung der Kapitel 1 und 7 über die Aufklärung habe ich schon aufmerksam zu machen versucht. Gerade den ersten Teil zur "Aufklärung als Geschichte und als politische Aufgabe" empfehle ich langsamer und aufmerksamer Lektüre. Mich hat besonders getroffen, daß Ullmann, wie niemand vor ihm für mich, die Ansprüche der kanonisch gewordenen Schrift hat zurückweisen können, die am Anfang der neuen Debatte zur Aufklärung steht, die aber niemals die Ditmension der Zukunft hatte ansprechen können. Diese wirkungsmächtige Schrift ist Adorno und Horkheimers "Dialektik der Aufklärung", erstmals erschienen noch in dem niederländischen Exilverlag Querido 1947. Adornos und Horkheimers Traktat ist eines der schillerndsten europäischen Traktate der Verzweiflung. Das nächste Traktat ähnlicher Güte, freilich bis heute nicht ins Deutsche übersetzt, ist Maurice Blanchots "Ecriture du dèsastre" aus dem Jahre 1980. Traktat aus/der Verzweiflung müßte man auch hier treffend übersetzen. Adorno/Horkheimer thematisieren das Thema des Rückfalls der Aufklärung und des Fortschritts in den Mythos und in die Barbarei. Die bekämpfte Aufklärung, der altböse Feind ist völlig zurecht die lineare Fortschritts-Aufklärung, die aber gerade durch den Faschismus auf alle Zeiten destruiert war, ,auf Kosten' des europäischen Judentums. Ullmann bemerkt völlig richtig, die von Adorno/Horkheimer denunzierte Dialektik der Aufklärung als Entmythologisierung mache sich unmöglich durch ihre Adoration des Unheils. Nach dem Ende des Nationalsozialismus gesagt, kommt dies dem Verdikt über jede mögliche Zukunft gleich. Gerade mit diesem Gestus beteiligt man sich an dem Unheil, welches man perhorresziert! Ullmanns Bemerkungen zum de Sade-Kapitel dieses Buches kann ich nicht teilen, ebenso nicht seine kurze Diskussion Freuds, die an den deutschen Ralitäten vorbeigeht, weil in Deutschland bis heute ­ gerade unter Theologen und Psychotherapeuten und Esoterikern ­ C. G. Jung die Position einnimmt, die Ullmann an Freud in Zwiefel ziehen möchte. Nein, de Sade und Freud waren auf dem Gebiet des Unbewußten und der Sexualität und der Gewalt die unnachsichtigsten Vertreter der Überlebensgrundlage des Menschengeschlechts. De Sade ist vom Diskurs der Wissenschaften in einem gesellschaftlichen Sinne in Deutschland bis heute nicht rezipiert worden. Eines der besten Bücher zu de Sade ist von Pierre Klossowski mit dem wunderschönen Titel "Sade ­ mein Nächster". Ebenfalls ist niemals in Deutschland ein französischer Schriftsteller angekommen, der wie kein anderer die Höllen des Krieges durchschrieben hat: Louis-Ferdinand Céline. Berüchtigt ist dieser auch für seinen antisemitischen Furor. Ullmann hat Recht, daß das Kapitel über den Antisemitismus einen Offenbarungseid dieser Denker darstellt. "Es macht betroffen, wie wenig diese Dialektik der Aufklärung dem Niveau des universalhistorischen Themas gerecht wird" (S. 64) In der Tat. Dazu lese man Céline und zwei Autoren, die Ullmann auch nicht kennt, nämlich Antonin Artaud und George Bataille. Dafür aber bietet Ullmann in diesem ersten Kapitel eine unerhörte Reise durch die Äonen der Aufklärung von Plato, über Origines gegen Kelsos, über Augustinus bis hin zu Pascal und in unsere Tage immer am Leitfaden "universeller Aufklärung im Sinne der Einheit von Erkenntnis und Ethik" (S. 57). Man kann nur hoffen, daß Ullmann sich einmal die Zeit nehmen könnte, die Skizze dieser Zukunft Aufklärung durch die Zeiten zu konkretisieren und vielleicht noch um die Beiträge zu erweitern, die das Judentum in Europa bis hin zu Levinas, und über diesen hinaus, beigetragen hat (vgl. auch die erwähnte Arbeit von Christoph Münz).

Ich kann nur hoffen (obwohl ich skeptisch bin), daß diese Schrift von Ullmann, im besten Sinne eine Gelegenheitschrift, die Leserinnen und Leser der Zukunft findet, dank denen nur Zukunft Aufklärung gemeinsam betrieben und erkämpft werden kann. Daß dieses Buch bislang ein so geringes Echo gefunden hat, ehrt das Werk in seinem unerhörten Charakter! Wer sich jedoch darauf einläßt, der wird wahrlich reich beschenkt und muß sich seiner- bzw. ihrerseits Gedanken machen, ob er genügend an der "Zukunft Aufklärung" teilhat. Es geht hier um ein europäisches Erbe, welches in diesen Tagen von allzu vielen Kräften leichtfertig und gedankenlos aufgegeben, ja verschleudert wird. Diese unhaltbaren Zustände zum Stoppen zu bringen, sind alle LeserInnen dieses Werkes aufgerufen. Was man früher den Generälen nicht überlassen konnte, sollte man nunmehr nicht mehr solchen Politikern oder Wissenschaftlern als "Ingenieuren der Seele" (Stalin) überlassen. Es gibt auch andere Politiker und Wissenschaftler. Dafür stehe für uns der Name Wolfgang Ullmann!

 

Wolfgang Ullmann Für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder

Daran wird man sich gewöhnen müssen: Die Perspektive des Runden Tisches ist nicht mehr aus der Welt zu schaffen, auch nicht aus der Welt, in der die Linearperspektive der Parteien und Parlamente mit ihrem System Rechts-Links-Mitte herrscht. Es ist eine Linearperspektive. Aus dem Blickpunkt eines Präsidiums, eines Machtzentrums, blickt man auf die Interessengruppen und Tendenzen, die von diesem Zentrum rechts angezogen, links abgestoßen und in der Mitte neutralisiert werden. So haftet dieser Rechts-Links-Perspektive immer ein hohes Maß an Relativität an. Das konnte man gerade in der DDR lernen, wo eine sich als "links" proklamierende Partei mit allen Eigenschaften der krassesten Rechten herrschte.
Ganz anders die umgekehrte Perspektive des Runden Tisches, in der keine Seite der anderen den Rücken zukehrt, weil sie alle auf ein unsichtbares Zentrum orientiert sind: die nicht mit Gewalt und Konkurrenz erzwingbare, sondern nur im gemeinsamen Diskurs und gemeinsamer Entscheidung realisierbare Zukunft. Der Runde Tisch hat uns diese Zirkularperspektive gelehrt. Er tat dies durch den auf ihm lastenden Zwang zum Konsens, durch ideologieunabhängige Diskussion und durch die ständig wirksame Beweispflicht für seine Entscheidungsfähigkeit.
Dieser Perspektive entspricht, daß am Runden Tisch nicht nur Parteien sitzen konnten, sondern all jene, die sich auch darin von unserer politischen Tradition unterschieden, daß man für sie die Verlegenheitsbezeichnung "Gruppierungen" einführen mußte. Ich will hier nur drei dieser Gruppierungen zitieren. Die Auswahl ist zufällig und ganz subjektiv, allein davon bestimmt, daß ich diesen drei Gruppen in je besonderer Weise nahestehe.
Die "Initiative Frieden und Menschenrechte"- schon mit ihrem Namen eine Erweiterung des Begriffes Frieden, basierend auf der Erkenntnis, daß Friede mehr ist als ein Zustand, in dem kein Krieg herrscht. Der Name der Initiative besagt demgegenüber, daß Friede so etwas wie Engagement ist, Engagement für alle Menschenrechte, deren Außerkraftsetzung Unfrieden und Krieg bedeutet. Das "Neue Forum"- abermals eine Begriffserweiterung, diesmal die des Begriffes der "Öffentlichkeit", formuliert unter den Bedingungen diktatorischer Scheinöffentlichkeit. Neues Forum, das meint eine Öffentlichkeit, die nur dadurch zustande kommen kann, daß eine bestehende Öffentlichkeit um einen neuen Raum erweitert wird. "Demokratie Jetzt"- hier wird Demokratie nicht als gewährte Freiheit und unbegrenzte Pluralität der offenen Gesellschaft verstanden. Vielmehr meint dieser Name datierte Demokratie, datiert dadurch, daß sie in einer ganz konkreten historischen Situation initiiert und praktiziert werden mußte, so wie wir es im September/Oktober 1989 taten, als wir nicht die Behörden um eine Zulassung angingen, sondern uns einfach das Recht nahmen, als Bürgerbewegung aktiv und politisch zu handeln.
Vielerorts werden Gruppen wie die genannten heute als marginal angesehen, von ihren Freunden mit Bedauern, von den Gegnern je nach deren Art mit Genugtuung oder Hohn.
Von den Zahlen her sind solche Einschätzungen sicherlich richtig. Mir aber liegt daran, auf etwas aufmerksam zu machen, was diese Gruppierungen keineswegs erfolgreicher aussehen läßt, was aber bewirken wird, daß diese DDR-Gruppierungen nicht wieder zu tilgende Spuren in der politischen Landschaft hinterlassen werden. Ich spreche von der gerade für die DDR-Opposition typischen hervorragenden Rolle der an der Revolution mitwirkenden Frauen. Ohne Bärbel Bohley ist das "Neue Forum" in der oben charakterisierten Weise undenkbar. Ohne Ulrike Poppe wäre "Demokratie Jetzt" eine vielleicht intellektuell profilierte Elite, aber keine Bürgerbewegung geworden. Ohne Vera Wollenberger wäre der Zusammenhang zwischen der Rosa-Luxemburg-Demo von 1988 und dem Herbst 1989 wohl schon weithin vergessen. Ohne die Hartnäckigkeit von Tatjana Böhm wäre die Sozialcharta nicht zustande gekommen, und ohne die Härte von Ingrid Köppe hätte es wohl nie zu jenem spektakulären Ultimatum des Runden Tisches am 8. Januar 199O kommen können, das die Regierung Modrow zum Einlenken bewog und die Auflösung des Amtes für nationale Sicherheit entschied.
Wofür stehen diese Frauen? Sie stehen nicht für große machtpolitische Erfolge, sondern auch für eine bestimmte Art von Bedeutungswandel, dem die Worte "friedlich" und "demokratisch" unterzogen wurden. In der Revolution, in der diese Frauen so Entscheidendes mitbewirkten, hieß "friedlich" und "demokratisch" immer auch "menschlich", wobei "friedlich" die Menschlichkeit der Gewaltlosigkeit, "demokratisch" die Menschlichkeit als Gemeinsamkeit definierte. Allein der Gegenwart dieser Frauen war es zu danken, daß bei der Berliner Demonstration vom 4. November 1989 Kinder mitmarschieren konnten und dabei etwas erleben konnten, was sie wohl nie wieder vergessen können: Daß sich Erwachsene, Männer und Frauen, als Erwachsene beweisen, indem sie die höchste Autorität des Landes für sich in Anspruch nehmen.
Es ist wahrlich höchste Zeit, um aus solchen Erfahrungen Konsequenzen zu ziehen. Es verbindet die Überzeugung, daß solche Konsequenzen Verfassungsgrundsätze sein müssen, weil solche Grundsätze etwas mit Grundrechten zu tun haben, den Rechten der Frauen und Männer, der Kinder und denen kommender Generationen. Auch weil wir wollen, daß die Einheit, auf die die Deutschen in den verschiedenen deutschen Ländern zugehen, mit dem übereinstimmen soll, was wir wirklich sind, nicht aber mit dem, was wir gerne sein möchten. Ich gebe Leopold von Ranke recht: "Nicht dort ist unser Vaterland, wo es uns endlich einmal wohlergeht. Unser Vaterland ist vielmehr mit uns, in uns. Deutschland lebt in uns; wir stellen es dar, mögen wir wollen oder nicht, in jedem Lande, dahin wir uns verfügen, unter jeder Zone."
Wir stehen darum auch nicht unter dem Zwang, zwischen der demokratischen Losung "Wir sind das Volk" und dem nationalen Abgrenzungsruf "Wir sind ein Volk" zu unterscheiden. Sind wir das, was wir wirklich sind auf eine ehrliche Weise, dann wird nichts uns hindern, eins zu sein, in der Kraft zur freien politischen Entscheidung, eins in der Artikulationsfähigkeit und der Sprachkompetenz des Kommunizierens im Medium des Rechtes und eins in einer der Verwirklichung des Rechtes dienenden Politik.
Ich halte darum die Verfassungsgrundsätze des Runden Tisches nach wie vor für unabding-bar: Verfassungsgrundsätze, die davon ausgehen, daß die Bürgerrechte einzig und allein auf den Menschenrechten basieren und nicht auf Nationalität oder Abstammung. Die Menschenrechte sind nicht als ideale Normen sondern als Wirklichkeiten anzusehen, die unter wirksamen politischen Schutz gestellt werden müssen, so wie es die Verfassung des Runden Tisches durch die von ihr vorausgesetzte Einrichtung verschiedener parlamentarischer Menschenrechtsbeauftragten fordert. Demokratie muß in einem erweiterten Sinne verstanden werden, in einer Erweiterung, die unserer Erfahrung von vierzig Jahren Diktatur nach 12 Jahren einer ganz anders gearteten Diktatur Rechnung trägt. Eine Demokratie, die sich nicht reduzieren läßt auf die Regeln der parlamentarischen und der repräsentativen Demokratie. Das hängt damit zusammen, daß man Menschenrechte auch nicht repräsentieren kann, wenn man sie als Wirklichkeit betrachtet, Demokratie erweitert zur direkten, praktizierten, datierten Demokratie. Und ich weiß nicht, wie das ohne Bürgerbewegungen, ohne Bürgerbegehren und Bürgerentscheide möglich sein soll. Und ich betone, gerade in der gegenwärtigen Situation, daß der Weg zur deutschen Einheit nur als ein artikulierter demokratischer Prozeß durchlaufen werden kann, so wie es der Artikel 132 jenes Verfassungsentwurfes vorsieht. Denn dieser Bund deutscher Länder kann nur ein Staatswesen ganz neuen Typs sein.
Wie aber soll das Ziel dieses Weges aussehen? Ich will das nicht in einer abstrakten verfassungsrechtlichen Erörterung dartun, sondern eine Antwort versuchen, die durch eine Meinungsumfrage provoziert ist, die mir neulich zugeschickt wurde. Man stellte die Frage, welches Datum ich für einen künftigen Nationalfeiertag aller Deutschen vorschlage. Zur Auswahl standen der achte Mai, der siebzehnte Juni und der neunte November.
Für keines dieser drei Daten konnte ich mich so recht erwärmen. Denn den achten Mai kann man nur feiern, wenn man ihn als Tag der Befreiung ansieht. Aber das ist nicht einfach, eine Befreiung von einer Tyrannei zu feiern, die nicht aus eigenen Kräften stattgefunden hat, sondern die von außen, in Form eines Zusammenbruchs und einer militärischen Niederlage in Form einer bedingungslosen Kapitulation kommen mußte. Und der siebzehnte Juni? Gewiß gäbe es hier Anlaß genug, der ersten Erhebung gegen das SED-Regime und ihrer Opfer zu gedenken. Aber wird der siebzehnte Juni so schnell die Atmosphäre des Kalten Krieges verlieren, die diesen Feiertag in der Bundesrepublik immer begleitet hat?
Am meisten aber regt sich in mir der Widerspruch gegen den neunten November als neuen Nationalfeiertag. Denn einmal habe ich wenig Lust, den letzten großen Coup der SED als ein nationales Ereignis zu zelebrieren, und was noch schlimmer ist: Ich kann mich des Verdachtes nicht erwehren, daß die Begeisterung für den neunten November 1989 nur deshalb so groß ist, weil es mit der Hilfe diese Datums gelingen könnte, die unangenehmen Erinnerungen an den neunten November 1918 und den neunten November 1938 zu verdrängen.
Ich würde gerne den 4. November 1989 feiern. Aber er ist eine DDR-Erfahrung und ich weiß nicht, ob sie sich in die Bundesrepublik hinein vermitteln läßt. Der 4. November als Inbegriff dessen, was im Herbst 1989 an Umgestaltung und Revolution stattgefunden hat, ist nach meinem Dafürhalten immerhin das Programm eines künftigen Feiertages aller Deutschen in allen Ländern, wenn es ihnen denn gelingt, zu jener demokratischen Verfassung zu gelangen, die aus den deutschen Ländern einen Bund werden läßt, den Bund eines demokratisch verfaßten Deutschland, eine Republik freier deutscher Länder.

(1990)

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