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Michael Gormann-Thelen
Wolfgang Ullmanns
anzuzeigendes Buch halte ich für eines der wichtigsten Werke
der letzten Jahre. Dieses wird es auch auf einige Zukunft noch
bleiben. Es ist nämlich nicht nur im Inhalt sehr gewichtig,
darüber hinaus ist es ebenso anregend wie im besten Sinne,
so eines der wichtigsten Ullmannschen Schlüsselworte, grenzüberschreitend.
I
Leider haben es Autor und Verlag unterlassen, den Verfasser selbst
auch (auto-)biografisch vorzustellen. Wolfgang Ullmann als namentliches
geschichtliches Individuum hat jedoch eine Lebensgeschichte,
die für vorliegendes Werk und darüber hinaus von Interesse
wie Belang gewesen wäre! Angeboten hätte sich der sehr
schöne Text "Vertreibung aus dem Paradies biographische
Notizen" aus dem Band "Demokratie jetzt oder
nie!" (München 1990). Wolfgang Ullmanns Kindheits-,
Kriegs- und Studienjahre verlaufen von Gottleuba (geboren wurde
er 1929) über Dresden, dann West-Berlin, Göttingen
nach Berlin (DDR). Eine zweite Lebensbahn von Colmnitz, wo er
als Dorfpfarrer wirkte, über Naumburg nach Berlin (DDR),
wo er am "Sprachenkonvikt" lehrte, welches heute bezeichnenderweise
wieder nur Kirchliche Hochschule heißt. 1987 beteiligte
er sich an der Initiative "Absage an Praxis und Prinzip
der Abgrenzung". 1989 gehörte er zu den Mitbegründern
der Bürgerbewegung "Demokratie Jetzt". Von Dezember
1989 bis März 1990 war er deren Sprecher am Zentralen Runden
Tisch, den er ebenfalls mitinitiierte. Von Februar bis April
1990 war er Minister ohne Geschäftsbereich im Kabinett Modrow,
seit März desselben Jahres Abgeordneter der letzten Volkskammer
der DDR und seit April einer ihrer Vize-Präsidenten. Danach
wurde er für "Bündnis 90/Die Grünen"
zum Abgeordneten des ersten gesamtdeutschen Parlaments gewählt.
Nach Ablauf der Legislaturperiode 1994 ging er dann als Abgeordneter
ans Europäische Parlament in Straßburg und Brüssel.
Seine Lebensbahn läuft demzufolge zwei Mal vom Dorf in die
Welt ein Lebenslauf, an dem Jean Paul, einer der Lieblingsschriftsteller
Wolfgang Ullmanns, seine helle Freude hätte.
Seine Erfahrungen als mittätiges Mitglied der Bürgerbewegungen
am Ende der DDR sowie als bundesdeutscher Abgeordneter verdichtete
Ullmann in einem sehr konzisen wissenschaftlichen Beitrag zu
"Bürgerbewegungen und Parlament" für das
"Handbuch der Parlamentswissenschaft im technischen Zeitalter,
herausgegeben von Raban Graf von Westphalen (München 1994).
Auch dieser wichtige Beitrag hätte in den hier vorzustellenden
Band hineingehört, denn seine korporationsrechtlichen und
verfassungskonstitutiven Überlegungen zu den "Bürgerbewegungen"
und zum "Rundem Tisch" (Beitrag der polnischen Bürgerbewegungen
zu einer Demokratie, die zukünftig mehr Gehör ihren
Bürgern schenken werden muß, andererseits aber auch
gesellschaftliche Pflichten und Rechte beanspruchen wird dürfen)
bilden das systeminterne wie systemüberschreitende Herz
seines Buches zum Überkreuz von Aufklärung, Demokratie,
Geschichte und Politik. Leider fehlt noch ein von Ullmann stammendes
Kapitel zu seiner Tätigkeit in der vom Einigungsvertrag
auferlegten Verfassungskommission, die prüfen sollte, inwiefern
die Einigung Konsequenzen für die Verfassung selbst habe.
Diesem unrühmlichen Kapitel konservatver Abwehrpolitik gegen
bürgerlich-souveräne Prüfung von Geschichtstatsachen
machte Ullmann ein selbstbewußtes Ende, indem er als einziger
diese Kommission unter Protest verließ. Die Wunden, die
das herrschende Politikverständnis der politischen Klasse
der altwestdeutschen Republik Ullmann und der gesamten Bürgerbewegung
der DDR und ihrem Recht auf Geschichte schlug, sind an Ullmanns
Buch zu spüren. So ist es gewidmet der "Evangelischen
Brüdergemeine Berlin II, die unter ihrem damaligen Pfarrer
Heinz Küchler in ihrem Gemeindesaal vom 7. bis zum 22. Dezember
den Zentralen Runden Tisch der DDR beherbergt hat." Das
Buch selbst wurde auch von dem inzwischen "gesamtdeutschen"
Bonner Parlament ermöglicht, denn die einzelnen Stücke
dieses Buches verdanken sich einer von Heilkraft nicht abgekoppelten
Denklust, die in ihrem Gestus einer gewissen Ödnis der Bonner
Verhältnisse und ihrem eingeschliffenen Betrieb im Aufbegehren
abgerungen wurde.
II
ZUKUNFT AUFKLÄRUNG. Wer meine Meinung teilt, daß seit
der ,Wiedervereinigung' das geistige Klima der ,alten' Bundesrepublik,
die phantomartig immer noch vorherrschend ist, erschreckend unbeeindruckt
mit immer neuen Tiefenrekorden fast jedes Thema und Niveau unterbietet,
dem sei Ullmanns Buch nachdrücklichst empfohlen. Wie einige
wenige andere Bücher von Autoren auch, die der DDR entstammen,
beweist auch Ullmanns Buch, daß nach 1989 manches aus der
DDR testamentarisch in die neue Bundesrepublik eingebracht wurde,
was bis heute von den ,westorientierten' Intellektuellen bislang
verweigert wird, zur Kenntnis genommen zu werden. Diese Ignoranz
trägt ganz wesentlich zur Verleugnung, Verneinung und Verwerfung
(im Freudschen Sinne) der nach 1989 entstandenen neuen Wirklichkeiten
bei.
Ullmanns Buch verstößt insbesondere gegen ein altbundesrepublikanisches
Tabu oder stellt ein typisches intellektuelles Unvermögen
radikal in Frage. Ullmanns Buch nämlich artikuliert eine
Tradition wissenschaftlichen Denkens im Deutschland nach 1945,
welches einzig so in der DDR gelehrt, überliefert und weitergesagt
wurde. Paradoxerweise ist dies eine Tradition theologischen Denkens,
welches sich nicht seinen anderen Zwillingsdisziplinen Rechtswissenschaft
und Soziologie verweigert hat. Gerade diese Koppelung aber macht(e)
Ullmanns Buch bei der Intelligenz der alten BRD unmöglich.
Erst 1977 wurde diese Ignoranz durch die Entdeckung Eugen Rosenstock-Huessys
im Deutschen Herbst unterbrochen. Die Traditionen eines Denkens,
die nicht von ,Theologie' sich abspalten ließen, endeten
1940 mit den berühmten "Geschichtsphilosophischen Thesen"
von Walter Benjamin. Die Rezeption dieses Vermächtnisses
(ohne daß die Wissenschaften bislang zu ,evaluieren' vermöchten,
was Vermächtnis bedeutet!) unterliegt einer typischen west-deutschen
Paradoxie. Wofür sie immer wieder zitiert werden (z.B. für
die hehren Ziele echter Aufklärung oder eines nicht korrumpierten
Wissenschaftsdiskurses!), bilden sie den paradigmatischen Abwehrtext
gegen jene Traditionen, die glauben, nicht auf eine glaubwürdige
Theologie verzichten zu dürfen! Mit anderen Worten: dieser
Schlüsseltext fungiert innerhalb der bundesdeutschen Episteme
rein als "Deckerinnerung" (Freud) mit Entstellung in
sein Gegenteil!
Gegen diese unheilige Allianz von Ignoranten und Ignoranzien
bäumt sich Ullmann auf und macht dagegen auf einer in der
alten BRD unüblichen intelligenten wie stupenden Weise geltend:
"Allein aus der Kooperation von Rechtswissenschaft und Theologie
und Soziologie kann eine Form historischer Kritik gewonnen werden,
wie sie in den Geisteswissenschaften noch immer herrschenden
Litaraturkritik (auch auf dem jüngsten Stand) nie zu erreichen
vermag. Aber eben diese Koperation kann erst zustandekommen,
wenn die rechtsgeschichtliche und theologische und soziologische
Relevanz der historischen Verflechtung von Wahrheiten in der
Kategorie des Ökumenischen ihre volle methodische Kraft
entfaltet hat." (S. 113, vgl. auch S. 66 f.)
Dieser Imperativ notwendiger Kooperation dreier besonders verstandener,
nämlich orientiert-orientierender Wissenschaftsdiskurse
(denen eine noch beigesellt werden müßte: die der
"Ökodynamik" transklassischer Maschinen bzw. Medien
sich widmete. Daß Rosenstock-Huessys drei ökodynamischen
Grundsätze, wie er sie im "Unbezahlbaren Menschen"
1938/1956 formulierte, die drei thermodynamischen Grundsätze
der Physik aushebeln und auf einen bestimmten Platz in der Natur
einschränken, ist bislang noch gar nicht ausgeleuchtet worden)
beweist seine beabsichtigte (Un-)Wucht, wenn man dagegen sich
Rosenstock-Huessys ebenso dekonstruktionistische wie im besten
Sinne materialistische Herabstufung von Kants ,kategorischem
Imperativ' vor Augen führt und vor den beiden derzeitigen
Großtheorien aufrichtet, also vor Habermas von normativen
Verständigungsidealen geleiteten kommunikativen Vernunft,
die eine Art vierte "reine" Kritik im Sinne Kants zu
sein beansprucht, oder vor der sich einer Pseudorezeption mancher
naturwissenschaftlichen Theorien verdankenden Systemtheorie "sozialer
Systeme" Niklas Luhmanns, die Hegels Logik der "absoluten
Idee" zu beerben sich herausnimmt. So wie Habermas niemals
von der "Metakritik der reinen Vernunft" von Hamann,
Herder, Humboldts und Saussures sich ankränkeln ließ,
so Luhmanns Metasoziologie niemals von einer "Metanomik"
im Sinne Eugen Rosenstock-Huessys (vgl. "Out of Revolution",
1938). Beide Großtheorien, und dies ist wohl die Pointe
Rosenstocks, versagen vor der entscheidenden Wirklichkeit, nämlich
vor uns Laien, insoweit wir als Gesellschaftsmitglieder im Haushalt
der Geschichte der "Vollzahl der Zeiten" uns zusammentun,
bezeugen und bewähren müssen (Rosenstocks "Ichthys"-Kapitel
in der "Sprache des Menschengeschlechts" wäre
einmal einer wirklich radikalen Lektüre zu unterziehen).
Mit anderen Worten Rosenstocks Punkt ist immer wieder Geschichte
als inzwischen 3. Glaubensartikel! Was bestimmt unsere
Zukunft, wie reißt diese uns über uns heraus (nicht
hinaus)?!
III
Diese Frage treibt Ullmann an und an. Wie anders läßt
sich ein deutscher Professor aus seiner Stellung als "philosophe
salarié" (G. Ferrari) hinaus in die Welt katapultieren?
Natürlich es gibt den Prof. Biedenkopf, aber der verwechselt
seinen ehemaligen Professorenstand mit dem Sonnenkönig in
seiner sächsischen Variante Karls des Starken. Aber dies
ist die Farce. Ullmann wurde zum Politiker durch Nöte und
Umstände und geschichliche Erschütterungen gezwungen,
und entdekt darüber Traditionen einer Theologie und Kirchengeschichte
und Glaubenswirklichkeiten, die weit davon entfernt sind, uns
nichts mehr anzugehen, uns nicht mehr zu bestimmen! Als in diesen
Traditionen leider nur vom fernen Hörensagen Bewanderter,
fand ich Ullmanns theologisches Kreuz der Wirklichkeit, welches
mit dieser Theologie als (s)einem Kreuz selbst ernst macht, hochinteressant,
sogar hochvergnüglich, manchmal sehr wundersam. Dieses Kreuz
Ullmannscher Theologie findet sich ganz im Sinne Rosenstockscher
"grammatischer Methode" als zweites Buch im Buch. Im
Anhang dieser unprätentiöse Gestus täte
vielen gut! Die vier Kapitel lauten "Was ist Theologie?"
(1974), "Zur Dogmengeschichte der Schöpfungslehre"
(1981), "Barmen im dogmengeschichtlichen Zusammenhang"
(1984) und "Prolegomena zu einer Dogmengeschichte nach Harnack"
(1990). Diesen "Anhang" endecke der Leser oder die
Leserin lieber selbst. Mich verwundert bloß, daß
in seinen Bemerkungen zur Schöpfungslehre nichts über
"die zweite Schöpfung" steht, d.h. über den
Menschen als Schöpfer von Leben (die Problematik dessen,
was seit Foucault Bio-Macht heißt) und Tod! Ebenfalls
wundere ich mich, daß "Barmen" als dogmengeschichtliche
Zäsur der Theologie nicht detaillierter Hans Ehrenberg diskutiert.
Denn dies führte nach Barmen zur Geschichte nach 1942, zu
einer Theologie nach der Wannsee-Konferenz, also zu den Fragen,
die Auschwitz nicht nur der Theologie, sondern allen Menschen
auf der Erde stellt. Vor diesen Fragen hat nicht nur die Theologie
versagt...
"Zukunft Aufklärung" nannte Ullmann sein Buch.
Diese Parataxe allein schon ist eine Überraschung. Aufklärung
neben Zukunft zu stellen wagen, dies bricht mit allen ,deutschen'
Traditionen der ,Aufklärung', besser des Umgangs mit Aufklärung.
Denn es ist nicht zu vergessen, daß "Aufklärung"
in der deutschen Geschichte der letzten 200 Jahre der Kampfbegriff
aller Konservativen war. "Die verspätete Nation"
so Plessners berühmtes Buch, welches mit Rosenstocks
"Europäischen Revolutionen" auch noch nicht zusammengesehen
wurde (Plessner selbst mußte nach Groningen emigrieren)
und ihr Bildungs- oder Unbildungsbürgertum bekämpften
ihre eigene Unfähigkeit zur bürgerlichen Emanzipation
("Nation" im Sinne der europäischen Staaten des
19. Jhdt.) immer mit dem blinden und wütenden Affekt gegen
Aufklärung! Aufklärung war "natürlich"
immer antisemitisch getönt ("Die Wunde Heinrich Heine"
z.B. Karl Kraus, Freud (!) bis Adorno. Oder Ossietzky oder
Luxemburg...). Diesen deutschen Affekt gegen Aufklärung,
,reines' Schimpfwort, unterbach in seiner fatalen Geschichte
gerade das, was in der BRD "68" heißt! Nach 1989
nach der Einigung wagt sich der alte Diskurs der
Verächtlichung der Aufklärung wieder hervor! Diese
Geschichte spricht Ullmann leider nicht an, er setzt sie voraus.
Das hätte er aber vielleicht nicht so tun sollen, denn
als gewesener Literaturwissenschaftler sei mir diese Bemerkung
gestattet es gehört zum Ruhmesblatt der DDR-Wissenschaftsgeschichte,
daß die Arbeitsstelle Aufklärung der Akademie der
Wissenschaften die Fundamente der Erforschung der Aufklärung
legte. Nicht nur Germanisten (von Hans Mayer bis Fontius) waren
und sind an dieser Forschung beteiligt, auch die Romanistik seit
ihrer überragenden DDR-Gestalt Werner Krauss (wer kennt
in der alten BRD den Widerstandsroman "PLN", geschrieben
in der Haft!)?
IV
Das Buch "Zukunft Aufklärung. Eine Bestandsaufnahme
nach dem Ende der Utopien" zählt sieben Kapitel. Da
das erste und letzte Kapitel strukturiert sind wie ein Möbius-Band,
zudem seine Titelstichworte über Kreuz verbunden sind (doppelt
chiasmatisch, da jeweils zwei Begriffe auf der Basis der beiden
anderen fundiert und entgründet werden), nehme ich diese
beiden Kapitel als eines: "Aufklärung als Geschichte
und als politische Aufgabe" und "Bedingungen der Aufklärung
Bedingungen der Demokratie". Dieser seltsamen
auto-hetero-selbstbezüglichen Struktur ist es zu verdanken,
daß das, was das erste Kapitel an- oder vorgibt, im letzten,
das, was das letzte im Titel an- oder vorgibt im ersten Kapitel
artikuliert wird. Dies ist so seltsam nicht, denn dies macht
eine doppelte Probe auf, à la Rosenstock, nämlich
a) "Wir haben soviel Zukunft wie wir Vergangenheit haben";
und b) "Bewußtsein dreht die Reihenfolge um".
Ein drittes Rosenstocksches Axiom wendet die beiden Sätze
metanomisch aufeinander an.
Man könnte auch sagen, daß dieses in-sich-gedopptelte
erste Kapitel einer Bifurkation, einer Verzweigung sich verdankt.
Solche Bifurkation ist immer das Merkmal von solchen Umdrehungen,
denn diese Umdrehungen entfalten sich als eine Abfolge von sechs
Phasen einer Katastrophe. Diese Entphasenartige Faltung ist nicht
meine Erfindung, sie bildet die Entdeckung der Dynamik der "Europäischen
Revolutionen" von Eugen Rosenstock als eines sich selbst-organisierenden
Systems.
Dieses nannte Rosenstock-Huessy später die "Zirkumvolution"
der Europäischen Revolutionen. Leider kommt Ullmann auf
diese Dynamik nicht zu sprechen, obwohl er weiß (als Liebhaber
der Mathematik), daß Rosenstocks Entfaltung der Dynamik
der Europäischen Revolutionen Struktureigentümlichkeiten
folgt, die erst 40 Jahre später von den französischen
Mathematiker René Thom entdeckt und formuliert wurden!
Diese Phasendynamik ist eine Konfiguration dessen, was Ullmann
in seinem Buch "Zukunft durch Selbstorganisation" (S.
236 ff.) nennt, also "die Entdeckung von Diskontinuitäten
mitten in der uns wohlvertrauten Welt des Kontinuums". Es
ist typisch für die soziologische Mächtigkeit und Erheblichkeit
Rosenstockschen ,Denkens' (aber dies wäre einmal genau zu
spezifizieren), daß diese Erfahrungen von Diskontinuitäten
auf einer wissenschaftlichen Konferenz in dem Datum des Ausbruchs
der Ende der DDR artikuliert wurden. Dieses Ausbruchsdatum korreliert
als Enddatum einer Katastrophendynamik dem ersten Bruchpunkt
dieser Dynamik, der aber meistens unbemerkt bleibt. Diesen auslösenden
Erschütterungspunkt nennt Rosenstock "den wunden Punkt"
. Nicht zufällig wußten die Historiker mit solchen
'Begrifflichkeiten' nichts anzufangen! Es sind eben keine Begriffe,
sondern wirklich auch sprachlich "Knotenpunkte" (Hegel)
einer Erschütterung (vgl. auch den Aufsatz von Rosenstock
zu Guiseppe Ferrari im "Geheimnis der Universität").
Was will ich damit sagen? Ich gebe an Ullmann oder Rosenstock
einen Beleg dafür, daß sich beide jenseits der alten
unfruchtbaren Spaltung von Geistes- und Naturwissenschaften bewegen!
Das Gespür für die Unhaltbarkeit dieser neukantianischen
Dichotomie von Rickert brachte schon 1910 jene Versammlung von
Ehrenberg, Rosenzweig, Rosenstock u.a. in Baden-Baden zusammen,
ließ sie aber damals scheitern, weil sie die Erfahrung
einer "Totalerschütterung" (Rosenstock)
die des 1. Weltkrieges noch vor sich hatten. Sie ahnten
etwas, es gab eine Art taktiler Resonanz ihres Denkens
welches sie verwirrte und zu keiner Einigung kommen ließ.
Ullmann zieht aus dieser "Losung", die auch eine Metanomik
in nuce darstellt/artikuliert, ganz neue Einsichten/Ansprüche
für "das Ganze der Gesellschaft". Aber diese unterliegt
eben nicht mehr einem "Begriff der Totalität",
auch keiner "Illusion einer Homogenität".
Liest man "Zukunft Aufklärung" als solche Abfolge
von sechs Kapiteln, dann wiederholen, erweitern und problematisieren
sie auf zeitgenössischem Niveau die Reihenfolge der "Europäischen
Revolutionen", die gleichsam die Referenz-Wirklichkeit dieser
Lektüre bilden. Mit dem 2. Kapitel in Ullmannscher Zählung
entrollt sich dann aufs Neue die Abfolge der Revolution
aber aufgrund seiner anderen Erfahrung. Statt des Ausgangspunktes
"Papstrevolution" entfaltet das 1. Kapitel in meiner
Sicht unsere andere Erfahrung (die freilich von Rosenstock schon
formuliert wurde), nämlich "Die Weltrevolution von
Weltkrieg I und II". Danach folgt dann das die Reformation
ent-stellende Kapitel zu "Weltorganisation und Menschheitsperspektive".
Diese Doppel-Perspektive erweitert die von der Reformation inaugurierte
Doppelperspektive von "Militär" und "Zivil"
(die nachhaltige Wirkung der Reformation als "Europäische
Revolution" beweist sich in nichts nachdrücklicher
als im ,deutsche' "Staatsbürger in Uniform" und
der komplementären "Inneren Führung"!). Es
folgt ein Kapitel "Das Fiasko der Geisteswissenschften",
danach das ,französische' Kapitel "Die Atombombe oder
der Primat der Physik über die Politik". Atombombe
versus erster Soziologe Saint-Simon. Des weiteren "1968
Die Unfreiheit des politischen Willens und die Lähmung
der politischen Urteilskraft". Dreht man die Reihenfolge
um, ergibt sich als Ausblick die Perspektive von uns "vorwärtsgekehrten
Histroikern" der Zukunft: Zukunft/Vergangenheit "Aufklärung",
"1968" (dieses Mal kommt dadurch Ullmanns protestantische
und DDR-Perspektive zum Vorschein), "Die Atombombe oder
der Primat der Physik über die Politik", "Das
Fiasko der Geisteswissenschaften" (Stichwort ist nun Ullmanns
Abwehr und Widerlegung des "postmodernen Denkens",
"Die Weltrevolution von Weltkrieg I und II".
V
Mit dem ersten Satz schlägt Ullmann seinen Rosenstock an:
"Der Weltkrieg, die Einheit von Weltkrieg I und II, war
die Weltrevolution" (S. 68). Ullmann als unser Zeitgenosse
akzentuiert das Präteritum: "Es ist an dem, daß
wir über die Weltrevolution, das Schreckgespenst aller Konservativen
und Status-quo-Politiker dieses Jahrhunderts im Präteritum
sprechen müssen." Weshalb? "Die Einheit der beiden
Weltkriege war die Weltrevolution, die die Kommunisten erst herbeiführen
wollten, vor der die Mächte des Westens seit Beginn des
Kalten Krieges sich durch ihre Blockpolitik schützen wollten."
"Der Zusammenbruch des Ostblocks hat den Illusionismus dieses
Politikansatzes offenbar gemacht." Für die europäische
Macht wurde dies erst "offenbar" durch Sarajewo! Damit
fängt das Buch an: "Von Sarajewo nach Sarajewo führte
der Zyklus dieses unseren Jahrhunderts eines der blutigsten und
barbarischsten der bekannten Geschichte" (S. 9). "Offenbar",
aber für die europäische politische Klasse wider
Willen. Dieses ,wider Willen' vollendet diesen "Zyklus",
den man, wenn er in seinen Ausgangspunkt zurückkehrt, ohne
daß sich etwas verändert hätte, was das ,wider
Willen' markiert und offenbar macht, "Hysterisis-Zyklus"
nennt. Mythologisch ist dies das allen bekannte Bild von der
sich selbst fressenden Schlange, in Wirklichkeit bedeutet dies
eine Menschenschlächterei nach der anderen, die im Genozid
endet (der seit Beginn im Kopf war).
Ullmanns Zeuge für die Fatalität dieses Zyklus' ist
der Karl Kraus von "Die letzten Tage der Menschheit".
Seine Apokalypse des Johannes, "Die dritte Walpurgisnacht"
gehörte theologisch jener zur Seite gestellt!
Aber hat sich je ein Theologe mit diesen ,Heiligen Schriften'
befaßt!? Ullmann zieht dann die Konsquenzen aus der "Hochzeit
des Krieges und der Revolution" (1920) und den "europäischen
Revolutionen" (1931), denn er sagt nun, "daß
der Weltkrieg nicht nur das Verhältnis rückständiger
Staatsformen zur Gesellschaft, sondern auch die Strukturen der
Gesellschaft selbst verändert habe" (S. 76). Während
die heutigen akademischen Soziologen am liebsten "Gesellschaft"
entbehrlich machen möchten, insistiert Ullmann auf dieser
neuen millennaren Großmacht neben Staat (2. Jahrtausend)
und Kirche (1. Jahrtausend), die aber niemals eine ,Großmacht
im alten Sinne' sein wird.
Leider widmet Ullmann anderen Faktoren neben dem Weltkrieg noch
wenig Beachtung. Dazu hätte m.E. gehört, daß
er sich ausführlicher dem Insgesamt zugewandt hätte,
von dem der Weltkrieg als Weltrevolution nur ein Faktor (gewesen)
ist. Dieses Insgesamt möchte ich erst einmal probeweise
äonischen Epochenschoß nennen, in Anspielung auf Rosenstocks
Arbeit "Ein Sprachenschoß um 1200", in dem dieser
erneut das juristische Dokument Sachsenspiegel untersuchte.
Rosenstocks Redeweise geht hierbei wohl auf das lateinische "gremium"
von Augustinus zurück. Ein anderer Faktor wäre durch
den Namen Hiroshima bezeichnet, also durch die Erkenntnis, daß
die Technik es auf immer inzwischen geschafft hat, allem ein
unvordenkliches Ende vorstellbar zu machen. Tschernobyl steht
für den immer noch herrschenden Illusionismus. Wie kein
anderer hat diesen Faktor Günther Stern, der Sohn des Breslauer
Psychologen William Stern, bedacht. Daß Anders' Name nicht
fällt, obzwar er zweifelsohne ein Denker des "Zivilisationsbruches"
(Dan Diner) genannt werden kann, ist bedauerlich, denn in seinen
Aufklärungskapitel geht Ullmann den verschiedenen Klüften
dessen nach, die sich mit Anders zwischen "herstellen"
und "vorstellen" auftun (vgl. "Die Antiqiertheit
des Menschen").
Ullmann nennt den "mittlerweile lebensgefährlichen
Hiatus zwischen der geschichtlichen Wirklichkeit samt ihrer physischen
Wahrnehmung in Wissenschaft und Kunst und dem gesellschaftlichen
Bewußtsein von alledem" (S. 14) oder "den Bewußtseinshiat
gegenüber dem Erkenntnisstand heutiger Wissenschaft"
(S. 15) oder "den Hiat zwischen der emanzipierten und avancierten
Kunst" (S. 16). Als dritten Faktor dieses Epochenschoßes
nennte ich die von Ullmann nicht erwähnten Medien und als
letzten den globalisierter kapitalistischer Weltwirtschaft ohne
allen ,Systemgegensatz', was den mexikanischen Schriftsteller
und Diplomaten Carlos Fuentes dazu brachte, vor den Gefahren
"einer Theologie des Kapitalismus" zu warnen. Diese
vier Faktoren bildeten ein Kreuz der Wirklichkeit dieses äonischen
Epochenschoßes als Trajekt.
VI
Es gibt aber einen zweiten Epochenschoß als Präjekt.
Als dessen geschichtliche neue Faktoren nennte ich die Frauen
und ihren Eintritt in den Haushalt der Ökonomie der Vollzahl
der Zeiten. Rosenstock-Huessys Ahnungen zur "Tochter"
und dem "Töchterlichen" müßten weitergeführt
werden. Geht dies mit Rosenstock oder nur gegen ihn? Zum
anderen gleichsam als Widerlager für jenen entfesselten
globalen Kapitalismus die sozialen Dienste auf unserem Planeten
als sichtbare Gestalt der unsichtbaren "Ökodynamik"
der "Friedensbedingungen einer Weltwirtschaft". Rosenstock
spricht in seiner Denkschrift eindrücklich von "Mad
Economics or Polyglot Peace". Als weiterer Faktor, von dem
von Ullmann überhaupt nicht die Rede ist, tritt hinzu der
Faktor trans-klassischer (Bio-)Maschinen bis hin zur Entschlüsselung
des Menschengeschlechts des Genoms und ihre beiden Interfaces
zur zweiten biologischen Schöpfung und zu den Medien. Trans-klassisch
sind diese Maschinen, Techniken und Erzeugnisse darin, daß
sie eine neue Form von Technik herausbilden, bzw. schaffen (!),
der die Ökodynamik in ihrem Verhalten auf den verschiedensten
Niveaus in Bezug zu anderen System nicht mehr nur extern nachgeliefert
wird, sondern nunmehr intern variabel implementiert ist, sodaß
sie beginnen, nach und nach auf bestimmte Weise lernfähig
zu sein und diese Fähigkeit zu erweitern. Sie werden also
fähig sein, Lernen zu lernen zu erzeugen. Auf dieser Ebene
wird immer der Roboter mit der Schreckgestalt menschlicher Phantasie,
der Homunculus, verwechselt. Als lezten Faktor, den auch Ullmann
nennt, kommt die Gesellschaft selbst hinzu, also alle Kräfte,
Mächte sowie Namen und Träger der "Zukunft durch
Selbstorganisation", d.h. wir machen uns unsere geschichtlichen
Strukturen in unserem Umgang mit unseresgleichen und mit nicht-unseresgleichen
bewußt. Die Herausforderung Rosenstocks besteht an alle
darin, daß er unnachgiebig darauf beharrte und dies vorexerzierte
(in seinen Arbeitslagern, anderen Universitäten etc.), daß
es Strukturen, Verfahren, Erfahrungen und Assoziationen gebe,
bei denen uns die Naturwissenschaften überhaupt nicht hilfreich
sind, weil es hier um gesellschaftliche Optima und a potiori-Formen
sozialen Friedens gehe! Jahrhundertelang trugen die Geisteswissenschaften
ihren Hochmut vor sich her, ohne gemerkt zu haben, Ullmann erwähnt
dies Faktum, daß die Inquisition sich längst an ihre
Stelle gesetzt habe! Wie Luhmann auf einer allein pseudo-referentiellen
Ebene sich Ergebnisse sogenannter ,harter' Naturwissenschaften
glaubt aneignen zu können, bringt uns vor den drängenden
Aufgaben gesellschaftlichen Friedens überhaupt nicht weiter.
Die gegenwärtige Diskussion um die 'Zukunft' der Soziologie
als wissenschaftsinterne Debatte spricht deren reale Hilflosigkeiten
einmal mehr aus. Aber wie lange können wir uns den Luxus
solcher Scheindebatten leisten? Komplementär zu diesen ,Selbstvergewißerungen'
gibt es putschistische Aneingungen sozialer Dienste als Himmelsfahrtkommandos
(vgl. den Fall des "Friedensunternehmers" Fred Cuny!
"Süddeutsche Zeitung", vom 27./28. April 1996).
Zur Gesellschaft gehört seit Rosenstock die Wirklichkeit
des Menschengeschlechts.
Die Differenz beider ist Thema des 3. Kapitels "Weltorganisation
und Menschheitsperspektive". Hier erkundet Ullmann die Entstehungsbedingungen
der Charta der Vereinten Nationen als "gemeinsame Abwehrreaktion
gegen den von Hitler ausgelösten Angriff auf Frieden und
Menschenrecht" (S. 96). In diesem Punkte konzediert Ullmann
keine Schwachheiten: "Es ist darum unsere Pflicht, in unseren
ehtischen und politischen Grundüberzeugungen die Gewißheit
aufzunehmen, daß die Charta der UNO als die Entfaltung
dieser neuen menschheitlichen Spiritualität die einzig denkbare
Überlebensgrundlage einer von der Möglichkeit ihrer
Selbstauslöschung heimgesuchten Menschheit ist. Die hier
bestehende Alternativlosigkeit muß ein Eckstein aller politischen
Philosophie und eben darum auch aller politischen Bildung werden."
Probierstein für diese einzig denkbare Überlebensgrundlage
ist nicht zufällig die neue Hervorrufung des Staates Israel
gewesen, die noch nicht abgeschlossen ist! Hier radikalisiert
Ullmann, ohne auf Rosenstock einzugehen Hinweise von Rosenstock,
die niemand bislang wohl in ihrer Radikalität anerkannt
und weitergeführt hat (in "Die Sprache des Menschengeschlechts")
Nach dem Ende des Vatikanstaates 1870 (Dogma der Unfehlbarkeit!)
bezeugt nunmehr Israel die Einheit der Völkerwelt. Auch
Ullmann betont, Völker seien keine "geschichtsenthobene
Wesenheiten", sondern sie sind "kraft ihrer Sprache
geschichtliche Strukturen, die ihrerseits wieder anderen Strukturen
angehören" (S. 235). Ullmanns äußerst gehaltvolle
Ausführungen lese man selbst nach. Unter Aufnahme eines
Berichtes von Herder spricht Ullmann Israel die Rolle der "Friedensfrau
der um die UNO geeinten Nachkriegsvölkerwelt" (S. 106)
zu. Man lese dazu die grundlegende Diskussion um die universellen
Menschenrechte, in der Ullmann zusammen mit Hannah Arendt darauf
besteht, sie könnten als universelle nur eingeklagt werden,
wenn auch die soziale Basis im gleichen Atemzuge reklamiert werde,
die jene ebenso garantieren wie hervorbringen (S. 223 ff.). Mit
Rosenstock könnte man weitergehen, was übrigens in
gewissen Diskussionen in Israel schon früh eine Rolle spielte.
Rosenstock zeigte besonders in "Frankreich-Deutschland",
in einer Schrift, die niemand zu kennen scheint, wie die Geschichte
und die Struktur beider Länder in Gegenseitigkeit hervorgerufen
wurden. Die Selbstgeborenheit eines Staates ist ein barbarischer
Gründungsmythus, der mit seiner geschichtlichen Stiftung
per Gegenseitigkeits-Vorstellung nichts zu schaffen hat. Israel
hat eine doppelte Funktion. Zum einen die der Friedensfrau, andererseits
kann Israel diese Einheit der Völkerfamilie nur bezeugen
und bewähren, wenn es selbst sich als Gegenseitigkeits-Vorstellung
leben lernt diese Gegenseitigkeitsvorstellung Israels heißt
Palästina. Daß dies nicht ohne "schaffende Opfer",
nicht ohne "Blutzeugen" abgeht, zeigen die schrecklichen
Ermordungen von Sadat und jüngst von Rabin. Aber all diese
Zukünfte sind schon großartige Beispiele für
das, was Ullmann die "verschiedenen Durchdringungen von
Religion und Gesellschaft" nennt, wobei er gerade den christlichen
Ökumenen und Konzilien im Plural hinter die Ohren schreibt,
sie sollten sich endlich ihrer Vorgänger in dieser Frage
des "Frieden schaffen ohne Waffen" versichern, so vor
allem Nikolaus von Cusa und seinem Traktat "De pace fidei"
(Über den Frieden des Glaubens) oder Leibnizens "Theodicee"
oder eines Namens, den Ullmann des öfteren nennt, nämlich
Florenski (im gleichen Verlag erscheint übrigens die schöne
10-bändige Werkausgabe) und seine "Der Pfeiler und
die Grundfeste der Wahrheit". Es ist und bleibt ein Skandal,
daß die sogenannten christlichen Kirchen in Deutschland,
egal welcher Konfession, ihrer Vor- und Fürsprecher in dieser
Frage überhaupt nicht erinnern! Insbesondere die Evangelische
Kirche Deutschlands kennt nicht einmal die Namen! Aber es gab
Hans Ehrenbergs "Östliches Christentum" von 1925
und es gab Eugen Rosenstock-Huessy. Ullmann sagt völlig
zurecht, diese Durchdringung könne erst dann zustandekommen,
"wenn die rechtsgeschichtliche und theologische und soziologische
Relevanz der historischen Verflechtung von Wahrheiten in der
Kategorie des Ökumenischen ihre volle methodische Kraft
entfaltet hat" (S. 113).
Besteht dafür größere Hoffnung? Alles sieht danach
aus, als verschliefen die bundesdeutschen Institutionen diese
Aufgaben unserer "Zukunft Aufklärung". Deshalb
sollte man in dieser Verfassung nicht mehr auf sie bauen, stattdessen
vielmehr seine eigenen Kräfte an den verschiedensten Orten
zumTragen bringen. In diesem Sinne sind die Mitglieder, ja Sie
selbst, dazu aufgefordert. Als schlimmste rückwärts
ziehende Kraft macht Ullmann im nächsten Kapitel "Das
Fiasko der Geisteswissenschaften" den Agnostizismus aus.
"Längst [aber] hat Agnostizismus aufgehört, eine
Kennzeichnung derer zu sein, die keiner kirche und keiner Religion
angehören. Mittlerweile sind alle, die an jener grundsätzlichen
Verstörung im Verhältnis von Gesellschaft und Wissenschaften
aktiv oder passiv anteilhaben, seit Nietzsches Profezeiung der
Heraufkunft des Nihilismus sich darin rasch und durchschlagend
erfüllt hat, daß auch die Wissenschaften, weit entfernt
davon, die obersten Werte zu stabilisieren, deren Selbstentwertung
nach Kräften gefördert haben" (S. 114). Das Fiasko
besteht vor allem in der "Vernebelung der geschichtlichen
Wirklichkeit durch des-orientierende Wissenschaften, weit entfernt
davon, die obersten Werte zu stabilisieren, deren Selbstentwertung
nach Kräften gefördert haben" (ebda.). Selbst
Theologen dämmert langsam, daß die Kategorie der "Orientierung"
Grundlage einer neuen "theologischen Hermeneutik" werden
müssen. Dies wird gesagt, weil man den Briefwechsel zwischen
Rosenzweig und Rosenstock aus dem Jahre 1916 nie vorgestellt
bekam! "Orientierung" ist innerhalb des Wissenschaftsbetriebes
und seiner Diskurse eine Blindkategorie! Ullmann geht zwei Fällen
dieser Selbstentwertung auf glanzvollen Seiten nach. Hier stimmt
wirklich: In der Kürze liegt die Würze! Zum einen der
Selbstenthauptung Heideggers in seiner berüchtigten, aber
bis heute ange- und verhimmelten Rede vom 27. Mai 1933 über
"Die Selbstbehauptung der deutschen Universität".
Zum anderen reduziert er den Staatsrechtler aller vier Deutschen
Verfassungen der letzten 100 Jahre (Kaiserreich, Weimarer Republik,
Nationalsozialismus und Bundesrepublik Deutschland), Carl Schmitt,
auf die Wirklichkeit seiner Blütenträume. Er kann dies,
weil er eben auch die "schillernde Rolle" der Theolgie
"im Umkreis der juristischen Begründung des Primates
des Staates" (S. 150 ff.) kennt. Ullmanns Zorn richtet sich
gegen Wissenschaftler und Wissenschaften, die vermeinen, keinerlei
Imperativen der Zukunft, die auch sie orientieren, gehorchen
müßten! Die Perversion besteht darüber hinaus
darin, daß die Wissenschaften in zweiter Stufe oder
auf der Stufe eines zweiten Beobachters (Luhmann) vermeinen,
daraus ein positives Forschungs- und Erkenntnisprogramm machen
zu können, welches es gelte, oder welches sie vorgeben,
zu erkunden! Die LeserInnen gehen einmal dem ,Begriff' nach,
der die letzten 10 Jahre eine sagenhafte Karriere machte
dem der Kontingenz, der Kontingenzvbewältigung, sogar der
doppelten Kontingenz!
Konsquenz dieses Fiaskos ist "Die Atombombe oder der Primat
der Physik über die Politik". Vollkommen zurecht wird
von Ullmann die historische Usurpation (in der Folge der Französischen
Revolution durch den Energiephysiker Carnot, fügte ich hinzu)
des Primats der Politik durch die Physik in Abrede gestellt und
in ihren Folgen grimmig geschildert (insbes. S. 168). Alle Bündnisse
(in) der Politik "werden erst dann wieder [gesellschaftlichen]
Sinn und Inhalt bekommen, wenn wir [!!!] uns über die tatsächlichen
Primate [öffentliche!] Rechenschaft gegeben haben, unter
denen wir leben" (S. 168). Solche Erklärung der uns
bestimmenden und der von uns bestimmten "tatsächlichen
Primate" sind Komplementärwirklichkeiten zu dem, was
uns orientiert! Also unserer Zukunft! Dabei bringen die geliebtem
Grenzziehungen nichts. Eines ist gewiß, so Ullmann, solche
,einfachen' Formeln wie die von Freund und Feind bringen uns
nicht weiter, höchstens einen Schritt weiter in noch mehr
Gewalt und Haß. "Was sollen solche Grenzziehungen?"
angesichts der immer neuen technischen, medialen oder ,andersartigen'
"Grenzüberschreitungen" von heute? "Denn
die Grenzüberschreitung, der Qualitätssprung, der Paradigmenwechsel,
von dem wir hier handeln", so Ullmanns zentrale anstößige
Einsicht (S. 171), "ist eben nicht ein neuer Begriff von
Kriegsgegnern, eine neue Unterscheidung von Freund und Feind.
Es ist vielmehr jene Grenzübrschreitung, die den Unterschied
von Freund und Feind prinzipiell annulliert, und zwar dadurch,
daß sie beide untergehen läßt in der Liquidierung
aller Subjekte in einem niemals genau abgrenzbaren Wirken materieller
Gewalt." Darum kann Ullmann auch formulieren: "Primat
der Physik, das heißt politisch Dominanz
der Logistik in der Exekutive" (S. 173 und 171 Mitte). Mit
einem der postmodernen Denker gesagt: "Legitimation durch
Verfahren" (N. Luhmann, der Soziologe, der aus der Verwandlung
als Verwaltungsbeamter kam). Solche Teilung des Primats der Physik
hat den Genozid an den Juden, hat die IG-Farben zur Voraussetzung
(S. 175!). Der Medienkrieg von heute visualisiert allen augenfällig
die Erzeugung von Gewalt, die die unheilige Allianz von Physik
und Politik bewirkt bzw. deren Effekt diese Allianz ist.
Worum es in Wirklichkeit gehen sollte, spricht das nächste
Kapitel "1968 die Unfreiheit des politischen Willens
und die Lähmung der politischen Urteilskraft" an. Dieses
Kapitel dies gestatte man mir als einem der sogenannten
68er zu sagen sieht, so scharf es ihm möglich ist,
durch die Brille des DDR-Bürgers. Auf der einen Seite sagt
Ullmann sei "1968 diejenige Perspektive, in der allein eine
dem historischen Moment angemessene Deutung der Implosion des
kommunistischen
Blocks von 1989 möglich wird" (S. 180). Dies bestreite
ich kategorisch, denn der "historische Moment" 1968
ist nur ein Phasenmoment der Abfolge von Katastrophen, die zu
jener "Implosion" führten. Ullmann, der Liebhaber
der Naturwissenschaften (früher die Chemie, später
die Mathematik), kennt die Dynamik nichtstabiler Systeme zu gut,
als daß er einen solchen Satz aufrecht erhalten könnte,
denn jener "Moment" bedeutete nur den Null-Punkt jener
späteren "Implosion", was darin seine Richtigkeit
hat, daß auf diese Weise demonstriert wird, daß die
Katastrophen-dynamik seit 1945 in ihren Phasen unberücksichtgt
bliebe.
Selbst im Ostblock ist 1968 nur ein Moment, der des Prager Frühlings!
Ullmann hätte zeigen müssen, wie die Dynamik von "1968"
im Osten konjungiert mit der Dynamik im Westen. Dies waren zwei
distinkte Verläufe, die 1989 derart in Konjunktion gerieten,
daß sie für die eine Serie zur fatalen Implosion führten!
Aber von einem ,absoluten' Datum "1968" zu sprechen
bringt nicht viel. Zum Beispiel kann die Dynamik für die
beiden deutschen Staaten und ihre Gesellschaft darüber gar
nicht in Blick geraten. Es bedurfte bei mir Rosenstock, um nachträglich
verstehen zu können, weshalb "68er" wiewohl
höchst bezeichnend der ,falsche' Name war, ist und
sein wird in Bezug auf die ,deutsche Geschichte'. 68er
ist nämlich der französische Name des Ereignisses,
welches die französische Kriegs- und Nachkriegsordnung,
die sich im Namen und in der Person und der Politik de Gaulles
symbolisiert, zum Einsturz brachte. Dafür steht "der
rote Dany" nicht der grüne!!! In der Bundesrepublik
war es aber die Konjunktion eines barbarischen Lokalfeudalismus
(nämlich Persiens in der Gestalt des Schahs, der sein König-der-Königetum
dem Putsch seines Vaters, eines lokalen Generals, verdankt),
der sich in Westberlin austoben durfte, mit der westlichen Dynamik
der Abschaffung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts,
die im Tod des Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 ihren
Märtyrer fand. Die Märtyrer sind die Namenstifter einer
Hoch-Zeit, einer Epoche oder eines Zeitalters. Es gehört
zu den Fatalitäten deutscher Geschichte seit dem Blutsonntag
von 1848, daß statt des deutschen Datums 1967 das französische
Datum fälschlicherweise übernommen wurde. Für
(west)deutsche Geschichte müßte es also 1967 oder
67er heißen! Was der 2. Juni 1967 für die westdeutsche
Republik bedeutete, das bedeutete für die DDR-Geschichte
die Ausweisung Wolf Biermanns Ende 1976! Man müßte
einmal genauer danach forschen, ob nicht die Zeitenrichtung (in)
der Geschichte der beiden deutschen Staaten jeweils im reflektierten
Gegensinne verlief, um sich dann 1989 zu treffen. Aber dies ist
nur eine Vermutung.
Wiederholen die Kapitel in der Reihenfolge ab dem Kapitel zur
Weltrevolution die Reihenfolge der Europäischen Revolutionen
im Sinne Eugen Rosenstock-Huessys, so dreht sich einer zukunftsorientierten
Lektüre die Reihenfolge um, um mit diesem seltsamen Doppelkapitel
zur Aufklärung zu beginnen, wobei wegen der chiasmatischen
Verschlingung beider Aufklärungskapitel das zweite Kapitel
in dieser Leküre die trajektive Dimension, das erste Kapitel
zur Aufklärung die präjektive "Ditmension"
(J. Lacan), die der Zukunft ausübt.
VII
Auf die besondere Zwiefältelung der Kapitel 1 und 7 über
die Aufklärung habe ich schon aufmerksam zu machen versucht.
Gerade den ersten Teil zur "Aufklärung als Geschichte
und als politische Aufgabe" empfehle ich langsamer und aufmerksamer
Lektüre. Mich hat besonders getroffen, daß Ullmann,
wie niemand vor ihm für mich, die Ansprüche der kanonisch
gewordenen Schrift hat zurückweisen können, die am
Anfang der neuen Debatte zur Aufklärung steht, die aber
niemals die Ditmension der Zukunft hatte ansprechen können.
Diese wirkungsmächtige Schrift ist Adorno und Horkheimers
"Dialektik der Aufklärung", erstmals erschienen
noch in dem niederländischen Exilverlag Querido 1947. Adornos
und Horkheimers Traktat ist eines der schillerndsten europäischen
Traktate der Verzweiflung. Das nächste Traktat ähnlicher
Güte, freilich bis heute nicht ins Deutsche übersetzt,
ist Maurice Blanchots "Ecriture du dèsastre"
aus dem Jahre 1980. Traktat aus/der Verzweiflung müßte
man auch hier treffend übersetzen. Adorno/Horkheimer thematisieren
das Thema des Rückfalls der Aufklärung und des Fortschritts
in den Mythos und in die Barbarei. Die bekämpfte Aufklärung,
der altböse Feind ist völlig zurecht die lineare Fortschritts-Aufklärung,
die aber gerade durch den Faschismus auf alle Zeiten destruiert
war, ,auf Kosten' des europäischen Judentums. Ullmann bemerkt
völlig richtig, die von Adorno/Horkheimer denunzierte Dialektik
der Aufklärung als Entmythologisierung mache sich unmöglich
durch ihre Adoration des Unheils. Nach dem Ende des Nationalsozialismus
gesagt, kommt dies dem Verdikt über jede mögliche Zukunft
gleich. Gerade mit diesem Gestus beteiligt man sich an dem Unheil,
welches man perhorresziert! Ullmanns Bemerkungen zum de Sade-Kapitel
dieses Buches kann ich nicht teilen, ebenso nicht seine kurze
Diskussion Freuds, die an den deutschen Ralitäten vorbeigeht,
weil in Deutschland bis heute gerade unter Theologen und
Psychotherapeuten und Esoterikern C. G. Jung die Position
einnimmt, die Ullmann an Freud in Zwiefel ziehen möchte.
Nein, de Sade und Freud waren auf dem Gebiet des Unbewußten
und der Sexualität und der Gewalt die unnachsichtigsten
Vertreter der Überlebensgrundlage des Menschengeschlechts.
De Sade ist vom Diskurs der Wissenschaften in einem gesellschaftlichen
Sinne in Deutschland bis heute nicht rezipiert worden. Eines
der besten Bücher zu de Sade ist von Pierre Klossowski mit
dem wunderschönen Titel "Sade mein Nächster".
Ebenfalls ist niemals in Deutschland ein französischer Schriftsteller
angekommen, der wie kein anderer die Höllen des Krieges
durchschrieben hat: Louis-Ferdinand Céline. Berüchtigt
ist dieser auch für seinen antisemitischen Furor. Ullmann
hat Recht, daß das Kapitel über den Antisemitismus
einen Offenbarungseid dieser Denker darstellt. "Es macht
betroffen, wie wenig diese Dialektik der Aufklärung dem
Niveau des universalhistorischen Themas gerecht wird" (S.
64) In der Tat. Dazu lese man Céline und zwei Autoren,
die Ullmann auch nicht kennt, nämlich Antonin Artaud und
George Bataille. Dafür aber bietet Ullmann in diesem ersten
Kapitel eine unerhörte Reise durch die Äonen der Aufklärung
von Plato, über Origines gegen Kelsos, über Augustinus
bis hin zu Pascal und in unsere Tage immer am Leitfaden "universeller
Aufklärung im Sinne der Einheit von Erkenntnis und Ethik"
(S. 57). Man kann nur hoffen, daß Ullmann sich einmal die
Zeit nehmen könnte, die Skizze dieser Zukunft Aufklärung
durch die Zeiten zu konkretisieren und vielleicht noch um die
Beiträge zu erweitern, die das Judentum in Europa bis hin
zu Levinas, und über diesen hinaus, beigetragen hat (vgl.
auch die erwähnte Arbeit von Christoph Münz).
Ich kann nur
hoffen (obwohl ich skeptisch bin), daß diese Schrift von
Ullmann, im besten Sinne eine Gelegenheitschrift, die Leserinnen
und Leser der Zukunft findet, dank denen nur Zukunft Aufklärung
gemeinsam betrieben und erkämpft werden kann. Daß
dieses Buch bislang ein so geringes Echo gefunden hat, ehrt das
Werk in seinem unerhörten Charakter! Wer sich jedoch darauf
einläßt, der wird wahrlich reich beschenkt und muß
sich seiner- bzw. ihrerseits Gedanken machen, ob er genügend
an der "Zukunft Aufklärung" teilhat. Es geht hier
um ein europäisches Erbe, welches in diesen Tagen von allzu
vielen Kräften leichtfertig und gedankenlos aufgegeben,
ja verschleudert wird. Diese unhaltbaren Zustände zum Stoppen
zu bringen, sind alle LeserInnen dieses Werkes aufgerufen. Was
man früher den Generälen nicht überlassen konnte,
sollte man nunmehr nicht mehr solchen Politikern oder Wissenschaftlern
als "Ingenieuren der Seele" (Stalin) überlassen.
Es gibt auch andere Politiker und Wissenschaftler. Dafür
stehe für uns der Name Wolfgang Ullmann!
Wolfgang
Ullmann Für einen demokratisch verfaßten
Bund deutscher Länder
Daran wird man
sich gewöhnen müssen: Die Perspektive des Runden Tisches
ist nicht mehr aus der Welt zu schaffen, auch nicht aus der Welt,
in der die Linearperspektive der Parteien und Parlamente mit
ihrem System Rechts-Links-Mitte herrscht. Es ist eine Linearperspektive.
Aus dem Blickpunkt eines Präsidiums, eines Machtzentrums,
blickt man auf die Interessengruppen und Tendenzen, die von diesem
Zentrum rechts angezogen, links abgestoßen und in der Mitte
neutralisiert werden. So haftet dieser Rechts-Links-Perspektive
immer ein hohes Maß an Relativität an. Das konnte
man gerade in der DDR lernen, wo eine sich als "links"
proklamierende Partei mit allen Eigenschaften der krassesten
Rechten herrschte.
Ganz anders die umgekehrte Perspektive des Runden Tisches, in
der keine Seite der anderen den Rücken zukehrt, weil sie
alle auf ein unsichtbares Zentrum orientiert sind: die nicht
mit Gewalt und Konkurrenz erzwingbare, sondern nur im gemeinsamen
Diskurs und gemeinsamer Entscheidung realisierbare Zukunft. Der
Runde Tisch hat uns diese Zirkularperspektive gelehrt. Er tat
dies durch den auf ihm lastenden Zwang zum Konsens, durch ideologieunabhängige
Diskussion und durch die ständig wirksame Beweispflicht
für seine Entscheidungsfähigkeit.
Dieser Perspektive entspricht, daß am Runden Tisch nicht
nur Parteien sitzen konnten, sondern all jene, die sich auch
darin von unserer politischen Tradition unterschieden, daß
man für sie die Verlegenheitsbezeichnung "Gruppierungen"
einführen mußte. Ich will hier nur drei dieser Gruppierungen
zitieren. Die Auswahl ist zufällig und ganz subjektiv, allein
davon bestimmt, daß ich diesen drei Gruppen in je besonderer
Weise nahestehe.
Die "Initiative Frieden und Menschenrechte"- schon
mit ihrem Namen eine Erweiterung des Begriffes Frieden, basierend
auf der Erkenntnis, daß Friede mehr ist als ein Zustand,
in dem kein Krieg herrscht. Der Name der Initiative besagt demgegenüber,
daß Friede so etwas wie Engagement ist, Engagement für
alle Menschenrechte, deren Außerkraftsetzung Unfrieden
und Krieg bedeutet. Das "Neue Forum"- abermals eine
Begriffserweiterung, diesmal die des Begriffes der "Öffentlichkeit",
formuliert unter den Bedingungen diktatorischer Scheinöffentlichkeit.
Neues Forum, das meint eine Öffentlichkeit, die nur dadurch
zustande kommen kann, daß eine bestehende Öffentlichkeit
um einen neuen Raum erweitert wird. "Demokratie Jetzt"-
hier wird Demokratie nicht als gewährte Freiheit und unbegrenzte
Pluralität der offenen Gesellschaft verstanden. Vielmehr
meint dieser Name datierte Demokratie, datiert dadurch, daß
sie in einer ganz konkreten historischen Situation initiiert
und praktiziert werden mußte, so wie wir es im September/Oktober
1989 taten, als wir nicht die Behörden um eine Zulassung
angingen, sondern uns einfach das Recht nahmen, als Bürgerbewegung
aktiv und politisch zu handeln.
Vielerorts werden Gruppen wie die genannten heute als marginal
angesehen, von ihren Freunden mit Bedauern, von den Gegnern je
nach deren Art mit Genugtuung oder Hohn.
Von den Zahlen her sind solche Einschätzungen sicherlich
richtig. Mir aber liegt daran, auf etwas aufmerksam zu machen,
was diese Gruppierungen keineswegs erfolgreicher aussehen läßt,
was aber bewirken wird, daß diese DDR-Gruppierungen nicht
wieder zu tilgende Spuren in der politischen Landschaft hinterlassen
werden. Ich spreche von der gerade für die DDR-Opposition
typischen hervorragenden Rolle der an der Revolution mitwirkenden
Frauen. Ohne Bärbel Bohley ist das "Neue Forum"
in der oben charakterisierten Weise undenkbar. Ohne Ulrike Poppe
wäre "Demokratie Jetzt" eine vielleicht intellektuell
profilierte Elite, aber keine Bürgerbewegung geworden. Ohne
Vera Wollenberger wäre der Zusammenhang zwischen der Rosa-Luxemburg-Demo
von 1988 und dem Herbst 1989 wohl schon weithin vergessen. Ohne
die Hartnäckigkeit von Tatjana Böhm wäre die Sozialcharta
nicht zustande gekommen, und ohne die Härte von Ingrid Köppe
hätte es wohl nie zu jenem spektakulären Ultimatum
des Runden Tisches am 8. Januar 199O kommen können, das
die Regierung Modrow zum Einlenken bewog und die Auflösung
des Amtes für nationale Sicherheit entschied.
Wofür stehen diese Frauen? Sie stehen nicht für große
machtpolitische Erfolge, sondern auch für eine bestimmte
Art von Bedeutungswandel, dem die Worte "friedlich"
und "demokratisch" unterzogen wurden. In der Revolution,
in der diese Frauen so Entscheidendes mitbewirkten, hieß
"friedlich" und "demokratisch" immer auch
"menschlich", wobei "friedlich" die Menschlichkeit
der Gewaltlosigkeit, "demokratisch" die Menschlichkeit
als Gemeinsamkeit definierte. Allein der Gegenwart dieser Frauen
war es zu danken, daß bei der Berliner Demonstration vom
4. November 1989 Kinder mitmarschieren konnten und dabei etwas
erleben konnten, was sie wohl nie wieder vergessen können:
Daß sich Erwachsene, Männer und Frauen, als Erwachsene
beweisen, indem sie die höchste Autorität des Landes
für sich in Anspruch nehmen.
Es ist wahrlich höchste Zeit, um aus solchen Erfahrungen
Konsequenzen zu ziehen. Es verbindet die Überzeugung, daß
solche Konsequenzen Verfassungsgrundsätze sein müssen,
weil solche Grundsätze etwas mit Grundrechten zu tun haben,
den Rechten der Frauen und Männer, der Kinder und denen
kommender Generationen. Auch weil wir wollen, daß die Einheit,
auf die die Deutschen in den verschiedenen deutschen Ländern
zugehen, mit dem übereinstimmen soll, was wir wirklich sind,
nicht aber mit dem, was wir gerne sein möchten. Ich gebe
Leopold von Ranke recht: "Nicht dort ist unser Vaterland,
wo es uns endlich einmal wohlergeht. Unser Vaterland ist vielmehr
mit uns, in uns. Deutschland lebt in uns; wir stellen es dar,
mögen wir wollen oder nicht, in jedem Lande, dahin wir uns
verfügen, unter jeder Zone."
Wir stehen darum auch nicht unter dem Zwang, zwischen der demokratischen
Losung "Wir sind das Volk" und dem nationalen Abgrenzungsruf
"Wir sind ein Volk" zu unterscheiden. Sind wir das,
was wir wirklich sind auf eine ehrliche Weise, dann wird nichts
uns hindern, eins zu sein, in der Kraft zur freien politischen
Entscheidung, eins in der Artikulationsfähigkeit und der
Sprachkompetenz des Kommunizierens im Medium des Rechtes und
eins in einer der Verwirklichung des Rechtes dienenden Politik.
Ich halte darum die Verfassungsgrundsätze des Runden Tisches
nach wie vor für unabding-bar: Verfassungsgrundsätze,
die davon ausgehen, daß die Bürgerrechte einzig und
allein auf den Menschenrechten basieren und nicht auf Nationalität
oder Abstammung. Die Menschenrechte sind nicht als ideale Normen
sondern als Wirklichkeiten anzusehen, die unter wirksamen politischen
Schutz gestellt werden müssen, so wie es die Verfassung
des Runden Tisches durch die von ihr vorausgesetzte Einrichtung
verschiedener parlamentarischer Menschenrechtsbeauftragten fordert.
Demokratie muß in einem erweiterten Sinne verstanden werden,
in einer Erweiterung, die unserer Erfahrung von vierzig Jahren
Diktatur nach 12 Jahren einer ganz anders gearteten Diktatur
Rechnung trägt. Eine Demokratie, die sich nicht reduzieren
läßt auf die Regeln der parlamentarischen und der
repräsentativen Demokratie. Das hängt damit zusammen,
daß man Menschenrechte auch nicht repräsentieren kann,
wenn man sie als Wirklichkeit betrachtet, Demokratie erweitert
zur direkten, praktizierten, datierten Demokratie. Und ich weiß
nicht, wie das ohne Bürgerbewegungen, ohne Bürgerbegehren
und Bürgerentscheide möglich sein soll. Und ich betone,
gerade in der gegenwärtigen Situation, daß der Weg
zur deutschen Einheit nur als ein artikulierter demokratischer
Prozeß durchlaufen werden kann, so wie es der Artikel 132
jenes Verfassungsentwurfes vorsieht. Denn dieser Bund deutscher
Länder kann nur ein Staatswesen ganz neuen Typs sein.
Wie aber soll das Ziel dieses Weges aussehen? Ich will das nicht
in einer abstrakten verfassungsrechtlichen Erörterung dartun,
sondern eine Antwort versuchen, die durch eine Meinungsumfrage
provoziert ist, die mir neulich zugeschickt wurde. Man stellte
die Frage, welches Datum ich für einen künftigen Nationalfeiertag
aller Deutschen vorschlage. Zur Auswahl standen der achte Mai,
der siebzehnte Juni und der neunte November.
Für keines dieser drei Daten konnte ich mich so recht erwärmen.
Denn den achten Mai kann man nur feiern, wenn man ihn als Tag
der Befreiung ansieht. Aber das ist nicht einfach, eine Befreiung
von einer Tyrannei zu feiern, die nicht aus eigenen Kräften
stattgefunden hat, sondern die von außen, in Form eines
Zusammenbruchs und einer militärischen Niederlage in Form
einer bedingungslosen Kapitulation kommen mußte. Und der
siebzehnte Juni? Gewiß gäbe es hier Anlaß genug,
der ersten Erhebung gegen das SED-Regime und ihrer Opfer zu gedenken.
Aber wird der siebzehnte Juni so schnell die Atmosphäre
des Kalten Krieges verlieren, die diesen Feiertag in der Bundesrepublik
immer begleitet hat?
Am meisten aber regt sich in mir der Widerspruch gegen den neunten
November als neuen Nationalfeiertag. Denn einmal habe ich wenig
Lust, den letzten großen Coup der SED als ein nationales
Ereignis zu zelebrieren, und was noch schlimmer ist: Ich kann
mich des Verdachtes nicht erwehren, daß die Begeisterung
für den neunten November 1989 nur deshalb so groß
ist, weil es mit der Hilfe diese Datums gelingen könnte,
die unangenehmen Erinnerungen an den neunten November 1918 und
den neunten November 1938 zu verdrängen.
Ich würde gerne den 4. November 1989 feiern. Aber er ist
eine DDR-Erfahrung und ich weiß nicht, ob sie sich in die
Bundesrepublik hinein vermitteln läßt. Der 4. November
als Inbegriff dessen, was im Herbst 1989 an Umgestaltung und
Revolution stattgefunden hat, ist nach meinem Dafürhalten
immerhin das Programm eines künftigen Feiertages aller Deutschen
in allen Ländern, wenn es ihnen denn gelingt, zu jener demokratischen
Verfassung zu gelangen, die aus den deutschen Ländern einen
Bund werden läßt, den Bund eines demokratisch verfaßten
Deutschland, eine Republik freier deutscher Länder.
(1990)
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