annett gröschner

ÿbbotaprag.

heute.geschenke.schupo.

schimpfen.hetze.sprüche.

demonstrativ.sex.DDRbürg.

gthierkatt.

ausgewählte essays, fließ- & endnotentexte 1989-98

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

333+2 Seiten / Format 205 x 125 mm
Französische Broschur
Ê 16,90
ISBN 3-931337-33-2

 
 

Inhalt

Landschaft zwischen zwei Blicken
Eine Botanisiertrommel voller Germanisten
Drei Wege nach Trebbin
Verschiebbarer Mythos? Ein Hotel geht spazieren
Geschichte der SED, Abteilung Frauen. Eine Farce
Eine Reise nach Jerichow
Zur Geschichte des Wasserturmgeländes Prenzlauer Berg Vom Schreibtisch des Oberkommandierenden
Vom alltäglichen Umgang mit sogenannten schwierigen Texten oder Die Mutter schält Nudeln und steckt die Tomatensoße in Brand
Begegnung
Auf Arbeitsamt
Halteverbot wegen Gedenkveranstaltung. Die Stadt Magdeburg begeht den 50. Jahrestag ihrer Zerstörung "Wir haben unsere Kittel noch im Schrank hängen lassen" Die ehemalige Stieleisherstellerin Margot Siedow erzählt
Von Moskau zu Fuß nach Berlin
Den Großonkel ausgraben. Eine Reise ins Oderbruch
Ich mal mir was aus Magdeburg
"Wie gehts, Ihr Ostsäcke?" Westberlinerinnen, Westberliner und Luftballons zu Besuch an der Mauer
Von der Aktivistin zur Arbeitslosen
Kleine sentimentale Reise
Kurzer Film über das Totsein
Trockenwohnen und Abhauen. Migration in Prenzlauer Berg
Im Naßbereich
"Diese Reinig hat ja nicht alle Tassen im Schrank" Die frühen Texte Christa Reinigs und ihre Rezeption in der DDR
Bonjour Mademoiselle
Zur Geschichte der Veteranenstraße
Du und ich. Kommentar zum vorjährigen Vereinigungserlebnis Inge Viett und der Sozialismus in den Farben Magdeburgs
Das Gedächtnis der Häuser
Betriebsausflug nach Heidelberg
Der Krieg meiner Mutter
Du vor du hinter mir. Korrespondenzen zwischen den Arbeiten Inge und Heiner Müllers
Sechs Ansätze, Pausen zu erwähnen

 

 

Die Berliner Autorin Annett Gröschner hat Essays aus den letzten zehn Jahren zu einem Buch zusammengestellt, das alles andere als eine trockene Wiederaufbereitung längst gelesener, doch vertreuter Gelegenheitstexte darstellt. So ist ein Buch entstanden, mit einem irritierenden Titel, das man zunächst einmal gern in die Hand nimmt. Der erste Essay beginnt auf der vorderen Klappe und fließt über Schmutztitel und Vakatseite; der Haupttitel auf der dritten Seite ist schon eingebettet in den zweiten Text. Das Buch fängt irgendwo vor dem Anfang an und endet erst auf der hinteren Außenklappe. Man muss das Inhaltsverzeichnis suchen, ehe man es auf der vorderen inneren Einbandseite entdeckt.
Diese Gestaltung verbindet die 33 Einzeltexte und präsentiert sie als Zeugnisse eines Erfahrungskontinuums. Die Essays beschäftigen sich mit ostdeutschen Nachwende-Realitäten, etwa mit dem massenhaften Abrutschen von Frauen in die Arbeitslosigkeit, mit den Anpassungssorgen der Germanisten-Kollegen, mit der Migration im Prenzlauer Berg, oder mit Ausflügen in die Provinz. Die Autorin fährt nach Wünsdorf in die verlassenen Kasernen der Roten Armee oder geht auf Spurensuche im Bahnhof von Bad Kleinen, wo der mutmaßliche Terrorist Wolfgang Grams erschossen wurde, und dann in die Spuren Uwe Johnsons nach Jerichow in Mecklenburg. Sie recherchiert die Geschichte von Straßen und Plätzen in Berlin und findet Geschichten zuhauf, die auf der Straße lagen und scheinbar nur darauf warteten, von der Autorin aufgeschrieben zu werden.
Aber mehr noch als die Themen zeichnet das Buch ein bestimmter Denkstil aus. Annett Gröschner hat einen ganz eigenen Stil der Recherche entwickelt. Vor allem in abgelegenen Textmengen, in Schüleraufsätzen, privaten Erinnerungen, in Werbebroschüren und Propagandaschriften, in Benimm- und Grundbüchern findet sie Material, das sie zurückhaltend gegen den Strich bürstet und neu kombiniert. In den Widersprüchen zwischen Gewolltem und nicht Eingelöstem findet sie zu eindrucksvollen Auskünften über gelebtes Leben.
Annett Gröschner ist eine Entdeckerin. Als geradezu sensationell für die Mentalitätsgeschichte der Ostdeutschen kann man die mit dem Buch "ich schlug meiner Mutter die brennenden Funken ab" vorgelegte Sammlung von Schüleraufsätzen aus dem Jahre 1946 bezeichnen, in der 12- bis 14-jährige über ihre Erlebnisse in den letzten Kriegstagen zu berichten hatten. Auch im vorliegenden Band legt sie, im etwas abgegriffenen archäologischen Bild gesprochen, Schichten frei, rekonstruiert sie Bausteine zu einer Sozialgeschichte ostdeutschen Lebens. Die Autorin besteht selbstbewusst auf ihre ostdeutschen Erfahrungen und befragt sie nach ihrer Werthaftigkeit. Nur manchmal scheint Wut auf, in den Texten vom Anfang der 90er Jahre, als die Autorin, wie viele andere, erneut und diesmal endgültig mit den Utopien der Wendezeit aufräumen musste.
Bei allen Texten liegt die gleiche Haltung zu Grunde: ein im klassischen Sinne aufklärerischer Ansatz der Realitätsbefragung. Im ersten Essay des Buches schreibt sie über den Fotografen Arwed Messmer einen Satz, der zugleich diese Haltung den vorgefundenen Realitäten gegenüber trifft: Der Fotograf nehme "sich zurück, ohne dass die Bilder mit dem Attribut ,objektiv' zu erfassen wären, er lässt die Landschaften sprechen und offenbart damit seine eigene Suche nach Spuren, die Ausdruck ambivalenter Visionen deutscher Geschichte sind".
Annett Gröschner dramatisiert nicht und kommentiert kaum. Lieber spürt sie die Ironie auf, die oft genug die Realität selbst liefert und sie lässt die Dinge für sich selbst sprechen. So kommen die Ambivalenzen zur Sprache, die das Leben und die Erfahrung der Menschen mit DDR-Vergangenheit kennzeichnen, werden reale Defizite und Utopie-Verlust benannt, ohne antiwestliches Ressentiment. Die Geschichte etwa der ehemaligen Stieleisherstellerin, von ihr selbst erzählt, ist tragisch und komisch und grotesk.
Das Buch ist eine Fundgrube. So sind Gröschners Texte solche, bei denen man auch die Fußnoten wirklich lesen sollte. Dort sind Schätze versteckt, die nur der gründliche Leser hebt. Die Fußnoten sind kein postmodernes Spiel, und dennoch verleihen sie den Texten, ganz nach dem Vorbild der großen Text-Spiel-Entwürfe, eine weitere und eigenartige Dimension.

Peter Böthig


Hinter dem unaussprechlichen Titel verbirgt sich nicht nur eine missglückte Textkonvertierung, sondern ein ungewöhnliches Archiv deutsch-deutscher Zeitgeschichte. Der kleine aber feine Berliner KONTEXTverlag wagt, was für Suhrkamp unmöglich wäre: Das Buchinnere nach Außen zu kehren und Provisorisches herauszustellen. So erhält, wer das Buch in Händen hält, nebenbei gleich noch eine kleine Einführung in den Prozess des Büchermachens: Schmutztitel, Vakatseite, Impressum werden erklärt und sozusagen im Vorstadium abgedruckt. Die avantgardistische Geste lässt sich durchaus als gegenkulturelles Statement lesen: Der herrschenden Dominanz der Bilder und des Häppchenjournalismus wird Widerstand entgegengesetzt. Die Lektüre wird statt erleichtert zusätzlich erschwert, die "Fließtexte" sind sperrig und verweigern sich dem schnellen Überfliegen. Hier wird auf LeserInnen gesetzt, die bereit sind, sich intensiv einzulassen.
Die Texte, zu denen man sich erst vorarbeiten muss, halten eine solche Verfremdung aus. Die dokumentarische Prosa Annett Gröschners ist so dicht und vielschichtig, dass man auf geologische Termini zurückgreifen muss, um ihre originäre Schreibweise charakterisieren zu können. Gröschner gräbt und bohrt und schichtet um, dass es eine Freude ist. Ob eine Eisherstellerin porträtiert wird oder die Kleinstadt Jericho, ob der Abzug der Roten Armee kommentiert oder die Geschichte der Gleimstrasse, der Veteranenstrasse oder des Wasserturms im Prenzlauer Berg erzählt wird, die Autorin legt Schichten frei, von denen man gar nicht ahnte, dass sie existieren.
Dabei artet die Recherche (trotz der vielen Fussnoten) nie in Bildungshuberei aus, wie nebenbei wird eine Vielfalt an historischen Quellen eingeflochten, mit beeindruckender Leichtigkeit verschränken sich aktuelle zeitgenössische Vorgänge mit unterschiedlichen geschichtlichen Ebenen. Auf der Reise ins Mecklenburgische z.B. durchdringen verschiedenste Perspektiven einander: die der Johnsonschen Romanfigur von 1931 steht neben der ihres Autors in den 70er Jahren, die des RAF-Mitglieds Birgit Hogefeld 1993 neben derjenigen der Reisenden, die sich wiederum von Kindheitserinnerungen eingeholt sieht.
Schriftliche, landschaftliche, städtebauliche Zeichen der Gegenwart liest die Archäologin des Alltags als Palimpsest, als Fragment vielfacher Überschreibungen, dessen Subtext noch freizulegen ist, nicht zuletzt um Gegenwärtiges zu verstehen. Dazu sind Spuren zu sichern und Strukturen zu rekonstruieren, fehlende Glieder manchmal auch durch Spekulationen über mögliche Zusammenhänge zu ersetzen. Nie behauptet sie, etwas wäre genau so geschehen wie sie es erzählt, aber: so hätte es sein können...
Ein solcher Erzählstandort der beteiligten Chronistin weist auf Verwandtschaften hin, nicht zufällig widmet sich ein Essay Uwe Johnson. Die Leichtigkeit der dokumentarischen Prosa ergibt sich aus dem Humor der Autorin, die einen Blick für Skurriles und Banales hat, Schäbiges und Schwäche nicht denunziert und Stärke nicht glorifiziert. Die Abwesenheit von Pathos ermöglicht, auch über bewegende Momente zu schreiben wie z.B. den letzten Arbeitstag der Margot Siedow nach dreissig Jahren in ein und demselben DDR-Betrieb. Annett Gröschner guckt immer genau da hin, wo der erste schnelle Blick abgleiten würde: auf das überklebte Ortsschild, die geflickte Jacke, die Lücke im Adressbuch. Wenn sie den Dolmetscher beschreibt, der russische und deutsche Soldaten 1995 bei gemeinsamen und medienwirksamen Ausgrabungen im Oderbruch begleiten soll, so heisst es: "Er ist hier für die Kommunikation zuständig. Aber es sind nicht nur die fehlenden Sprachkenntnisse, die kein Gespräch aufkommen lassen." "Hier soll ein Schlußstrich unter die Geschichte gezogen werden. Die Summe unter dem Strich ist unbekannt. Weil hier der Rest liegt." Ein Satz Heiner Müllers kommt ihr in den Sinn und ruckt seltsam konkret ins Realgeschehen ein: "Die Befreiung der Toten findet in der Zeitlupe statt."
Wo die Banalität des Alltags zu zynischen oder sarkastischen Sätzen verleiten könnte, lässt die Autorin Dokumente und Archivmaterialien sprechen: Grenzakten, Spruchbänder, Betriebsanweisungen, Schreibtischkalender, Merkblätter für Arbeitslose, Speisekarten, Adress-, Grund- und Totenbücher. Die literarische Historikerin hütet sich vor Verklärung und Moralisieren, stattdessen ruft sie Erinnerungen auf: Das Verschwinden sowjetischer Kulturoffiziere in Stalins Lagern, den Lärmkrieg zwischen dem Westberliner "Studio am Stacheldraht" und dem Ostberliner "Studio 13. August" im September 1961, die vergessene Autorin Christa Reinig, den Zweiklassen-Abzug der Alliierten 1994.
Die scheinbar zufällige assoziative Aneinanderreihung von Beobachtungen, Erinnerungen und recherchierten Fakten hat Methode. Personen, Häuser, Strassen bekommen ein Gesicht.
"Die Häuser allein erzählen Geschichten. Es sind Klopfzeichen aus einer vergangenen Zeit, die nur aufmerksame Betrachter zu deuten wissen." Annett Gröschner lässt BewohnerInnen der Berliner Gleimstrasse zu Wort kommen, befragt Frauen in Trebbin und Magdeburg oder den Bauleiter eines zum Hotel gewordenen Schlosses in Thüringen.
Die essayistischen Reportagen und literarischen Porträts taugen selbst als Dokumente der Zeitgeschichte, manche waren zwischen 1990 und 1993 in aufregenden Nachwendepublikationen wie "die andere", "Ypsilon" oder später "Sklaven" zu lesen. Alles Zeitschriften, die inzwischen auch schon Fussnoten zu ihrer Erklärung brauchen. So ist die Beobachterin bei aller Zurückhaltung doch stets präsent und in ihren Texten aufzufinden. Selbstbewusst, neugierig, sachlich, verspielt, selbstironisch und das eine oder andere Mal auch auf angenehme Weise sentimental.
"Und die Wehmut hat ihre Gründe".

Birgit Dahlke

 

Das Buch wurde 1999 von Börsenverein des deutschen Buchhandels zum schönsten Buch des Jahres gekürt. Das mag am schlichten Grauweiss des Einbands liegen, an der dicken griffigen riffeligen Pappe und vor allem, vielleicht?, daran, dass dieses Buch sofort beginnt: keine Schmutztitel und wie all das, was an Seiten kommt, bevor der Text beginnt, in der Verlagsfachsprache heißt - was übrigens beim Lesen zu erfahren ist. Auch alles andere, z.B. die Inhaltsübersicht oder wo die Autorin ihre Texte bereits veröffentlicht hat, sind ganz korrekt vorhanden und doch unerwartet zu finden. Da, wo sonst auf dem Klappentext viel zu wenig Information über Autorin oder Autor geboten wird oder Pressezitate zu Werbezwecken aneinandergereiht stehen, da sind wir schon mitten im Buch, in einem Text - über einen Fotografen, Arwed Messmer, der Landschaft - die Landschaft der Ex-DDR - zwischen zwei Blicken sieht:
"So wie auf den Fotos wird man sie, kehrte man an den Ort der Aufnahme zurück, nicht mehr wiederfinden. Es sind Orte an denen die alten Losungen schon abmontiert sind und die neuen bunten Werbeflächen die kaputten Wände und Schuttplätze noch nicht verdecken. Die Sicht ist für diesen kurzen Zeitabschnitt frei. Aber der Abbau hat begonnen, Zäune sind eingerissen, Mauern abgetragen, Glas zerbrochen."
Nicht umsonst mag dieser Text am Anfang stehen: Annett Gröschners Beschreibung dieser Fotos, eigentlich ein Erfassen der Intention des Fotografen, spiegelt ihr eigenes Vorgehen - Kartographie eines Niemandslands zwischen zwei Staaten, zwei politischen Systemen, zwei Zeiten - BRDDR: Landschaften der Erinnerung, der Gefühle, der vergessenen Orte und Gradmesser der Veränderung. Gröschner schreibt mit klarem Blick und oft lakonischer Sprache, mit Ironie und Empathie, vor allem aber mit unglaublicher historischer Präzision, die sie Kleinarbeit in Archiven verdankt. Und so lernen wir das kennen, was auch mal die DDR war - auch wenn es sich auf Magdeburg beschränkt und auf das, was wir für Berlin halten, nun die Hauptstadt genannt, so wie's zu DDR Zeiten auch üblich war. Annett Gröschner erzählt die Geschichte einer Straße anhand der Grundbücher, verfolgt die vergeblichen Wanderungen und Wandlungen des Hotels Esplanade am Potsdamer Platz, entmythologisiert den Oderbruch - nicht nur Ort eines nahezu showmäßigen Überflutungseinsatzes gesamtdeutscher Soldaten, sondern auch Ort von Massengräbern aus dem 2. Weltkrieg, in denen Deutsche und Russen liegen, deren Leichen, Knochen, Uniformfetzen von russischen und deutschen Soldaten ausgegraben, als Deutsche und Russen identifiziert, um auf korrekten Friedhöfen beigesetzt zu werden. Annett Gröschner fährt in kleine Städtchen im Umfeld des großen Berlin - zum Beispiel nach Wünsdorf, eine Stadt, die schon vor dem ersten Weltkrieg ausschließlich zu militärischen Zwecken gebaut wurde und diesen Zweck bis etwa 1994 erfüllte, als die letzten russischen Soldaten gegangen waren und ein Radio in einer leeren Kaserne plärrte, ein Ort, an dem wohl auch andere Rechnungen beglichen wurden:
"Ein paar Häuser weiter ... da ist das Blut bis an die Decke gespritzt und in der Ecke des Bettes liegt ein bräunlich verkrustetes Lakenknäuel. An den Wänden Bleistiftzahlen, wie man sie aus Krimis kennt. Ein Film wird hier nicht gedreht worden sein, sonst röche es nicht so süßlich. Die Wachleute zucken mit den Schultern, keine Ahnung, vielleicht Mafia oder so was.
Annett Gröschner erzählt aber nicht nur von Häusern, Straßen und Städten, sondern auch von Frauen - genauso vergessen und um die eigene Geschichte betrogen wie die Häuser, Straßen, Städte. Die "Geschichte der SED, Abteilung Frauen. Eine Farce" berichtet von Gründung und einheitssozialistisch-patriarchaler Vereinnahmung des Demokratischen Frauenbundes Deutschland. Annett Gröschner schreibt über Christa Reinig, eine hier wie dort und jetzt vergessene Schriftstellerin. Und schreibt über den Krieg ihrer Mutter, den Zweiten Weltkrieg, die Zerstörung Magdeburgs, die Haut der Großmutter vom Körper gelöst durch eine Phosphorbombe, im Garten verstreut: "die Haut gerettet, die Großmutter nicht". "Geboren am Ostkreuz" ist die Geschichte von Inge Müller, der ersten Frau des Dramatikers Heiner Müller, die sich lang schon umgebracht hatte, als alle, die glaubten, wer zu sein, zu Heiners Müllers. Beerdigung gingen: "Kurzer Film über das Tot sein". Annett Gröschner denkt über Inge Viett nach und das, was sie stört an ihrem Buch: die allzu affirmative Akzeptanz sozialistischer Parolen. Und fast am schönsten, weil tragisch, komisch und so realistisch, ist das, was Margaret Siedow erzählt ehemalige Stieleisherstellerin, die ihren Kittel im Spind der Speiseeisfabrik hängen ließ, um dort dann doch nie mehr gebraucht zu werden.
Aber da sind noch andere Texte: Sie handeln von Ost-West-Begegnungen, von Beschimpfungen an der Mauer, Provokationen, wie Ost es sah, Aufrufe zur Freiheit, auch als Freiheit des Wortes, wie West es sah. Annett Gröschner geht ins Arbeitsamt, fährt auf eine GermanistInnentagung und reist, als wilde Künstlerin vom Prenzlauer Berg, mit anderen wilden KünstlerInnen zu einer Lesung nach Heidelberg. Ihre Texte handeln vom Fremdsein in den deutschen Staaten, die doch angeblich einer sind, was aber eben nicht stimmt. Das ist erstens wahr und zweitens, finde ich, gar nicht so schlimm, wenn eine wie Annett Gröschner davon schreibt. Durchdacht. Mit klarem Standpunkt. Feministisch. Kritisch gegenüber dem Vertrauten wie dem Anderen. Annett Gröschner beurteilt nicht und urteilt nicht, sie sucht die Komik einer Realität, die oft genug eigentlich Anlass zu Wut gäbe. Aber statt Dogmatik gibt es Kleinarbeit, die die Augen von selbst öffnet. Weil Annett Gröschner sich nämlich die Mühe macht, zu recherchieren, zu stöbern, das Kleingedruckte zu lesen, das wir so gerne um des großen Wurfes willen überlesen. Darum müssen wir auch ihre Fußnoten lesen, die einiges erklären und ergänzen. Außen und innen ein Spiegel, Spurensuche, Geschichte, impliziter Kommentar. Und das liest sich auch spannend und erklärt mehr als die 79. Veranstaltung zur zehnjährigen Wiedervereinigung.
Annett Gröschner hat einige Texte in Konkursbüchern und im "Freitag" veröffentlicht, und die meisten anderen in der Berliner Zeitschrift "Sklaven". Ich rate euch ab, ihr, die ihr lest, ihr Durchblicker (denn ihr seid meist männlich) irgendeinen ideologischen Kleinkrieg anzuzetteln. Lest lieber das schönste Buch des Jahres 1999. Der Titel ist übrigens unaussprechlich und verdankt sich computergenerierten Textformatierungs- und Dateiumwandlungsproblemen.

Christine Plesch

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