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"Dieses
rundum geglückte Buch, überquellend von neuen Nachrichten
zu Leben und Werk des in seiner Bedeutung für die Literatur
des Jahrhunderts noch kaum erkannten, von der lesenden Öffentlichkeit
noch gar nicht gewürdigten Erzählers, enthält
einen in seiner Kuriosität schon ungeheuerlichen Beitrag:
einen deutschen Text von Uwe Johnson, den Johnson so gar nicht
geschrieben hat. Die siebzehn Seiten, erweitert um die doppelte
Zahl dreier Beiträge mit Erklärungen und Erinnerungen,
sind, auf traurige Art, bewegendes Herzstück des Bandes.
Der gerade in Augenblicken gerührter Erregung eher wortkarg-spröde,
norddeutsche Johnson schreibt einen vor Zuneigung vibrierenden
Geburtstagsgruß - in feinstem Englisch - für einen
Freund aus gemeinsamen Studentenzeiten in Leipzig (Manfred Bierwisch)
- und darüber geht die Freundschaft zu Bruch. Jetzt können
wir diesen Glückwunsch zum ersten Mal in deutscher Sprache
lesen.
Erschütternd macht die Dokumentation dieser für Johnson
charakteristischen Geschichte von Bindung und Lösung wahr,
wovon die Beiträge zweier anderer Freunde schon im Titel
sprechen. Günter Grass bestimmt sein Verhältnis zu
Johnson mit den Worten: 'Distanz, heftige Nähe, Fremdwerden
und Fremdbleiben'; Günter Kunert stellt die Diagnose: 'Ein
Fremdling'. Hier erhält der Band mit Aufzeichnungen von
Zeitzeugen, Gesprächen, Interviews, unbekannten Briefen,
unveröffentlichten (Geheim-)Dokumenten den Ton fürchterlicher,
trauriger Wahrhaftigkeit, der das Buch zu einer bedeutenden Dokumentar-Sammlung
über die Lebenswirklichkeit in (und nach) der DDR macht.
Denn die 'zerstörerischen Auswirkungen' eines Sklavenstaats,
der noch immer seinen Opfern das Gedächtnis raubt, das Gewissen
beschwert, die Seele würgt - wo wären sie, bis in Fußnoten
und Anmerkungen, bedrückender aufbewahrt als in diesem Buch?
Der Band mit (fast) lauter neuen Texten (Briefwechsel mit Johannes
Bobrowski) bereitet Uwe Johnsons späte Heimkehr in die ehemalige
DDR vor. Denn es stimmt, was Grass im Gespräch mit den Herausgebern
sagt: 'Johnsons Schreibweise war für die ostdeutsche Leserschaft
konzipiert. Dieses Publikum war in der Lage, verdeckteste Anspielungen
zu verstehen Eine ganze Generation ist in der DDR um einen wichtigen
Autor betrogen worden - zur Kenntnis und zum Verständnis
des eigenen Landes.'"
Rolf Michaelis,
Die Zeit
"Gegen
das Vergessen, aber auch gegen die Opfermythisierung haben Roland
Berbig und Erdmut Wizisla in bisher nicht erreichter Fülle
und Genauigkeit vielfältige Beziehungen Johnsons zur DDR
nachgezeichnet.
Die Texte Uwe Johnsons bekamen in der Zeit des europäischen
Umbruchs und der deutschen Vereinigungskrise neue Aktualität,
die heute besonders ostdeutsche Leser beschäftigt. 'Diese
Grunderfahrung', so Roland Berbig im Gespräch, 'in eine
Freiheit hineinzukommen und dann diese Freiheit anders vorzufinden,
als man sie sich gedacht hat, hat Uwe Johnson 1959/61 einmal
erlebt, wenn auch anders und komplizierter. Aber so ein Grad
an Verunsicherung, der Uwe Johnson nie so richtig hat ankommen
lassen und der seine Ortswechsel begründet, der ist mir
verständlicher als früher zu DDR-Zeiten.'"
Stefan Bruns,
Neue Zürcher Zeitung
"Mit diesem
Johnson-Buch werden Maßstäbe gesetzt für fällige
Korrekturen der Literaturgeschichtsschreibung."
Sibylle Cramer,
Frankfurter Rundschau
Roland Berbig/Erdmut
Wizisla Rückgabe
einer Staatsbürgerschaft? Zu Uwe Johnsons "Versuch,
eine Mentalität zu erklären"
Die erste Reaktion
auf Johnsons Text ist Zustimmung. Genau analysiert und formuliert
hält er Erfahrungen fest, die wir in der DDR gesammelt haben.
Unser Bedürfnis, möglichst zutreffend bezeichnet zu
bekommen, was unsere staatsbürgerliche Einbindung prägte,
wird befriedigt. überschritten wird jetzt nur der Horizont,
vor dem dieser empirisch-psychologische Vorgang abläuft.
1970, als Uwe Johnson den Text verfaßte, befand sich die
DDR in einem allgemeinen Aufschwung internationaler Anerkennung.
Fest in den Warschauer Vertrag eingebunden, hatte sie am Einmarsch
in Prag teilgenommen, ohne daß es zu einer Staatskrise
oder zu wirklichen Unruhen gekommen wäre. Der Rücktritt
Walter Ulbrichts und der VIII. Parteitag standen noch bevor mit
ihrer Auswirkung, die Liberalisierung verhieß und punktuell
einlöste. Heute neigt sich die Geschichte der DDR ihrem
Ende zu. "Nun ist es vorbei." Die Aktualität des
Satzes bezieht sich aber nicht mehr auf das Verhältnis zu
einem Staat, sondern auf diesen selbst.
Am Gedenktag der Märzgefallenen von 1848 erhielt die politische
Richtung eine Mehrheit, die möglichst schnell ein Einheitliches
zu stiften versprach. Jahrzehnte hatten die Systemunverträglichkeiten
überwogen. Seit November 1989 häuften sich die tatsächlichen
und mehr noch die gewünschten Ähnlichkeiten mit dem
anderen deutschen Staat. Die DDR, auf die sich Johnson bezog,
existiert so nicht mehr. Was ihm wie eine biographische Episode
erscheinen wollte, beginnt eine historische zu werden.
Aber diese Unterschiedlichkeit scheint das Stichhaltige der Analyse
Johnsons nicht zu beeinträchtigen. Die Zeitdifferenz zwischen
1970 und 1990 hat ihr nichts an Schärfe und Überzeugungskraft
genommen. Ihm galt es damals, uns heute. Die Versuchung, sich
mit Johnsons Haltung zu identifizieren, ist groß. Auch
jetzt möchten viele ihr Punktum setzen. Aber läßt
sich das Vorgedachte unvermittelt übernehmen? Die genaueren
Umstände des Textes und der Weg des Verfassers wollen prüfend
bedacht sein.
Der "Versuch, eine Mentalität zu erklären"
entstand als Nachwort zu einem Band Interviews mit aus der DDR
Ausgereisten, den Barbara Grunert-Bronnen 1970 im Piper Verlag
München herausgegeben hat. Der Titel der Sammlung - "Ich
bin Bürger der DDR und lebe in der Bundesrepublik"
- spielte auf den Umstand an, daß nach dem Staatsbürgerschaftsgesetz
der DDR vom 20. Februar 1967, alle, die die DDR illegal verlassen
hatten, Bürger der DDR blieben, auch wenn sie längst
einen BRD-Paß besaßen. Es ist eine bewußt einseitige
Zusammenstellung von Gesprächen. Die Befragten waren nicht
materieller Gründe wegen gegangen. Sie alle sahen in der
DDR nicht nur geographisch, sondern auch politisch ihre Heimat.
Um so tiefer griff deshalb die Enttäuschung über die
ihren Erwartungen so entgegengesetzte Entwicklung des Landes
oder über die Zerstörung persönlicher Hoffnungen.
Der Autor des Nachwortes kannte sich da gut aus. Als das Buch
erschien, lebte Uwe Johnson seit gut zehn Jahren nicht mehr in
der DDR. Verlassen hatte er sie im Juli 1959, als in einer westdeutschen
Druckerei sein Name auf das Titelblatt des Romans "Mutmassungen
über Jakob" gesetzt wurde. Anders als seinen ersten
hatte Johnson diesen Roman einem DDR Verlag gar nicht mehr angeboten.
Da lagen bereits Erfahrungen mit den literarischen Institutionen
dieses Landes hinter ihm.
In Westberlin hatte Uwe Johnson Wert darauf gelegt, daß
sein Abschied von der DDR unspektakulär war. Ein Länderwechsel
ist kein Bekenntnis. "Er war kein Flüchtling",
bemerkte Johnson, von sich in der dritten Person redend, in den
Frankfurter Vorlesungen 1979, "(außer im Verständnis
von Behörden, die er aufgegeben hatte). Unter Flucht verstand
er eine Bewegung in großer Eile, unter gefährlicher
Bedrohung; er war mit der Stadtbahn gekommen." Lakonisch
fixierte er in einer bibliographischen Notiz:"Rückgabe
einer Staatsangehörigkeit an die DDR nach nur zehnjähriger
Benutzung und Umzug nach Westberlin mit Genehmigung eines dortigen
Bezirksamtes (liegt vor)." Der scheinbar beiläufige
Schlußstrich unter zehn Jahre einer Biographie ließ
kaum eine Ahnung von den Konflikten aufkommen, die Uwe Johnson
in der DDR auszutragen hatte.
Der Sohn ungebetener Umsiedler erfuhr die DDR zunächst als
von Stalin geprägtes Land. "Es gibt Lehrer, die
benutzen noch für die Drohung mit einer Eintragung ins Klassenbuch
die Sprechmelodie des Genossen Stalin, so wie sie der Genosse
Generalsekretär der Bruderpartei verstanden hat und als
Beispiel übermittelt." überliefert ist die
Erinnerung an Johnsons Tätigkeit als "Org.-Leiter der
Z.S.G.L.", der Zentralen Schulgruppenleitung einer Oberschule:"An
den Org.-Leiter kommt die Anfrage der Kreisleitung über
das 'politische Bewußtsein' eines Mitschülers, die
verkleidete Neugier des Ministeriums für den Dienst an der
Staatssicherheit, und ehe er darüber befindet mit den Angehörigen
der Z.S.G.L., wird er jenen Mitschüler unterrichten über
das gefährliche Interesse an seiner Person." Solche
und ähnliche Erlebnisse bleiben nicht Einzelfall und damit
Ausnahme. Als die Junge Gemeinde vor 1953 öffentlich als
"Tarnorganisation für Kriegshetze, Sabotage und Spionage
im USA-Auftrag" denunziert und kriminalisiert wurde, verweigerte
der Rostocker Germanistikstudent Johnson die Übernahme einer
Anklägerrolle in der gelenkten Diskussion. Seine distanzierte
Haltung trug ihm den Vorwurf "bürgerlich" ein.
Literarisch verarbeitet kehren die frühen fünfziger
Jahre wieder in Johnsons Romanerstling "Ingrid Babendererde.
Reifeprüfung 1953", der 1985 aus dem Nachlaß
herausgegeben wurde. Der Mitteldeutsche Verlag hatte das Manuskript
1957 abgelehnt, obwohl er die literarischen Qualitäten des
Romans erkannte. Aber er "wünschte sich einige Änderungen
politischer Natur, eigentlich mehr innenpolitischer Natur, und
dazu hätte ich mein Bewußtsein ändern müssen,
das konnte ich nicht." Besonders schmerzlich erlebte
Johnson die Grenzen des Gebrauchtwerdens in der Zeit nach seinem
Germanistikstudium, das er bei Hans Mayer in Leipzig - "die
wahre Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik"
- abschloß. "Seit 1949 war ich in den Augen der
Behörden ein 'Staatsbürger' der Deutschen Demokratischen
Republik, wiederum ohne daß man mich angegangen wäre
um meine Zustimmung in dieser Sache. Was den Behörden zu
Ohren kam von meinen Äußerungen über sie, ließ
sie zweifeln an meiner Eignung, ihnen in einer festen Anstellung
zu dienen, so daß ich nach dem Examen drei Jahre lang zu
leben hatte von germanistischer Heimarbeit, Ýarbeitslos
in einem Lande, das solchen Zustand abgeschafft haben wollte,
bald steuerfrei, weil unter dem Existenzminimum. Das war die
amtliche, wie immer unausgesprochene, Einladung zum Weggehen,
was denn endlich den Anlaß gegeben hätte für
eine Bezeichnung als 'Verräter'."
Uwe Johnson ist in seinem Schreiben auch nach dem Verlassen der
DDR zunächst nicht losgekommen von den Erfahrungen in diesem
Land und vom Versuch, die Unterschiedlichkeit der beiden deutschen
Staaten zu benennen. "Das dritte Buch über Achim"
(1961) und vor allem "Zwei Ansichten" (1965) erzählen
von der Differenz der beiden Länder, die Johnson als Systemdifferenz
begriffen hat. Die Personen seiner Romane versuchen von den ersten
Eindrücken, die die andere Welt ihnen macht, zu deren Wesen
zu gelangen.
Solche Bücher haben Uwe Johnson schnell das Etikett "Dichter
der beiden Deutschland" eingetragen. Er mochte es nicht,
was auch an der Berufsbezeichnung lag. Die rein politische Lektüre
seiner Bücher mag ihn verstimmt haben. Er wollte ein Bild
von der Welt vermitteln, das anders nicht zu geben ist. Unmittelbare
Absichten verfolge Literatur nicht, und seine Geschichten wollte
er nicht in ein politisches Schlagwort eingeschnürt sehen.
Und doch haben wenige die Schizophrenie des Lebens, das zwischen
Ost- und Westdeutschland so gleich und so verschieden war, erfahren
und zur Sprache gebracht. Uwe Johnson hat zwischen den Stühlen
gesessen, vielleicht mit einer Hoffnung: "wenn einer
in der Mitte stehen will um jeden Preis, kann er wohl klaren
Kopf behalten".
Johnsons Weggang wurde von Schmähungen begleitet, die -
wie ihre detaillierte Behandlung in den "Begleitumständen"
(Frankfurter Vorlesungen) beweist - unvergessen blieben. Peter
Hacks unterstellte Johnson 1959 auf dem primären menschlichen
Interessengebiet, der Gesellschaft, Dummheit. Hermann Kant bezichtigte
Johnson des Diebstahls, weil er ein staatliches Stipendium beansprucht
hatte, ohne durch die Ausübung eines geregelten Berufes
Rückzahlung zu erstatten. Er nannte wenig später Johnsons
Bücher "Produkte aus Unverstand und schlechtem Gewissen",
falsch und böse sei ihre Aussage, tiefe Verworrenheit spiegele
ihren Stil. Als Johnson eine Einladung des DDR-Schriftstellerverbandes
1962 nicht annahm, folgte ein beleidigender Artikel Kants im
"Neuen Deutschland".
Nach seinem Wechsel in die Bundesrepublik verhielt sich Johnson
ebensowenig "staatsbürgerlich" wie zuvor in der
DDR, und es wurde ihm im gleichen Maße verübelt. Ein
einschneidender Zusammenstoß mit der westdeutschen Öffentlichkeit
wurde durch die falsche Wiedergabe seiner Äußerungen
über den Mauerbau ausgelöst. Verwirrung rief die Ausgewogenheit
hervor, mit der Johnson die Tatbestände aus der Sicht beider
Seiten beschrieb. "Diese Mauer ist nur ein Ereignis,
ein wirkliches Ereignis, das die Menschenrechte verletzt, wie
sie in einer westlichen Konvention festgelegt sind, die von dem
Ostblock nicht anerkannt wird."
In einer Zeit, wo Kriegsschuld und Kriegsniederlage der Deutschen
aus dem Auge verloren wurden, erinnerte Johnson diese Ereignisse
als den eigentlichen Grund für die Teilung Deutschlands.
"Eigentlich hätten wir nach 1945 alle still sein
müssen." Man könne in der Welt nicht über
Deutschland reden. "Das ist ein Land mit einer Schande,
die nicht vergeben werden kann. Das Einzige, was ein Reden oder
Schreiben über Berlin rechtfertigen könnte, das ist
eben die Teilung, die Grenze, die Entfernung." Direkt
auf die öffentlichen Institutionen Westdeutschlands bezogen,
die die Kriegsniederlage Deutschlands nicht eingestanden, wiederholte
er 1969 seine Warnung. "Die territorialen Forderungen,
die hier und da immer wieder laut werden, halten unsere Nachbarn,
besonders unsere östlichen Nachbarn, in einem dauerhaften
Zustand der Unruhe."
Skeptisch hat er sich 1974 zu einer Vereinigung von DDR und BRD
geäußert: "Was mich angeht, so ist keine Aussicht,
daß beide deutsche Staaten noch einmal vereinigt werden
können, eben wegen der in einem Vierteljahrhundert gewachsenen
Unterschiede in den Produktionsverhältnissen, der Machtverteilung,
der moralischen und egoistischen Werteskala, ja auch schon in
der Kultur." Keiner der beiden Staaten biete, Johnsons
Überzeugung nach, eine deutsche Lösung, "beide
sind Übergangslösungen". Die Grenze in Deutschland
sei vielleicht stellvertretend für den "Unterschied
in den beiden heute angebotenen Arten zu leben und für die
Dringlichkeit der Alternative, die die eine eben für die
andere darstellt".
Johnsons Widerwille, in verbreitete Urteile über Ereignisse
deutscher Gegenwartsgeschichte einzustimmen, wurde durch seine
gründlichen Recherchen erhärtet. Das schützte
ihn vor Vereinnahmungen; an Versuchen fehlte es nicht. Im nationalen
Zweistaatenstreit ließ Johnson sich keiner Seite zuschlagen.
Die hohe Empfindlichkeit für Übergriffe in seine individuelle
Lebensordnung, die ihm in Ost und West widerfuhren und die von
sicherheitsdienstlichen Verletzungen begleitet waren, entwurzelte
ihn aus nationalstaatlicher Identität. Erlittenes bestätigte
ihm jede Gegenwart, was Vergessen und Verdrängen ausschloß.
Die Menschen seiner Bücher, mit denen er lebte, sind in
die Regionen verwoben, denen sie entstammten. Nicht selten liegen
die auf dem Territorium der DDR. Noch 1977 hielt Johnson, seit
drei Jahren in England lebend, vor der Deutschen Akademie für
Sprache und Dichtung in Darmstadt eine Rede, die auf diese Wurzeln
verwies: "Es ist wahr, aufgewachsen bin ich an der Peene
von Anklam, durch Güstrow fließt die Nebel, auf der
Warnow bin ich nach und in Rostock gereist, Leipzig bot mir Pleiße
und Elster, Manhattan ist umschlossen von Hudson und East und
North, ich gedenke auch eines Flusses Hackensack, und seit drei
Jahren bedient mich vor dem Fenster die Themse, wo sie die Nordsee
wird. Aber wohin ich in Wahrheit gehöre, das ist die dicht
umwaldete Seenplatte Mecklenburgs von Plau bis Templin, entlang
der Elbe und der Havel, und dort hoffe ich mich in meiner nächsten
Arbeit aufzuhalten, ich weiß schon, in welcher Eigenschaft,
aber ich verrate sie nicht."
Johnsons "Versuch, eine Mentalität zu erklären"
war also trotz seines resümierenden, auf einen Endpunkt
drängenden Charakters nicht der Schlußstrich unter
dem Thema DDR. Aber wohl unter dem der DDR-Staatsbürgerschaft
mit ihren Folgen. Johnson veränderte nicht den Blickwinkel
des ehemaligen DDR-Bürgers, aus dem die abgedruckten Äußerungen
der anderen abgewogen wurden. Das präzise Erkennen war eben
auch ein Wieder-Erkennen. Er legte bloß, daß eine
Staatsbürgerschaft durch Willenserklärung und Ortswechsel
nicht aufgehoben werden kann. Die Schäden, die in der Personalisierung
der Beziehung zwischen Bürger und Staat zum Ausdruck kamen,
erfahren eine auf ihren Grund gehende Beschreibung. Die selbsterlassene
Legitimität des Staates, im Alltag der Bürger Staatlichkeit
und Ideologie so zu verankern, daß sie dessen Gang und
Gestaltung bestimmen, analysiert Johnson in ihrer zerstörerischen
Kraft. Die Loslösung aus dem System zeigt den hohen Grad
der Verwurzelung. Der Schlußabschnitt "Es geht auch
anders.", im Druck kursiv, will die notwendige mündige
Haltung demonstrieren. Frei von Sentimentalität ordnet sie
die Arbeit an, die zur Erfahrungsbildung erst führt. Mit
der Souveränität dem Staat gegenüber, die diese
Formulierungen einleitet, benennt Johnson die für deutsche
Bürgergeschichte traditionsärmste Haltung. Diese Wendung
erhebt den Staat DDR zum Exempel, der damit an Singularität
verliert. Erstaunliche Verwandtschaft mit Johnsons Versuch findet
sich in den "Thesen zur Staatenlosigkeit" des Hölderlin-Forschers
Dietrich E. Sattler. Auch er fordert einen Befreiungsakt. "Wir
sind in einen Staat verschlagen", lautet Sattlers erste
These, "und sollten ihn verlassen, sobald wir dazu fähig
sind." Staat und Land sind bei Sattler getrennte Sachverhalte;
man muß sein Land nicht verlassen, um sich vom Staat zu
befreien.
Gefühle des Einzelnen - Liebe oder Haß - dem Staat
gegenüber führen zu einem Verhältnis, das fragwürdiges
und gefährliches Handeln nach sich zieht. Es kann gipfeln
in Nationalstolz und die Aussperrung des Anderen praktizieren.
Johnsons diszipliniert arbeitende Sprache zeigt den nüchternen
Ausweg.
Möglicherweise wiegt sich der heutige Leser in der Gewißheit,
auf schadlose Weise in Johnsons Sprache zu finden. Die Teilung
zeichnet sich bereits als beinahe Vergangenes ab. Schneller als
die von vielen gewünschte Rückgabe der Staatsbürgerschaft
im Austausch gegen eine neue scheint die Auflösung der Instanzen
zu erfolgen, die auf irgendeine, möglichst entschädigende
Weise die Rückgabe registriert. Die Schnelligkeit, nun von
dem, was wir als DDR erlebten und erleben, uns zu verabschieden,
verharmlost die Tragweite dieses Vorgangs. Vom Grad der Gründlichkeit,
mit der wir die zurückliegende Geschichte beschreiben lernen,
wird es abhängen, ob sich die Fehler der Jahre nach 1945
wiederholen. Nicht die Idylle DDR wird zu entdecken und zu bewahren
sein. Das ist sie nie gewesen. Erst der entschlossene Bruch mit
dem verhängnisvollen System von Ideologemen gibt den Blick
frei auf die eigentlich stattgefundene Geschichte. Sie ist unsere
Geschichte, geprägt durch unsere Handlungen und gezeichnet
von unseren Unterlassungen. Für die nötige Aufarbeitung
bedeutet der übereilte Austausch einer alten ungeliebten
Staatsbürgerschaft gegen eine neue größte Gefahr.
Von der Amnestie zur Amnesie ist es weniger als ein Schritt.
"Ohne realen Gegenwert" (wie z.B. einer anderen,
die alte verdrängenden Staatsbürgerschaft), heißt
es in der 37. These Sattlers, "verzichtet derjenige,der
aus seiner Ungebundenheit keinen Hehl macht, auf alle Vorteile,
die ihm Anpassung gewähren würde, denn er muß
weiterhin unter den Bedingungen der Anpassung leben und bekommt
die Verzweiflung derer zu spüren, die sich selbst an ihre
Sicherheit und ihr Fortkommen verraten haben." Auf solche
Art Verzicht verweist Johnsons Text, aber auch seine Biographie.
Es ist gleichfalls ein Verzicht auf erneuerte staatsbürgerliche
Anpassung, die alles Unabgegoltene begleichen soll. Die Rechnungen
vertragen es, offen zu bleiben.
siehe auch
Uwe Johnson. Befreundungen
Homepage
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