"wo ich her bin..."

uwe johnson in der d.d.r.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Herausgegeben von Roland Berbig und Erdmut Wizisla
424 Seiten / Format 205 x 125 mm
Französische Broschur
Zweite Auflage
Ê 20,35
ISBN 3-931337-08-1

 

Inhalt

Uwe Johnson: Versuch, eine Mentalität zu erklären
Michael Roloff: Gespräch mit Uwe Johnson
Uwe Johnson: Fünfundzwanzig Jahre mit Jake, auch unter dem Namen Bierwisch bekannt
Eberhard Fahlke: "Wenn man einem Freund eine Festschrift macht..." Zum Festschriftenbeitrag Uwe Johnsons
Manfred Bierwisch: Erinnerungen Uwe Johnson betreffend, Uwe Johnson und Leipzig. Ausschnitte einer Beziehung
Günter Grass: Distanz, heftige Nähe, Fremdwerden und Fremdbleiben. Gespräch über Uwe Johnson
Günter Kunert: Ein Fremdling
Johannes Bobrowski: Briefwechsel mit Uwe Johnson
Lotte Köhler: Aus dem Briefwechsel mit Uwe Johnson
Christine Jansen: "Seien Sie vielmals bedankt!" Aus einem Briefwechsel
Helen Wolff: Brief aus Hanover/New Hampshire
Hans-Jürgen Schmidt: Brief aus Güstrow
Michael Jesse: Da war Einer, den hätte ich gern gekannt
Bernd Neumann: Leipzig, oder: die Schule der Modernität, Uwe Johnson und William Faulkner
Greg Bond: Die Klassengesellschaft und die Dialektik der Gerechtigkeit, Uwe Johnsons DDR-Erfahrung und seine Lukács-Lektüre
Margund Hinz/Roland Berbig: "Ich sehe nicht ein, daß die Mauer in Berlin ein literarisches Datum gesetzt haben sollte..." Uwe Johnson im politischen Diskurs 1961
Uwe Johnson: Kommentar zu Bertolt Brechts "Meti, Buch der Wendungen"
Erdmut Wizisla: "Aus jenem Fach bin ich weggelaufen" Uwe Johnson im Bertolt-Brecht-Archiv - die Edition von "Meti, Buch der Wendungen"
Roland Berbig: Eine Bürgerin der "D.D.R." namens Gesine Cresspahl erzählt. Beobachtungen zu der DDR in Uwe Johnsons "Jahrestage"
Nicolai Riedel: Uwe Johnson & die DDR, Uwe Johnson in Ostdeutschland. Bibliographische Skizze einer verhinderten/verspäteten Rezeption

 

Uwe Johnson und die DDR ­ das waren einerseits Erfahrungen mit einer repressiven Diktatur. Andererseits hat er sich nirgendwo anders als in dieser DDR zu dem exemplarischen Modernen gebildet, den er wie kaum ein anderer in der deutschen Literatur nach 1945 darstellt. Solche Entwicklung, solche Erfahrungen schienen möglich, wenn einer sie nur wollte und der Mecklenburger Uwe Johnson hat sie gewollt. In der DDR, die ihm politisch ein hoch zweifelhaftes Gebilde war, waren die Städte und Landschaften seiner Kindheit und Jugend zurückgeblieben. Dort waren die Räume, die ihm für das Erleben seiner Personen, deren Geschichten zu erzählen er sich beauftragt fühlte, unverzichtbar waren. Dachte er an sie, fielen ihm das Lager in Fünfeichen oder die Erniedrigungen, von denen die Schul- und Studienzeit geprägt war, ebenso ein wie der Wind, der über die Seen strich und zum Segeln verführte, oder die Sprache, in der die Menschen miteinander redeten und durch die sie einmalig wurden. Hier fremdwerden hieß für Johnson Schmerz. Sein Erinnern bedeutete ihm eine immer erneute Probe, inwieweit die Verwundung, die ihm zugefügt worden war und die sein Weggang nicht zu heilen vermochte, tatsächlich über die Jahre vernarbt war. Die Hoffnung und der Glaube, das Erinnerte durch gültiges Benennen zu erledigen, es abzurechnen, hatten sich am Ende seines Lebens als vergeblich erwiesen.
Im Dezember 1971 schrieb Johnson aus Westberlin an Lotte Köhler in New York: "Im Sommer waren wir auf zehn Tage in Mecklenburg Noch einmal schwimmen im Inselsee, schwimmen in einem Dampfer auf dem schweriner See, bei Uhse speisen, auf den Bahnsteigen von Bad Kleinen auf den Anschluss warten: als Gäste. Als Fremde."
Uwe Johnsons Erfahrungen mit der DDR waren deutsche Erfahrungen. Sie endeten nicht mit seinem Weggang aus jenem Land, und sie hätten nicht geendet mit dem Fall der Mauer, der die DDR beseitigte. Durch Johnsons frühen Tod fehlt die Stimme, die den Vorgang der Vereinigung am präzisesten geschildert hätte - und am gerechtesten wohl auch. Erinnerung und Lektüre müssen ersetzen, wofür es am Ende keinen Ersatz gibt.
Dieses vorliegende Buch birgt Bruchstücke einer Gedächtnisarbeit, wie sie Uwe Johnson sich auferlegt hat, einer Gedächtnisarbeit, von der auch nach dem Ende der DDR niemand entbunden ist. Dieser Band bietet anregende Lektüre sowohl für die, die auf Johnsons Welt neugierig, als auch für jene, die darin schon heimisch sind: Erinnerungen von Zeitzeugen; Gespräche, die Einblicke in Johnsons Denken vermitteln; bisher unveröffentlichte Briefe, die literarische Beziehungen dokumentieren; Untersuchungen zur Geprägtheit, zum literarischen Gehalt und zur Wirkung von Johnsons Texten.

"Dieses rundum geglückte Buch, überquellend von neuen Nachrichten zu Leben und Werk des in seiner Bedeutung für die Literatur des Jahrhunderts noch kaum erkannten, von der lesenden Öffentlichkeit noch gar nicht gewürdigten Erzählers, enthält einen in seiner Kuriosität schon ungeheuerlichen Beitrag: einen deutschen Text von Uwe Johnson, den Johnson so gar nicht geschrieben hat. Die siebzehn Seiten, erweitert um die doppelte Zahl dreier Beiträge mit Erklärungen und Erinnerungen, sind, auf traurige Art, bewegendes Herzstück des Bandes. Der gerade in Augenblicken gerührter Erregung eher wortkarg-spröde, norddeutsche Johnson schreibt einen vor Zuneigung vibrierenden Geburtstagsgruß - in feinstem Englisch - für einen Freund aus gemeinsamen Studentenzeiten in Leipzig (Manfred Bierwisch) - und darüber geht die Freundschaft zu Bruch. Jetzt können wir diesen Glückwunsch zum ersten Mal in deutscher Sprache lesen.
Erschütternd macht die Dokumentation dieser für Johnson charakteristischen Geschichte von Bindung und Lösung wahr, wovon die Beiträge zweier anderer Freunde schon im Titel sprechen. Günter Grass bestimmt sein Verhältnis zu Johnson mit den Worten: 'Distanz, heftige Nähe, Fremdwerden und Fremdbleiben'; Günter Kunert stellt die Diagnose: 'Ein Fremdling'. Hier erhält der Band mit Aufzeichnungen von Zeitzeugen, Gesprächen, Interviews, unbekannten Briefen, unveröffentlichten (Geheim-)Dokumenten den Ton fürchterlicher, trauriger Wahrhaftigkeit, der das Buch zu einer bedeutenden Dokumentar-Sammlung über die Lebenswirklichkeit in (und nach) der DDR macht. Denn die 'zerstörerischen Auswirkungen' eines Sklavenstaats, der noch immer seinen Opfern das Gedächtnis raubt, das Gewissen beschwert, die Seele würgt - wo wären sie, bis in Fußnoten und Anmerkungen, bedrückender aufbewahrt als in diesem Buch?
Der Band mit (fast) lauter neuen Texten (Briefwechsel mit Johannes Bobrowski) bereitet Uwe Johnsons späte Heimkehr in die ehemalige DDR vor. Denn es stimmt, was Grass im Gespräch mit den Herausgebern sagt: 'Johnsons Schreibweise war für die ostdeutsche Leserschaft konzipiert. Dieses Publikum war in der Lage, verdeckteste Anspielungen zu verstehen Eine ganze Generation ist in der DDR um einen wichtigen Autor betrogen worden - zur Kenntnis und zum Verständnis des eigenen Landes.'"

Rolf Michaelis, Die Zeit

 

"Gegen das Vergessen, aber auch gegen die Opfermythisierung haben Roland Berbig und Erdmut Wizisla in bisher nicht erreichter Fülle und Genauigkeit vielfältige Beziehungen Johnsons zur DDR nachgezeichnet.
Die Texte Uwe Johnsons bekamen in der Zeit des europäischen Umbruchs und der deutschen Vereinigungskrise neue Aktualität, die heute besonders ostdeutsche Leser beschäftigt. 'Diese Grunderfahrung', so Roland Berbig im Gespräch, 'in eine Freiheit hineinzukommen und dann diese Freiheit anders vorzufinden, als man sie sich gedacht hat, hat Uwe Johnson 1959/61 einmal erlebt, wenn auch anders und komplizierter. Aber so ein Grad an Verunsicherung, der Uwe Johnson nie so richtig hat ankommen lassen und der seine Ortswechsel begründet, der ist mir verständlicher als früher zu DDR-Zeiten.'"

Stefan Bruns, Neue Zürcher Zeitung

 

"Mit diesem Johnson-Buch werden Maßstäbe gesetzt für fällige Korrekturen der Literaturgeschichtsschreibung."

Sibylle Cramer, Frankfurter Rundschau

 

 

Roland Berbig/Erdmut Wizisla Rückgabe einer Staatsbürgerschaft? Zu Uwe Johnsons "Versuch, eine Mentalität zu erklären"

Die erste Reaktion auf Johnsons Text ist Zustimmung. Genau analysiert und formuliert hält er Erfahrungen fest, die wir in der DDR gesammelt haben. Unser Bedürfnis, möglichst zutreffend bezeichnet zu bekommen, was unsere staatsbürgerliche Einbindung prägte, wird befriedigt. überschritten wird jetzt nur der Horizont, vor dem dieser empirisch-psychologische Vorgang abläuft. 1970, als Uwe Johnson den Text verfaßte, befand sich die DDR in einem allgemeinen Aufschwung internationaler Anerkennung. Fest in den Warschauer Vertrag eingebunden, hatte sie am Einmarsch in Prag teilgenommen, ohne daß es zu einer Staatskrise oder zu wirklichen Unruhen gekommen wäre. Der Rücktritt Walter Ulbrichts und der VIII. Parteitag standen noch bevor mit ihrer Auswirkung, die Liberalisierung verhieß und punktuell einlöste. Heute neigt sich die Geschichte der DDR ihrem Ende zu. "Nun ist es vorbei." Die Aktualität des Satzes bezieht sich aber nicht mehr auf das Verhältnis zu einem Staat, sondern auf diesen selbst.
Am Gedenktag der Märzgefallenen von 1848 erhielt die politische Richtung eine Mehrheit, die möglichst schnell ein Einheitliches zu stiften versprach. Jahrzehnte hatten die Systemunverträglichkeiten überwogen. Seit November 1989 häuften sich die tatsächlichen und mehr noch die gewünschten Ähnlichkeiten mit dem anderen deutschen Staat. Die DDR, auf die sich Johnson bezog, existiert so nicht mehr. Was ihm wie eine biographische Episode erscheinen wollte, beginnt eine historische zu werden.
Aber diese Unterschiedlichkeit scheint das Stichhaltige der Analyse Johnsons nicht zu beeinträchtigen. Die Zeitdifferenz zwischen 1970 und 1990 hat ihr nichts an Schärfe und Überzeugungskraft genommen. Ihm galt es damals, uns heute. Die Versuchung, sich mit Johnsons Haltung zu identifizieren, ist groß. Auch jetzt möchten viele ihr Punktum setzen. Aber läßt sich das Vorgedachte unvermittelt übernehmen? Die genaueren Umstände des Textes und der Weg des Verfassers wollen prüfend bedacht sein.
Der "Versuch, eine Mentalität zu erklären" entstand als Nachwort zu einem Band Interviews mit aus der DDR Ausgereisten, den Barbara Grunert-Bronnen 1970 im Piper Verlag München herausgegeben hat. Der Titel der Sammlung - "Ich bin Bürger der DDR und lebe in der Bundesrepublik" - spielte auf den Umstand an, daß nach dem Staatsbürgerschaftsgesetz der DDR vom 20. Februar 1967, alle, die die DDR illegal verlassen hatten, Bürger der DDR blieben, auch wenn sie längst einen BRD-Paß besaßen. Es ist eine bewußt einseitige Zusammenstellung von Gesprächen. Die Befragten waren nicht materieller Gründe wegen gegangen. Sie alle sahen in der DDR nicht nur geographisch, sondern auch politisch ihre Heimat. Um so tiefer griff deshalb die Enttäuschung über die ihren Erwartungen so entgegengesetzte Entwicklung des Landes oder über die Zerstörung persönlicher Hoffnungen.
Der Autor des Nachwortes kannte sich da gut aus. Als das Buch erschien, lebte Uwe Johnson seit gut zehn Jahren nicht mehr in der DDR. Verlassen hatte er sie im Juli 1959, als in einer westdeutschen Druckerei sein Name auf das Titelblatt des Romans "Mutmassungen über Jakob" gesetzt wurde. Anders als seinen ersten hatte Johnson diesen Roman einem DDR Verlag gar nicht mehr angeboten. Da lagen bereits Erfahrungen mit den literarischen Institutionen dieses Landes hinter ihm.
In Westberlin hatte Uwe Johnson Wert darauf gelegt, daß sein Abschied von der DDR unspektakulär war. Ein Länderwechsel ist kein Bekenntnis. "Er war kein Flüchtling", bemerkte Johnson, von sich in der dritten Person redend, in den Frankfurter Vorlesungen 1979, "(außer im Verständnis von Behörden, die er aufgegeben hatte). Unter Flucht verstand er eine Bewegung in großer Eile, unter gefährlicher Bedrohung; er war mit der Stadtbahn gekommen." Lakonisch fixierte er in einer bibliographischen Notiz:"Rückgabe einer Staatsangehörigkeit an die DDR nach nur zehnjähriger Benutzung und Umzug nach Westberlin mit Genehmigung eines dortigen Bezirksamtes (liegt vor)." Der scheinbar beiläufige Schlußstrich unter zehn Jahre einer Biographie ließ kaum eine Ahnung von den Konflikten aufkommen, die Uwe Johnson in der DDR auszutragen hatte.
Der Sohn ungebetener Umsiedler erfuhr die DDR zunächst als von Stalin geprägtes Land. "Es gibt Lehrer, die benutzen noch für die Drohung mit einer Eintragung ins Klassenbuch die Sprechmelodie des Genossen Stalin, so wie sie der Genosse Generalsekretär der Bruderpartei verstanden hat und als Beispiel übermittelt." überliefert ist die Erinnerung an Johnsons Tätigkeit als "Org.-Leiter der Z.S.G.L.", der Zentralen Schulgruppenleitung einer Oberschule:"An den Org.-Leiter kommt die Anfrage der Kreisleitung über das 'politische Bewußtsein' eines Mitschülers, die verkleidete Neugier des Ministeriums für den Dienst an der Staatssicherheit, und ehe er darüber befindet mit den Angehörigen der Z.S.G.L., wird er jenen Mitschüler unterrichten über das gefährliche Interesse an seiner Person." Solche und ähnliche Erlebnisse bleiben nicht Einzelfall und damit Ausnahme. Als die Junge Gemeinde vor 1953 öffentlich als "Tarnorganisation für Kriegshetze, Sabotage und Spionage im USA-Auftrag" denunziert und kriminalisiert wurde, verweigerte der Rostocker Germanistikstudent Johnson die Übernahme einer Anklägerrolle in der gelenkten Diskussion. Seine distanzierte Haltung trug ihm den Vorwurf "bürgerlich" ein. Literarisch verarbeitet kehren die frühen fünfziger Jahre wieder in Johnsons Romanerstling "Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953", der 1985 aus dem Nachlaß herausgegeben wurde. Der Mitteldeutsche Verlag hatte das Manuskript 1957 abgelehnt, obwohl er die literarischen Qualitäten des Romans erkannte. Aber er "wünschte sich einige Änderungen politischer Natur, eigentlich mehr innenpolitischer Natur, und dazu hätte ich mein Bewußtsein ändern müssen, das konnte ich nicht." Besonders schmerzlich erlebte Johnson die Grenzen des Gebrauchtwerdens in der Zeit nach seinem Germanistikstudium, das er bei Hans Mayer in Leipzig - "die wahre Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik" - abschloß. "Seit 1949 war ich in den Augen der Behörden ein 'Staatsbürger' der Deutschen Demokratischen Republik, wiederum ohne daß man mich angegangen wäre um meine Zustimmung in dieser Sache. Was den Behörden zu Ohren kam von meinen Äußerungen über sie, ließ sie zweifeln an meiner Eignung, ihnen in einer festen Anstellung zu dienen, so daß ich nach dem Examen drei Jahre lang zu leben hatte von germanistischer Heimarbeit, Ýarbeitslos in einem Lande, das solchen Zustand abgeschafft haben wollte, bald steuerfrei, weil unter dem Existenzminimum. Das war die amtliche, wie immer unausgesprochene, Einladung zum Weggehen, was denn endlich den Anlaß gegeben hätte für eine Bezeichnung als 'Verräter'."
Uwe Johnson ist in seinem Schreiben auch nach dem Verlassen der DDR zunächst nicht losgekommen von den Erfahrungen in diesem Land und vom Versuch, die Unterschiedlichkeit der beiden deutschen Staaten zu benennen. "Das dritte Buch über Achim" (1961) und vor allem "Zwei Ansichten" (1965) erzählen von der Differenz der beiden Länder, die Johnson als Systemdifferenz begriffen hat. Die Personen seiner Romane versuchen von den ersten Eindrücken, die die andere Welt ihnen macht, zu deren Wesen zu gelangen.
Solche Bücher haben Uwe Johnson schnell das Etikett "Dichter der beiden Deutschland" eingetragen. Er mochte es nicht, was auch an der Berufsbezeichnung lag. Die rein politische Lektüre seiner Bücher mag ihn verstimmt haben. Er wollte ein Bild von der Welt vermitteln, das anders nicht zu geben ist. Unmittelbare Absichten verfolge Literatur nicht, und seine Geschichten wollte er nicht in ein politisches Schlagwort eingeschnürt sehen.
Und doch haben wenige die Schizophrenie des Lebens, das zwischen Ost- und Westdeutschland so gleich und so verschieden war, erfahren und zur Sprache gebracht. Uwe Johnson hat zwischen den Stühlen gesessen, vielleicht mit einer Hoffnung: "wenn einer in der Mitte stehen will um jeden Preis, kann er wohl klaren Kopf behalten".
Johnsons Weggang wurde von Schmähungen begleitet, die - wie ihre detaillierte Behandlung in den "Begleitumständen" (Frankfurter Vorlesungen) beweist - unvergessen blieben. Peter Hacks unterstellte Johnson 1959 auf dem primären menschlichen Interessengebiet, der Gesellschaft, Dummheit. Hermann Kant bezichtigte Johnson des Diebstahls, weil er ein staatliches Stipendium beansprucht hatte, ohne durch die Ausübung eines geregelten Berufes Rückzahlung zu erstatten. Er nannte wenig später Johnsons Bücher "Produkte aus Unverstand und schlechtem Gewissen", falsch und böse sei ihre Aussage, tiefe Verworrenheit spiegele ihren Stil. Als Johnson eine Einladung des DDR-Schriftstellerverbandes 1962 nicht annahm, folgte ein beleidigender Artikel Kants im "Neuen Deutschland".
Nach seinem Wechsel in die Bundesrepublik verhielt sich Johnson ebensowenig "staatsbürgerlich" wie zuvor in der DDR, und es wurde ihm im gleichen Maße verübelt. Ein einschneidender Zusammenstoß mit der westdeutschen Öffentlichkeit wurde durch die falsche Wiedergabe seiner Äußerungen über den Mauerbau ausgelöst. Verwirrung rief die Ausgewogenheit hervor, mit der Johnson die Tatbestände aus der Sicht beider Seiten beschrieb. "Diese Mauer ist nur ein Ereignis, ein wirkliches Ereignis, das die Menschenrechte verletzt, wie sie in einer westlichen Konvention festgelegt sind, die von dem Ostblock nicht anerkannt wird."
In einer Zeit, wo Kriegsschuld und Kriegsniederlage der Deutschen aus dem Auge verloren wurden, erinnerte Johnson diese Ereignisse als den eigentlichen Grund für die Teilung Deutschlands. "Eigentlich hätten wir nach 1945 alle still sein müssen." Man könne in der Welt nicht über Deutschland reden. "Das ist ein Land mit einer Schande, die nicht vergeben werden kann. Das Einzige, was ein Reden oder Schreiben über Berlin rechtfertigen könnte, das ist eben die Teilung, die Grenze, die Entfernung." Direkt auf die öffentlichen Institutionen Westdeutschlands bezogen, die die Kriegsniederlage Deutschlands nicht eingestanden, wiederholte er 1969 seine Warnung. "Die territorialen Forderungen, die hier und da immer wieder laut werden, halten unsere Nachbarn, besonders unsere östlichen Nachbarn, in einem dauerhaften Zustand der Unruhe."
Skeptisch hat er sich 1974 zu einer Vereinigung von DDR und BRD geäußert: "Was mich angeht, so ist keine Aussicht, daß beide deutsche Staaten noch einmal vereinigt werden können, eben wegen der in einem Vierteljahrhundert gewachsenen Unterschiede in den Produktionsverhältnissen, der Machtverteilung, der moralischen und egoistischen Werteskala, ja auch schon in der Kultur." Keiner der beiden Staaten biete, Johnsons Überzeugung nach, eine deutsche Lösung, "beide sind Übergangslösungen". Die Grenze in Deutschland sei vielleicht stellvertretend für den "Unterschied in den beiden heute angebotenen Arten zu leben und für die Dringlichkeit der Alternative, die die eine eben für die andere darstellt".
Johnsons Widerwille, in verbreitete Urteile über Ereignisse deutscher Gegenwartsgeschichte einzustimmen, wurde durch seine gründlichen Recherchen erhärtet. Das schützte ihn vor Vereinnahmungen; an Versuchen fehlte es nicht. Im nationalen Zweistaatenstreit ließ Johnson sich keiner Seite zuschlagen. Die hohe Empfindlichkeit für Übergriffe in seine individuelle Lebensordnung, die ihm in Ost und West widerfuhren und die von sicherheitsdienstlichen Verletzungen begleitet waren, entwurzelte ihn aus nationalstaatlicher Identität. Erlittenes bestätigte ihm jede Gegenwart, was Vergessen und Verdrängen ausschloß.
Die Menschen seiner Bücher, mit denen er lebte, sind in die Regionen verwoben, denen sie entstammten. Nicht selten liegen die auf dem Territorium der DDR. Noch 1977 hielt Johnson, seit drei Jahren in England lebend, vor der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt eine Rede, die auf diese Wurzeln verwies: "Es ist wahr, aufgewachsen bin ich an der Peene von Anklam, durch Güstrow fließt die Nebel, auf der Warnow bin ich nach und in Rostock gereist, Leipzig bot mir Pleiße und Elster, Manhattan ist umschlossen von Hudson und East und North, ich gedenke auch eines Flusses Hackensack, und seit drei Jahren bedient mich vor dem Fenster die Themse, wo sie die Nordsee wird. Aber wohin ich in Wahrheit gehöre, das ist die dicht umwaldete Seenplatte Mecklenburgs von Plau bis Templin, entlang der Elbe und der Havel, und dort hoffe ich mich in meiner nächsten Arbeit aufzuhalten, ich weiß schon, in welcher Eigenschaft, aber ich verrate sie nicht."
Johnsons "Versuch, eine Mentalität zu erklären" war also trotz seines resümierenden, auf einen Endpunkt drängenden Charakters nicht der Schlußstrich unter dem Thema DDR. Aber wohl unter dem der DDR-Staatsbürgerschaft mit ihren Folgen. Johnson veränderte nicht den Blickwinkel des ehemaligen DDR-Bürgers, aus dem die abgedruckten Äußerungen der anderen abgewogen wurden. Das präzise Erkennen war eben auch ein Wieder-Erkennen. Er legte bloß, daß eine Staatsbürgerschaft durch Willenserklärung und Ortswechsel nicht aufgehoben werden kann. Die Schäden, die in der Personalisierung der Beziehung zwischen Bürger und Staat zum Ausdruck kamen, erfahren eine auf ihren Grund gehende Beschreibung. Die selbsterlassene Legitimität des Staates, im Alltag der Bürger Staatlichkeit und Ideologie so zu verankern, daß sie dessen Gang und Gestaltung bestimmen, analysiert Johnson in ihrer zerstörerischen Kraft. Die Loslösung aus dem System zeigt den hohen Grad der Verwurzelung. Der Schlußabschnitt "Es geht auch anders.", im Druck kursiv, will die notwendige mündige Haltung demonstrieren. Frei von Sentimentalität ordnet sie die Arbeit an, die zur Erfahrungsbildung erst führt. Mit der Souveränität dem Staat gegenüber, die diese Formulierungen einleitet, benennt Johnson die für deutsche Bürgergeschichte traditionsärmste Haltung. Diese Wendung erhebt den Staat DDR zum Exempel, der damit an Singularität verliert. Erstaunliche Verwandtschaft mit Johnsons Versuch findet sich in den "Thesen zur Staatenlosigkeit" des Hölderlin-Forschers Dietrich E. Sattler. Auch er fordert einen Befreiungsakt. "Wir sind in einen Staat verschlagen", lautet Sattlers erste These, "und sollten ihn verlassen, sobald wir dazu fähig sind." Staat und Land sind bei Sattler getrennte Sachverhalte; man muß sein Land nicht verlassen, um sich vom Staat zu befreien.
Gefühle des Einzelnen - Liebe oder Haß - dem Staat gegenüber führen zu einem Verhältnis, das fragwürdiges und gefährliches Handeln nach sich zieht. Es kann gipfeln in Nationalstolz und die Aussperrung des Anderen praktizieren. Johnsons diszipliniert arbeitende Sprache zeigt den nüchternen Ausweg.
Möglicherweise wiegt sich der heutige Leser in der Gewißheit, auf schadlose Weise in Johnsons Sprache zu finden. Die Teilung zeichnet sich bereits als beinahe Vergangenes ab. Schneller als die von vielen gewünschte Rückgabe der Staatsbürgerschaft im Austausch gegen eine neue scheint die Auflösung der Instanzen zu erfolgen, die auf irgendeine, möglichst entschädigende Weise die Rückgabe registriert. Die Schnelligkeit, nun von dem, was wir als DDR erlebten und erleben, uns zu verabschieden, verharmlost die Tragweite dieses Vorgangs. Vom Grad der Gründlichkeit, mit der wir die zurückliegende Geschichte beschreiben lernen, wird es abhängen, ob sich die Fehler der Jahre nach 1945 wiederholen. Nicht die Idylle DDR wird zu entdecken und zu bewahren sein. Das ist sie nie gewesen. Erst der entschlossene Bruch mit dem verhängnisvollen System von Ideologemen gibt den Blick frei auf die eigentlich stattgefundene Geschichte. Sie ist unsere Geschichte, geprägt durch unsere Handlungen und gezeichnet von unseren Unterlassungen. Für die nötige Aufarbeitung bedeutet der übereilte Austausch einer alten ungeliebten Staatsbürgerschaft gegen eine neue größte Gefahr. Von der Amnestie zur Amnesie ist es weniger als ein Schritt.
"Ohne realen Gegenwert" (wie z.B. einer anderen, die alte verdrängenden Staatsbürgerschaft), heißt es in der 37. These Sattlers, "verzichtet derjenige,der aus seiner Ungebundenheit keinen Hehl macht, auf alle Vorteile, die ihm Anpassung gewähren würde, denn er muß weiterhin unter den Bedingungen der Anpassung leben und bekommt die Verzweiflung derer zu spüren, die sich selbst an ihre Sicherheit und ihr Fortkommen verraten haben." Auf solche Art Verzicht verweist Johnsons Text, aber auch seine Biographie. Es ist gleichfalls ein Verzicht auf erneuerte staatsbürgerliche Anpassung, die alles Unabgegoltene begleichen soll. Die Rechnungen vertragen es, offen zu bleiben.

 

 

siehe auch

Uwe Johnson. Befreundungen

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