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Inhalt

Jakob Ullmann WIRD SCHÖNBERGS PFEIL FLIEGEN?
Zum kolloquium "warum noch in die wiener schule gehen?"
Wolfgang Ullmann HOFFNUNG ALS ERINNERUNG. Zur Stellung Ernst Blochs in der Geschichte unserer Zeit

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Jakob Ullmann WIRD SCHÖNBERGS PFEIL FLIEGEN?
Zum kolloquium "warum noch in die wiener schule gehen?"

 

Man kommt um eine gewisse verwunderung ja nicht herum, wenn man im jahre 1988 gebeten ist, den letzten beitrag zu einem kolloquium zu leisten, das der frage nach heutiger relevanz der sogenannten zweiten wiener schule sich zu widmen unternommen hat. Längst, so sollte man meinen, gibt es andere, auch wichtigere themen: Zum beispiel, daß da einer, der auf den titel "geliebter führer" besonderen wert legt, Nicolaie Ceaucescu nämlich, dabei ist, einen historischen kulturraum im wahrsten sinne des wortes plattzuwalzen, dem nicht nur Bartok und Ligeti entstammen, sondern auch Brancusi, Ionescu und - nicht zu vergessen - Iannis Xenakis. Ein illustrer kreis von namen in der kulturgeschichte dieses jahrhunderts.

Geografisch näher, dafür allgemeiner: wäre es nicht an der zeit, sich einzugestehen, daß unsere situation weit eher als vom streit, etwa um die zweite wiener schule, durch eine ja durchaus fatale solidarität unter dem deckmantel von "breite und vielfalt", um nicht zu sagen, von "ausbau und vertiefung" (1) gekennzeichnet ist. Eine solidarität, die dem allgemeinen gefühl der beklemmung entspringt, das sich einstellt angesichts der tatsache, daß, je heftiger das fähnlein der künstlerischen freiheit geschwenkt, ja die unbotmäßigkeit den mächtigen gegenüber betont wird, die absolute folgenlosigkeit solchen tuns nur um so offenbarer wird. Und: eine solidarität der angst, es könnte eines tages tatsächlich einer kommen, der es laut sagt: wir brauchen euch nicht mehr, ihr habt uns lang genug gedient, tretet ab, wir können euch bzw. eure vorgänger inzwischen weit besser ohne euch vermarkten. Die angst vor diesem schwarzen mann verschleiert und verdrängt zudem - und dies ist höchst erwünscht allerseits - die realität, die auf leisen sohlen eben dies schon tagtäglich vollzieht. Sollte es eines sichtbaren beweises noch bedurft haben, so hat ihn kürzlich die "deutsche bank" geliefert, als sie eine etage ihrer frankfurter bürofestung in "Beuys-ebene" umbenannte.

Kein wunder also, daß der erfolg, der kleine applaus die einzige erholung, ja die begründung der existenz der künstler wird. Man will ihn, man braucht ihn und man wird darüber duldsam gegenüber den kollegen, um zu gegebener zeit selbst nachsicht erwarten zu können. Die ergebnisse sind denn auch danach. Ausnahmen bestätigen wie immer die regel.

In solcher situation bietet die zweite wiener schule wahrlich kaum ein modell: was den erfolg angeht, so ist sie bis heute eher ein disaster und duldsam waren ihre herren vertreter wohl auch gerade nicht. Ich stehe nicht an, dies unzeitgemäße als chance zu begreifen. Alte schlachten sollten nicht immer wieder geschlagen, sondern beendet werden: was im klartext zunächst doch heißt, diesen untoten, die werke der komponisten um Arnold Schönberg erst einmal zu tatsächlich klingendem leben zu erwecken.

In anderer hinsicht allerdings waren sie immer sehr lebendig: sie sind seit ihrer entstehung als "zersetzend", "ungesund", ja "entartet" diffamiert und verfolgt worden. Und zwar - und dies ist für mich anlaa genug einen beitrag zu diesem kolloquium zu leisten - nicht nur während der zwölf jahre totaler herrschaft der mörder, sondern weit über das jahr 1945 hinaus. Ich meine nun damit nicht jene, die über der lektüre von Lukács "zerstörung der vernunft" die eigene derart verloren haben, daß sie nicht nur nicht mehr wissen, wo rechts und links ist, sondern in der gut-deutschen tradition des denunzierens Schönberg und seine mitstreiter selbst zu faschisten, zu nazi-ideologen machen. (2) Nein, ich meine ein kollektives vergessen unserer eigenen geschichte, das so tut, als
seien die möglichkeiten, die sich ungefähr seit jenem Schönberg-gedenken von 1974 vermehrt ergeben haben, die hier auch mitnichten verkleinert oder bestritten werden sollen, schon genug der aufarbeitung für das, was davor geschah - versteckt oder offen - und die anhaltende ferne besagter werke von der musikalischen szenerie.

Die musik der zweiten wiener schule erhält im versuch ihrer ausrottung ihre besondere würde. Sie ist offenbar noch pfahl genug im fleisch des musikbetriebes, der sich zäh und hartnäckig in all seiner bürgerlichkeit erhält. Wenn ich mich im folgenden auch Schönberg beschränke, so tue ich dies auch deshalb, weil mir die einschränkung auf Schönberg, Webern und Berg von heute aus kaum einleuchtend erscheint. Zeitweise zumindest befand sich jene wiener schule in los angeles: von John Cage wäre also (und ist) zu reden, ebenso von den russischen und sowjetischen kollegen, die wie ihre gedichte und romane schreibenden landsleute von den verheerungen einer beinah 30 jahre währenden art von kulturpolitik betroffen waren, die nicht einmal davor scheute, "aus spaß ... die maske des verbrechers" zu wählen, wenn es darum ging, mißliebige personen beiseite zu bringen. Nachzulesen in Ilja Ehrenburgs memoiren.

Wie sehen denn nun die konsequenzen aus, wenn die würde jener stigmatisierung dieser kunst ausgangspunkt der betrachtung ist? In der bildersüchtig gewordenen welt unserer tage, die in ständig wachsendem maß bereit und in der lage ist, ihre realität durch eine inszenierung derselben zu ersetzen, gerät ihre abbildung zu nichtiger farce, sie hebt sich selber auf. Kein wunder also, daß autoren besondere konjunktur haben, die die tragödie des letzten menschen als heldentod in szene setzen und ihrem publikum vermittels des romantischen orchesters wohlige schauer über den rücken jagend zu einem genußvollen, geradezu unterhaltsamen abend verhelfen. Schwerer hat es da schon der warner, nämlich Friedrich Nietzsche, der den letzten menschen zeigt, wie er ist: blinzelnd und die angst vor jener wüste, die wächst und wächst im leibe; der gift in kleinen, später immer größeren dosen zu sich nimmt, um noch wenigstens eines einigermaßen angenehmen todes sicher zu sein. (3)

Und doch: nicht nur den großen blender, auch - wenn auch mit noch weit weniger recht - den warner hat das terrorregime der zwölf jahre für seine zwecke auszunutzen gewußt. Bis zur letzten konsequenz bekämpfen mußte es jedoch die werke eines komponisten - der autor ist, wie man weiß, glücklicherweise den mordgesellen entgangen -, die für führerhauptquartiere nicht nur nicht zu brauchen sind, sondern zudem einem denken entspringen, für das auch jenes zweite gebot, das die bilder verbietet, zentrale richtschnur des handelns bildet. Dies denken betreibt damit die destruktion des mythos, ohne den kein führerhauptquartier auskommt. Selbst die wörter, so bekommt es der komponist des bilderverbots beim schreiben seiner oper zu spüren, sind den mythen des 20. jahrhunderts mindestens virtuell derart verfallen, daß sie, falsche bilder zeugend, ihre völlige unangemessenheit vor dem wort erweisen. Schönberg nimmt dies scheitern nicht zurück, er nimmt überhaupt nichts zurück. Er beharrt darauf, daß "sich durch Töne etwas nur durch Töne Sagbares ausdrücken läßt" (Heinz-Klaus Metzger, L'art contre l'art, in: Musik-Konzepte, sonderband Arnold Schönberg, münchen 1980, s. 205).

Ein punkt ist also zunächst festzuhalten: Schönbergs musik ist der beweis, daß es nicht nur notwendig, sondern daß es auch möglich ist, musik zu schreiben, die für führerhauptquartiere nicht taugt. Und dies ist bleibende verpflichtung jeder musik seither. Man muß es sich immer wieder vor augen halten, wenn man etwa die völlige manipulierbarkeit von musik behauptet, um stücke weiter zu rechtfertigen, die dem (und anderen) führerhauptquartieren ja nicht schlecht getaugt haben oder taugen für ihre zwecke. Wie sonst könnten wir heute die 9. sinfonie von Beethoven als gipfel humanistischer kompositionspraxis auffassen, wo sie doch zum standardrepertoire gehörte, wenn die braunen mordgesellen ihre mitwelt für die front konditionierten.

Schönberg wird immer wieder vorgeworfen, er betreibe die kunst nur um der kunst willen, sei ein vertreter der formalistischen variante des "l'art pour l'art". Natürlich, wenn man Schönbergs leistung darauf beschränkt, daß es ihm gelungen sei, fehlerlos bis zwölf zu zählen, dann ist es heute höchst überflüssig, über ihn zu reden. Aber was heißt den "l'art pour l'art" im falle Schönbergs: es hieß doch für ihn ja in erster linie, daß die werke ohne weitere begründung sich selbst genügen und auch sich selbst bestehen können. Natürlich muß dies auf widerstand, ja blinden haß stoßen bei jener überwiegenden mehrheit, die den klassenkampf längst durch den kampf um statussymbole und den abfall einer beharrlich auf den totalen kollaps zusteuernden wachstumsmaschinerie ersetzt haben und sich gerade deshalb den anspruch Schönbergschen werks verkneifen müssen. Von woher es auch nicht verwundert, daß das "gesunde empfinden" dieses volkes bemüht wird, wenn es immer mal wieder daran geht, dem Schönberg, dem expressionismus oder möglichst gleich dieser ganzen "pseudo-avantgarde" den garaus zu machen. Buhschreier und provokateure finden sich noch genug, deren haß um so größer ist, weil sie musik weniger beschädigen können als die werke der bildenden kunst (von Karpow und Moore bis Beuys und Vostell). Nicht wenig ungemütlich wird es den anstiftern solchen tuns (so es ihrer bedarf) allerdings, wenn, wie im fall der berühmten konferenz zum werk von Franz Kafka 1963 in liblice bei prag, dieses werk scheinbar überraschend fünf jahre später politische konsequenz zeitigt. (4)

Der zustand, auif dessen richtigkeit das oeuvre Schönbergs ruht, ist noch weit entfernt. Sicher ist jedoch, daß er auf den unveräußerlichen dekreten ruhen wird, die für Schönbergs werk bestimmend wurden. Deshalb und nur deshalb durfte Schönberg mit jenen 99 takten des "survivor from warsaw" seinem wichtigsten promotor, Theodor W. Adorno, widersprechen, als jener angesichts des unfaßbaren grauens als konsequenz der unwiderruflichen außerkraftsetzung jeder rechtsordnung das ende bisher möglicher kunst forderte. Deshalb ist das werk des Schönbergschülers John Cage auch keine der bühne verhaftete spielerei mit sozialer utopie, denn es nimmt den gesellschaftlichen zustand vorweg, in dem jeder ohne angst verschieden sein kann - wie Adorno freiheit beschrieb.

Das problem hat natürlich auch eine kompositionstechnische seite. Schönberg schrieb gelegentlich seiner komposition des "kol nidre": "Eine meiner Hauptaufgaben war, die Cello-Sentimentalität der Bruch, etc. wegzu vitrolisieren und diesem Dekret die Würde eines Gesetzes, eines ,Erlasses', zu verleihen. Ich glaube, das ist mir gelungen." (aus: "Brief an Paul Dessau", zitiert nach Jvan Allende-Blin, Arnold Schönberg und die Kabbala, Musik-Konzepte, a.a.o., s. 143)

Daß er dies bei der kompositorischen arbeit gerade nicht mit hilfe seiner "zwölfton-methode" tat, mag man verwunderlich finden und man mag es dem auch von Schönberg verwendeten traditionellen nigun, der singweise dieses schwurs zuschreiben. Auf jeden fall ist dies ein indiz, daß das konstruktionsgerüst der partitur erst folge jenes gesetzes ist, das Schönberg zur grundstruktur seiner musik machen, ja sie ihm anverwandeln wollte. Die konstruktionsgesetze sind immer erst konsequenz eines denkens, das der musik die würde eines erlasses gibt. Damit wird - und dies ist ja in der abendländischen musik der letzten mindestens zwei jahrhunderte eher ungebräuchlich - jener dialektik der boden entzogen, die immer erst aus these und antithese die dann oft versöhnliche, manchmal gloriose oder auch betrübliche synthese herstellen konnte. Auf der technischen ebene macht diese unweigerlich einen neuen umgang mit der "zeit" als kompositorischem phänomen nötig. Schönberg erklärt: "Der zwei- oder mehrdimensionale Raum, in dem musikalische Gedanken dargestellt werden, ist eine Einheit." (aus: "Komposition mit Zwölf Tönen", zitiert nach: Allende-Blin, a.a.o., s. 139) Eine stelle in der partitur von "Moses und Aron" nun macht darauf aufmerksam, daß dieser darstellungsraum die einheitliche gestalt der "Ewigkeit" (2. akt, insbesondere takt 1001 ff., sowie takt 1073 ff.), der aufhebung der zeit also, hat. Zeit kann seither nicht wie bisher verwendet werden, "time ist the last frontier of music" (Conlon Nancarrow).

Es ist spätestens dies nun der punkt, an dem deutlich wird, daß Schönbergs kompositorisches denken in einem kontext zu begreifen ist, der von den grundlagen physikalischen wie mathematisch-philosophischen diskussionen unseres jahrhunderts nicht zu trennen ist. (5) Nicht nur die wesentlich durch H. Minkowsky ausgearbeitete fassung Einsteinscher relativitätstheorie, die es erlaubt, die koordinaten eines ergebnisses im vier-dimensionalen kontinuum des geschehens zu betrachten, ermöglicht einen neuen blick auf die - auch über's "rein-musikalische" hinausgehenden - implikationen des kompositorischen denkens Arnold Schönbergs; mit dem hinweis auf die "Ewigkeit" ist die verknüpfung mit dem streit um das aktual-unendliche offensichtlich, in dem jene fragestellung wieder aufgenommen wurde, der vor mehr als 2000 jahren der philosoph Zenon in seinen berühmten aporien eine klare und über jahrhunderte die diskussion bestimmende form der darstellung gab. (6)

Beide verweise mögen weit hergeholt erscheinen; kompositorische praxis, könnte man meinen, bestellt ganz andere felder. Daß die "zeit" aber eines der zentralen phänomene ist, dem sich die arbeit des komponisten zu stellen hat, dürfte unbestreitbar sein. Nicht zuletzt hier fällt die entscheidung gegen den mythos, dessen "tradition der botschaft, die eigentlich von nirgendwoher" (Claude Levi-Strauss, Mythologica I, Das Rohe und das Gekochte, frankfurt am main 1976, s. 34) kommt, nur allzuleicht zu jener manichäischen dialektik zwischen "nacht" und "licht" gravitiert, die die musikgeschichte, namentlich seit dem letzten jahrhundert, durchzieht. (Natürlich ist es auch jene verweigerung der dialektik zwischen der "nacht" und dem "licht", die zudem nicht einmal dadurch, daß quasi in vorwegnahme der synthese alles aus einer zelle sich entfaltet, gemindert wird, die die interpretation gerade der retonalen werke Schönbergs durch vorgeblich linke exegeten so gewunden, ja letztlich unfroh werden lassen.)

Die aufhebung der zeit, die "Ewigkeit", setzt die perspektive auf geschichte frei, denn sie ist kein bild eines zu erreichenden zustandes, sondern - und dies ist für den juden Arnold Schönberg vielleicht leichter zu konstatieren als für andere - der reale, einzige - hintergrund, auf dem (künstlerische) texte geschrieben werden können, damit aber auch die richtschnur, an dem sich der jeweilige ausdruck des "gedankens", die texte also messen lassen müssen. (7)

Worauf es also ankommt, ist die wirkliche öffnung zur geschichte und die ist nicht abhängig davon, ob man zwölftönig komponiert oder nicht. Es ist schon verwunderlich, wie wenig komponisten dies zur kenntnis genommen haben, konnten sie's doch an Schönbergs spätwerk, wie dem werk des damaligen schülers John Cage lernen. Die öffnung zur geschichte setzt die entmachtung des mythos voraus. Und wenn Cage mit bewundernswerter beharrlichkeit seine töne und linien erwürfelt, so kann er dies tun, weil er alle klänge ohne unterschied in den raum der stille einbettet, die die realität ihm noch läßt, ja die das eindringen akustischer realität im wahrsten sinne zwanglos gestattet. Er tut damit nichts anderes als Xenakis mit seiner "komposition außerhalb der zeit", die den mythos, jeden mythos verwirft, weil der autor erkannt hat, daß die realität eben jenseits augenscheinlicher dialektik der unaufhörlichen wiederholung liegt; damit auch jenseits jener dialektik, für die das kunstwerk nichts verbirgt und nichts offenbart, sondern das zukünftige nur als vergangenes erweist, dessen ordnung es andeutet. (8)

Der beweis des Zenon ist die verschleierte gewalt der Sphinx, denn er ist die waffe Apolls, der den pfeil, das totbringende rätsel zum logos, zum beweis domestiziert hat und der, auf dem panzer der getöteten schildkröte spielend, zur ewigen wiederkehr unausweichlicher tragödie der zerstörung der natur für die kultur voranschreitet. Sein tempel in delphi birgt denn auch die todbringenden sprüche, die den spruch am eingang des tempels "gnothi seauton" zur falle machen. Wer getroffen ist vom pfeil Apolls, zerstört sich selbst.

Schönberg hat versucht, den gegenentwurf auf die bühne zu bringen. Nicht indem er dem Apoll den Dionysos entgegengestellt hätte. Nein, Schönberg hat es gemerkt, daß beide in der "raserei" eins sind, und daß die raserei, die mantik der pythia zum götzenbild gehört, wie der götze nichtiges bildwerk ist. Schönberg ist an der fertigstellung gescheitert, denn er konnte das wort der dekrete nicht zu einem bildwerk erniedrigen. Er hat bemerkt, daß die sprache derart zerfressen ist von einer ironie, die selbst die worte des heiligen nicht verschont hätte im munde des künstlers. (9) Dennoch: im vielleicht notwendigen scheitern zeigt sich die künstlerische verpflichtung und über die vertonung der dekrete hat Schönberg zu einer sprache gefunden, die, weil sie es verweigert, ideologisierender oder den bauch traktierender zusatz zum text zu sein, die mythen der führerhauptquartiere ihrer nichtigkeit überführt.

Es hat dies, leider, wenig schule gemacht. Zu sehr war man mit der kopie der technik oder ihrer vorgeblichen vervollkommnung befaßt oder den ideologisierten mythen - und seien sie noch so hehr - verhaftet. An menschen wie Cage sieht man, daß die wiener schule lebt.

Wird also Schönbergs pfeil fliegen?
Es ist, wie immer, an uns.

 

(1) Beides sind standard-formulierungen veröffentlichter meinung der ddr, wobei erstere vor allem im zusammenhang mit "kultur" gebraucht wird. Zur letzteren hat schon Karl Kraus das nötige gesagt (vgl. "die letzten Tage der Menschheit" sowie "Fackel" vom september 1918 "Die Speiwürdigkeit dieses Zeitalters ist aber wohl noch nie so plastisch an uns herangetragen wie in der Orgie dieses Merkworts vom Ausbau und von der Vertiefung.")

(2) Auch dies hat eine nicht auf die fünfziger jahre beschränkte tradition. Kürzlich erst erschien in "sinn und form" ein beitrag von Wolfgang Harichs "Revision des marxistischen Nietzschebildes?", der - wenn auch ohne Schönberg mit namen zu nennen - an eindeutigkeit der denunziation nichts zu
wünschen übrig ließ. So schrieb Harich u.a.: "... daß faschistische politik und spätbürgerliche kulturzersetzung [Harich meint hier die von ihm sogenannte 'deutsche, die französische, die spanische und die russische pseudoavantgarde'] eineiige zwillinge sind." In diesem kontext erscheint es fast seltsam, das attribut "entartet" für diese "pseudoavantgarde" nicht anzutreffen. Es ist aber auch beinah das einzige, das der autor ausläßt.)

(3) Vgl. Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Zarathustras Vorrede 5

(4) An der konferenz in liblice waren wichtige vertreter des später sogenannten "prager frühlings" von 1968 beteiligt, die dort, ausgehend vom werk Kafkas, die umgestaltung des sozialismus öffentlich diskutierten. (Vgl. dazu Franz Kafka aus Prager Sicht, prag 1965)

(5) Das stichwort hierzu liefert Adorno in einer fußnote der "Philosophie der neuen Musik", in der er auf den zusammenhang von Schönbergs kompositorischem denken mit der analytischen philosophie aufmerksam macht; allerdings nicht ohne diesem hinweis sofort mögliche brisanz zu nehmen: kompositorisches denken, das auch dodekaphonische konsequenzen zeitigt und die philosophie Carnaps oder Wittgensteins sollen den intellektuellen der wiener caféhaus-kultur wie das schachspiel "eigentümlich" sein. Der geistesgeschichtliche horizont weist weit über solche verknüpfungen der oberfläche hinaus. (Theodor W. Adorno, Philosophie der neuen Musik, frankfurt am main 1978, s. 63 f.)

(6) Der philosoph Diogenes von Sinope pflegte umherzulaufen, um die argumentation in den zenonischen aporien zu entkräften (Diogenes Laertius VI, § 39). Allerdings soll er einen schüler verprügelt haben, dem diese form des beweises, der augenschein, genügte (Sextus Empiricus, pyrrh. hyp. III, 8, § 66).

(7) Der pfeil des Zenon, der nicht fliegen kann, ist nicht der pfeil, den man abschießt; Achill und die schildkröte sind nie vor aller augen gelaufen. Man kann die aporien des Zenon deshalb auch nicht durch den augenschein widerlegen; entmythologisierung richtet hier nichts aus. Die entmachtung des mythos, sei es in der mathematik, sei es in der musik, ist nicht möglich, ohne die anerkenntnis jenes hintergrundes, der das papier abgibt, auf dem die namen der realität erscheinen können.

(8) Vgl. Heraklits entsprechendes fragment, Heraklit nr. 93, in: H. Dids, Die Fragmente der Vorsokratiker, berlin 1922, s. 96

(9) Vgl. Michail Bachtin, Estetique de la création verbale, paris 1984, s. 351

(aus KONTEXT 6, Juli 1989)

 

 


Wolfgang Ullmann HOFFNUNG ALS ERINNERUNG. Zur Stellung Ernst Blochs in der Geschichte unserer Zeit

 

Das hat es wirklich einmal gegeben und wir konnten dessen sogar Zeuge werden, denn wider Erwarten geschah es in unserer Zeit: Eine Philosophie wurde zum revolutionären Impuls, eine sich zur roten Fahne des Marxismus bekennende Philosophie lehrte eine ganze Generation von Intellektuellen in kapitalistischen Ländern das Hoffen, wo aller Zubehör spätkapitalistischen Wohlstands schal geworden schien.

Es war gewiß kein Wunder, wenn eine Philosophie fesselte und begeisterte, deren Sprache, hochpersönlich im Ausdruck, in fast barocken Kurven verschwenderisch im Handhaben einer aus enzyklopädischer Bildung genährten Metaphorik, sich ebenso fernhielt von Terminologiengeklapper des Professorenjargons wie von der Schwarzweißmalerei oder den grauen Trivialitäten der parteiideologischen Agitation. Diese Ausdrucksmöglichkeiten aber erschließen sich nicht allein aus publizistischem Könnertum. Bloch sprach und schrieb begeisternd, weil er eine Tradition vertrat, der anzugehören der Marxismus, trotz seiner materialistischen Metaphysik, sich niemals geschämt hat: der des klassischen deutschen Idealismus vor und nach 1800. Und wenn Bloch diese Tradition vertretend Hoffnung zum Prinzip erheben wollte - als Tendenz hat sie diese Philosophie von allem Anfang bewegt und begeistert. Nicht zufällig hatte Lessing auf Joachim von Fiore als Aufgang eines wirklichen Morgenrotes schon im Mittelalter verwiesen, der nicht als antiquierte Schwärmerei abgetan werden dürfe. Auch für Kant lautete eine der Grundfragen, die der Mensch sich zu stellen hat: Was dürfen wir hoffen? Und merkwürdig: Der von Nichtkennern so gern als obskurantistisch verschriene Schelling ist mit seiner Lehre von einem kommenden dritten Weltalter des Geistes weit mehr Bannerträger jenes neuzeitlichen Hoffnungsgedankens als der der Dämmerung und der spät ausfliegenden Eule der Minerva verschwisterte Dialektiker Hegel.

Bloch konnte gelegentlich (in seinem Müntzerbuch von 1922) bemerken, Marx habe das Latente am Sozialismus übersehen, das erst nach der Oktoberrevolution bewußt und formulierbar werde. Offenkundig konnte Bloch dann seine Aufgabe darin sehen, dieses Latente in seinem ganzen Umfang manifest werden zu lassen. Und eines hat er ganz gewiß damit geleistet: Die Impulse des utopischen Sozialismus, seit der Ersten Internationale und erst recht seit 1917 verdeckt unter der Herrschaft von Parteipolitik, dem Kampf um Machtgewinn und Machtbesitz, wieder in ihrem ganzen humanen und sozialen Gehalt zum Leuchten zu bringen, ohne die Errungenschaften von Marx' Kapitalismus- und Klassenkampfanalysen preiszugeben. Hieraus erklärt es sich auch, daß viel eher eine Philosophie wie die Blochs es war, die kritische Kräfte gegen den Machtpositivismus der Stalinära zu entbinden vermochte, als etwa das trotz aller Eigenständigkeiten, die marxistisch-leninistische Schuldogmatik nie verleugnende Schrifttum von Georg Lukács.

Es war ein für deutsche Nachkriegsgeschichte in mehrfacher Hinsicht signifikanter Vorgang, als Blochs "Prinzip Hoffnung" 1959 bei Suhrkamp erschien und damit Wirkungen initiierte - zumal als der Verfasser 1961 von Leipzig nach Tübingen übergesiedelt war -, die niemand voraussehen konnte, als die blauen Blochbände des Aufbauverlages, wie das Müntzerbuch, die große Hegelmonographie "Subjekt-Objekt" oder die ersten Teile von "Prinzip Hoffnung" ganz harmlos in den Schaufenstern der DDR-Buchhandlungen standen, ohne daß jemand auf den Gedanken gekommen wäre, in ihnen die heiße Ware zu vermuten, in die sich jene Bücher in den 60iger Jahren verwandelten.

Wie kam das? Es kam, weil die erste Nachkriegsära, die der Konfrontation und des kalten Krieges, sichtlich ihrem Ende zustrebte, seit USA und UdSSR im Jahre 1962 wechselseitig ihre Offensivwaffen aus der Türkei und Kuba zurückgezogen hatten. Die Kampfrufe "Sozialismus gegen Imperialismus" oder "Freiheit gegen Totalitarismus" verloren auf beiden Seiten an Aktualität und auch an Überzeugungskraft, nachdem man offensichtlich ins Zeitalter der Entspannung und der Koexistenz eingetreten war. Ein Klimawechsel, der in den westlichen Ländern keineswegs zu einer Stärkung der öffentlichen Autoritäten beitrug. Im Gegenteil! Hatte die Bundesrepublik ihre staatliche Sonderexistenz immer wieder damit begründet, daß sie ein die Einheit Deutschlands beförderndes und im Endeffekt auch bewirkendes Provisorium sei, so hatte sich diese Doktrin spätestens seit dem Berliner Mauerbau als eine Illusion, wenn nicht gar als ein durchsichtiges Täuschungsmanöver erwiesen. Kein Wunder, wenn die politisch bewußte und aktive Jugend, vor allem die Studenten, diesen Staat als bloßes Establishment zu betrachten begannen, das in ihren Augen jede öffentliche Autorität verloren hatte.

Nicht viel anders die Kirche. Nach dem Krieg hoch angesehen als einzige Institution, deren Gleichschaltung dem NS-Regime nicht gelungen war, verspielte sie diese Autorität in dem Maße, wie sie ihre Theologie als Legitimation jenes Establishments benutzte und ihre eigene Organisation diesem in einem Maß anpaßte, das ihre Berufung auf die Tradition der Bekennenden Kirche in einem sehr merkwürdigen Licht erscheinen ließ.

Und die Universität? Gerade jene, die sich in Westberlin unter dem anspruchsvollen Prädikat "Freie" neu organisiert hatte? Keineswegs war sie jenes Zentrum politisch-sozialer Erneuerung, wie es das hochgegriffene Attribut beanspruchte. Bestenfalls war sie ein Spiegelbild der unklaren Frontbildungen zwischen rechtskonservativen Altherrenverbänden, die über die Korporationen Einfluß zu erlangen versuchten, und den linksliberalen, sozialistischen oder christlichen Studentengruppierungen, deren Aktivitäten sich in recht verschwommenen Beziehungen zu dem abspielten, was man unter "akademischer Freiheit" verstand.

Unter diesen politischen Umständen mußte eine Philosophie höchstes Interesse erregen, die Marx lesbar werden ließ als den exemplarischen Fall des "roten Intelligenzenwegs" (Bloch, Prinzip Hoffnung, Bd. 3, Frankfurt am Main 1977, S. 1606), die Klasseninteressen der Intelligenz aber gleichzeitig zu transzendieren versprach als ein Programm "sich tätig begreifender Menschlichkeit" (ebenda). Und vor der sozialen Psychoanalyse eines Marcuse oder dem Neo-Linkshegelianer Adorno hatte Bloch gewiß den weiteren Horizont voraus und die tiefere Verankerung im Kontext der Philosophie- und Religionsgeschichte. Schon in dem kurz nach dem Ende des Ersten Weltkrieges publizierten "Geist der Utopie" hatte Bloch eine höchst originelle Synthese von Musik- und Religionsgeschichte mit dem Skopus zukunftsorientierenden Philosophierens realisiert. Aber er blieb dabei nicht stehen, sondern tat noch einen weiteren Schritt in Richtung auf Historie und Politik, indem er 1922 eine philosophische Retraktation des herkömmlichen deutschen Bildes der
Reformationsgeschichte vollzog, die sich an Müntzer und nur noch polemisch an Luther orientierte. Die Mängel des Buches sind heute leicht zu erkennen, Mängel der Historiographie und der Quelleninterpretation ebenso wie die Abhängigkeit von Sekundärliteratur, speziell die gänzlich unkritische Übernahme der Urteile von Troeltsch. Aber trotzdem bleibt das Buch eine Pionierleistung. Anders als das am Parteien- und Klassenspektrum des 19. Jahrhunderts orientierte Bauernkriegsbuch von Engels hatte Bloch Müntzer als Theologen interpretiert, und indem er ihn als "Theologen der Revolution" stilisierte, schuf er ein Paradigma, das seit den 60iger Jahren in der ganzen christlichen Ökumene erstaunliche Wirkungen zeitigte und noch in den Müntzerthesen der SED vom Anfang dieses Jahres nachklingen sollte.

Das Hauptwerk "Prinzip Hoffnung" verallgemeinert das Vorangegangene, indem es einerseits der Diskussion des Materiebegriffs eine Wendung zu geben versuchte, die den Materialismus aus der Enge eines sektiererischen Primitivismus herausführen und andererseits anhand einer originellen Interpretation der 11 Feuerbachthesen Marx in die Fundamente dieser Philosophie der Revolution und des antizipatorischen Bewußtseins integrieren sollte.

Blochs Interpretation von Materie orientiert sich einerseits am aristotelischen Begriff des der Möglichkeit nach Seienden (dynamei on) und gewinnt ihr eigenes Profil in der Behauptung, man müsse dies - gegen Aristoteles selbst - ineinssitzen mit dem Begriff der Entelechie, der bestimmenden Form. Eine Festsetzung, die die Grundlagen der Ontologie des Aristoteles schlechthin sprengt, aber einmal mehr beweist, wie weit der Materiebegriff des neuzeitlichen Materialismus von dem der Antike und auch noch dem des Mittelalters sich entfernt hat. Hatten diese immer bloß den Gegensatz des Formbaren zur distinktiven Form vor Augen, so meinte jener seit Schelling - seine Identitätsphilosophie von 1801 tat hierzu den entscheidenden Schritt - und Feuerbach
immer das Prius des Seins vor dem Bewußtsein, den Vorrang der Faktizität und der Konkretheit vor der bloßen Materialität und Äußerlichkeit. Bloch hatte sich für die Vorgeschichte seines Materiebegriffs gerne auf Autoren berufen, die im Mittelalter als pantheistische Häretiker verurteilt worden sind, wie Amalrich von Bena und David von Dinant, hat aber auch aus seinen eigenen Beziehungen zur Weltalterphilosophie Schellings nie ein Hehl gemacht. Daß in der übrigen marxistischen Philosophie auf den Spuren von Engels bis auf den heutigen Tag Feuerbach als der Wendepunkt zum Materialismus betrachtet wird und nicht die zeitlich wie inhaltlich vorangehende Kritik Schellings an der Negativität der rein begrifflichen Philosophie Hegels, das zeigt nur, in welchem Ausmaß hier Unklarheiten über die eigenen historischen Grundlagen herrschen.

Für die Wirkungen Blochs ausschlaggebender freilich als die ontologisch reichere Fassung des Materiebegriffs wurden die drei Grundaussagen seiner Interpretation der Marxschen Feuerbachthesen. Zwischen einer erkenntnistheoretischen Absage an einen rein kontemplativen Erkenntnisbegriff zugunsten einer Subjekt-Objekt-Durchdringung in arbeitender Erkenntnis und erkennender Arbeit auf der einen und einer ähnlich gelagerten Revision des traditionellen Gegensatzes von Theorie und Praxis steht im Mittelpunkt, was Bloch die anthropologisch-historische Gruppe der Feuerbachthesen nennt, jene, deren Thema die Aufhebung der Selbstentfremdung des Menschen im wahren Materialismus zum Gegenstand hat (Thesen 4, 6, 7, 9, 10).

Aufhebung der Selbstentfremdung des Menschen im Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse, nichts anderes kann nach Bloch Thema und Inhalt der Geschichte sein. Und wo anders vollzieht sich solche Aufhebung als im "Materialismus nach vorne", der "Fülle des Materialismus ohne einen schlecht entzauberten Himmel, der auf die Erde geführt werden müßte" (a.a.O., S. 310). Solche Sätze wurden vor 20 Jahren mit Begeisterung gehört - und wie auch nicht! Schienen sie doch tatsächlich so etwas zu bieten wie "die totale Erklärung der Welt aus sich selbst", Artikulation des Lebensgefühls einer ganzen Generation, die inmitten kapitalistischen Überflusses Entfremdung bis zum Ekel ausgekostet hatte.

Warum aber sprechen wir über das alles in einem beinahe nostalgischen Imperfekt? Weil wir aus den optimistischen Illusionen des Prinzips Hoffnung zu der harten Überlebens- und Selbstbehauptungsethik des "Prinzips Verantwortung" (Hans Jonas) erwacht wären? Das nun ganz gewiß nicht! Denn was wäre das wohl für eine Verantwortung, die ohne Zukunftshoffnungen das bloße Überleben sichern will und darum die Katastrophe schon in die Planung einbezieht?

Halten wir lieber fest, daß die Philosophie der Hoffnung ebensowenig auf Illusionen hinauswollte wie ihre Transkription zur Theologie der Hoffnung, am allerwenigsten auf die billigen eines gutmütigen Optimismus. Aber warum erwies sich ihr Prinzip als ebensowenig fähig, den Sozialismus mit menschlichem Gesicht durchzusetzen wie die Universität im Sinne jener Einheit von Erkenntnis und Arbeit, Theorie und Praxis zu reformieren? Ich finde die Erklärung in Blochs Text, wenn ich lese, das vorscheinende Horizontlicht, in dem das Bewußtsein antizipatorische Kraft beweise, zeige sich psychisch als Wunschbild, moralisch als Ideal, ästhetisch als Symbol (a.a.O., S. 275). Da stehen sie, die wohlbekannten Stichworte aller großen Idealisten - aber was sollten sie zur Orientierung helfen in der Welt von 1967 und 1968, angesichts der Spaltung des sozialistischen Lagers in die VR China der Kulurrevolution, die CSSR der Partei- und Staatsreform? Welche unüberbrückbaren Klüfte zwischen Blochs Interpretation und den historischen Wirklichkeiten des Pluralismus, der Kontradiktionen regierender marxistischer Parteien! Beinahe könnte man meinen, die von Bloch intendierte Synthese aus Hegel, Schelling und Marx sei an dem gescheitert, was Popper in seiner berühmten antiplatonischen und antimarxistischen Polemik die geschlossene im Gegensatz zur offenen Gesellschaft genannt hat. Aber Bloch ist selbst ein gutes Beispiel für die Unzulänglichkeit von Poppers Vermischung von Pluralismus und Offenheit. Ist nicht das Prinzip Hoffnung gerade ein Programm der Offenheit und der Öffnung, freilich der entschiedenen und exklusiven Öffnung zur Zukunft hin? Und zeichnet sich die sogenannte offene Gesellschaft durch solcher Art Offenheit aus? Diese Frage muß immer wieder einer allzunaheliegenden Blochkritik entgegengehalten werden. Aber wer sie stellt, wird sich auch der Einsicht nicht verschließen können: Die Utopie als solche und Hoffnung samt allen ihren Antizipationen sind nicht, was den Weg in die Zukunft erschließt. Und gerade jene spezielle Einheit von Theorie und Praxis, die das politische Handeln charakterisiert, wird von einer notwendig immer apolitischen Utopie wieder und wieder im Stich gelassen.

Aber so muß es auch sein. Zukunft ist Geschichte, und nimmermehr wird es dem bloßen Gedanken - und sei er einer der allerkühnsten Antizipationen - gelingen, den Weg in die geschichtliche Wirklichkeit der Zukunft zu eröffnen. Zitieren wir hier denjenigen der Autoren unseres Jahrhunderts, der im Gegensatz zu Ernst Bloch schließlich noch mit dem Verlust seines Lebens bezeugt hat, wie wenig man sich auf Tendenz, Prozeß und die ohnehin schon gesicherte Latenz verlassen kann, wenn es um den Weg in die Zukunft geht. Walter Benjamin ist es gewesen, der nur dem Geschichtsschreiber die Kraft zugestehen wollte, "im Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufachen" (Walten Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: Allegorien kultureller Erfahrung, Leipzig 1984, S. 159), der von dem Wissen durchdrungen ist, es gibt einen Feind, vor dem auch die Toten nicht sicher sind. Es ist jener Aspekt von Geschichte, in dem Fortschritt und Katastrophe ein- und dasselbe sind, die Anhäufung aller der Trümmer, in die Vergangenes zerfallen ist (vgl. ebenda, S. 161). Man hat noch immer Mühe, zu begreifen, daß es theologische Gründe waren, die Benjamin nötigten, den historischen Materialismus zu Hilfe zu rufen gegen einen Fortschrittsbegriff, der in seiner Servilität vor dem Faktischen, das ohnehin kommt, stets zum Sklaven und Propagandisten der jeweils stärkeren Bataillone wird. Benjamin meinte, der historische Materialismus müsse als Anwalt der dem Fortschritt Geopferten, der Geschlagenen und Zerschlagenen auftreten, weil sie, buchstäblich auf ihr materielles Sein reduziert, allein als solches Anteil haben können an einem Endzustand, der von einer Theologie gefordert wird, in der kein Seiendes als solches als gleichgültig oder von Natur aus böse aus der relevanten Wirklichkeit eliminiert werden darf.

Und Benjamin scheut sich nicht zu sagen: Wo zwischen Fortschritt und Katastrophe geschieden werden soll, damit die Geschichte aufhöre, ein Berg von Trümmern zu sein, da bedarf es eines Gerichtes, so wie in der christlichen Lehre von den letzten Dingen der wiederkehrende Christus den Antichristen entlarvt und richtet (vgl. ebenda, S. 158). Aber was sollen wir uns unter dem Antichristlichen vorstellen, wo unser Geschichtsbewußtsein von einem solchen Begriff so weit entfernt ist, daß selbst Theologen Schwierigkeiten haben, ihm irgendeinen Sinn abzugewinnen? Dennoch, dieser Begriff ist unvermeidlich, weil das Antichristliche nichts anderes ist, als die Verleugnung der Einheit der Humanität in allen Menschen aller Geschlechter, Kulturen undGesellschaften.

Abermals wird hier eine theologische Überlegung unumgänglich. Wenn der Weg in die Zukunft ohne Gericht nicht gefunden werden kann - sollte dann Hoffnung die Tugend sein, die ihn uns entdecken läßt? Rosenstock-Huessy hat in einer Kritik der Hoffnungs-Christologie der 2. Weltkirchenkonferenz von Evanstone 1954 darauf hingewiesen (vgl. Eugen Rosenstock-Huessy, Das Geheimnis der Universität, Stuttgart 1958, S. 262 ff.), wie hier die Kirchen in denselben Spuren gehen, die wir bei Bloch in die Sackgasse der geschichtslosen Utopie führen sahen. Christus als Weltzukunft und Welthoffnung, das ist gewiß nicht der, der im Neuen Testament die Seinen auffordert, wachsam zu sein, damit sie vom Tag des Gerichtes nicht überrascht werden. Und erst wer in solchem Glauben Zukunft gewinnt, dem tun sich Hoffnungen dafür auf, daß auch die Vergangenheit in einem neuen Licht Rechtfertigung und Erlösung findet. Blochs Philosophie aber, die die Zukunft aus der Hoffnung gewinnen will statt aus der gläubigen Erkenntnis der Geschichte, muß darum zu einer Auffassung Zuflucht nehmen, die die Kirche schon im 2. Jahrhundert als mit ihrem Bekenntnis unvereinbar verurteilt hat, zur Lehre Marcions, nach der Jesus einen neuen, bisher nicht gekannten Gott verkündet habe: "Das Neue aber war der neue Gott, der schlechthin Fremde" (Bloch, Prinzip Hoffnung, Bd. 3, S. 1499).

Ob eine eilfertig Blochs Prinzip transformierende und sich assimilierende Theologie den Marcionitismus in ihm überhaupt bemerkt hat oder nicht: Wer das Ganze aller geschichtlichen Zeiten und der Humanität in ihnen bejahen und verteidigen will, der wird sich von Marcion und Bloch trennen und an der Einheit des Alten und des Neuen Testaments festhalten müssen.

Den Respekt vor Bloch wird er dabei gewiß nicht zu verlieren brauchen. Noch einmal und gewiß ein letztes Mal hat er Philosophie an die Fronten der gesellschaftlichen Auseinandersetzung geführt. Klarer als je hat es sich in den vergangenen 20 Jahren gezeigt, daß Blochs Hoffnungen für uns Erinnerungen geworden sind. Nichts in der mittlerweile erschienenen philosophischen Literatur kann sich an sozialer und kultureller Relevanz dem vergleichen, was in Mathematik und Naturwissenschaften entdeckt worden ist, etwa im Hinblick auf die Struktur des Kontinuums der Materie, des Raumes, des genetischen Codes. Und haben all diese Erkenntnisse nicht als solche auch unmittelbar philosophische Relevanz?

Wenn uns aber heute die katastrophengezeichneten Geschichtsthesen Benjamins näher stehen als jene 11 berühmten über und gegen Feuerbach, dann gewiß nicht, weil wir uns im Gegensatz zu Marx wieder aufs bloße Interpretieren zurückziehen wollen, sondern vielmehr deswegen, weil die Veränderung der Welt einen solchen Grad der Beschleunigung erreicht hat, daß alle anderen Fragen von einer verdrängt worden sind: In welcher Richtung haben wir diese Veränderung zu lenken, damit eine gemeinsame Geschichte der ganzen Menschheitsgesellschaft möglich wird und bleibt?

(aus KONTEXT 5, März 1989)

 

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