antje kaiser

andreas koziol

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Inhalt

Antje Kaiser ASPEKTE VON NEUER MUSIK
Andreas Koziol TEXTE

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Antje Kaiser ASPEKTE VON NEUER MUSIK

 

Das ist richtisch, sagte die Dame...
Das Meer ist voll Wasser: das soll einer verstehen...
Wir haben noch genug Zeit, auf einem Friedhof zu liegen...
(ERIK SATIE)

Es ist schwer, Tendenzen und Wesentliches eindeutig auszumachen; schon innerhalb einer Komponisten/Musikergeneration, schon erst recht bei dem komplizierten Geflecht, welches die Intentionen und Tatsächlichkeiten Jüngerer und Älterer, noch im Aufbruch Befindlicher oder schon Etablierter (auf welchem Sektor auch immer) bilden. Schon gar nicht gelingt sowas aber ohne Kontext, ohne den Hintergrund, der urplötzlich Vordergrund zu werden verspricht. Es scheint unmöglich, den Bereich Neuer Musik aus seiner gewissen Isolation und gesellschaftlichen Peripherie in ein Licht zu ziehen, was ihm Reflexion und Interesse, sprich der Neuen Musik Wirksamkeit zuwachsen läßt, auch außerhalb der sogenannten "Insider". Obwohl ich überzeugt bin (es gibt
auf vermittelten Wegen Wirksamkeit und ein Eigenleben der modernen Musik), daß dieses Kranken Neuer Musik am "Insidertum" (wo doch ihre besten Leute eigentlich auf die gesamte Gesellschaft ausgehen) zum Teil Fiktion ist. Es kommt immer so heraus, als sei die Sprache, die die Neue Musik führt, also ihre qualitative Beschaffenheit dafür verantwortlich, daß sie sich so wenig mitteile und nur von einem "Elite"-Publikum rezipiert wird. Ich will die Neue Musik nicht verteidigen, das hat sie nicht nötig. Man muß aber Verschiedenes auseinanderhalten, was die Situation und die Mechanismen betrifft, wie sie sich in diesem Bereich zur Zeit in der DDR-Kulturlandschaft darstellen.

Zum ersten - die Neue Musik schlechthin gibt es gar nicht. Wenn sie sich keiner Massenrezeption erfreut, Konzerte in der Regel zu schwach oder nur von immer den gleichen Interessenten besucht sind, so wird meist vergessen, daß es auch in der Neuen Musik schlechte und gute Musik gibt, beide aber gleichermaßen aktive Rezeption erstmal voraussetzen. Hier ist schon die Schwelle: die ständige Verfügbarkeit klassischer Musik sowie jeden anderen Genres über die Medien hat den Hörer von der life-Sphäre moderner Musik entfernt (wobei der Bereich der "seriösen", neukomponierten Musik am schlechtesten wegkommt). Dahinter steht die Ausbildung eines ganz neuen, komplizierten Netzes von Kommunikationsweisen und -ansprüchen im 20. Jahrhundert. Verständnis neuer künstlerischer Sprache setzt eine gewisse Regelmäßigkeit der Auseinandersetzung voraus, eine gewisse Einübung.1

Zur modernen komponierten Musik - es liegt auf der Hand, daß sich Hörerfahrung und Bereitschaft zur Begegnung mit avanciertem Materialdenken nur ungenügend ausbilden, wenn die Strukturen zu schwach entwickelt sind (oder stagnieren), die eben diese life-Sphäre geistig und materiell ausbilden.

Musik und Musiktheater sind extrem stärker als Literatur und Malerei auf die institutionelle Vermittlung angewiesen. Die Institution ist nicht selten strukturkonstituierend für sie, im rein künstlerischen Material. Weder der Mechanismus der Lesung noch der der Ausstellung noch der der mündlichen Tradierung taugen für komponierte Moderne (wäre mal zu überlegen, warum eigentlich nicht).

Musik ist entweder auf dem Papier - wo sie außer dem Musikwissenschaftler wohl keiner liest; wohl kann sie aber in der Form, unaufgeführt, ein utopisches und trotzdem revolutionäres Potential darstellen, und nicht von ungefähr hat sich mancher Komponist seit der klassischen Moderne bis heute auf diesen äußersten Standpunkt zurückgedrängt gesehen, weil die Noten 'unzeitgemäß' unrealisierbar blieben (oder zumindest auf größere Schwierigkeiten stießen als die an die herrschenden Strukturen anpassungsfähigeren Kompositionen anderer - klassisches Gegensatzpaar Schönberg/Hindemith). Oder, um zur aufgeführten Musik zu werden, bedarf die Note des Interpreten, der organisatorischen Realisierung, des life-Raums. Ich greife nun nur diesen Punkt heraus, den für das Wesen dieses Kunstbereiches doch wichtigsten: daß es für die Moderne life hier weder hinreichend Interpreten, noch Aufführungsorte, auch mal experimentellerer - d.h. über den (inzwischen vielleicht auch tödlichen) Konzertsaal hinausgehenden - Art, noch genügend flexible Organisationsformen, noch hinreichend Gelder gibt.

Ein anderes Blatt wäre bereits wieder, daß Neue Musik sowohl in der DDR als auch z.B. in der BRD relativ gering auf Platte, geschweige Compact Disc erscheint, hier wie dort aus schlichten geschäftlichen Gründen. Und daß umgekehrt Neue Musik im Rundfunkt bis jetzt noch am ehesten Verbreitung findet, aufgrund einiger engagierter Leute dort und zugleich aufgrund der Anonymität des Mediums. Nur gibts dort leicht wieder die Kehrseite, daß (wie im renommierten Konzertsaal) Quantität vor Qualität tritt, und ein Feigenblatt bildet - also: Neue Musik ist präsent, "Bestandteil unserer Kultur", "Breite und Vielfalt", nur ist die Frage, ob das Gesendete unbedingt das Verbreitungswürdigste ist. Doch führt die Beleuchtung der Medien hier zu weit infolge der nicht geringen Vermittlungsschichten, denen diese schwerfälligen Apparate unterliegen (wo z.B. Gelder und Rechtsfragen und Fragen des fachkundigen Engagements nur teilweise eine Rolle spielen), die auseinanderzuhalten mühsam ist und mich im Moment auch langweilen würde.

Nun weiter zum Sinn des Komponierens und zur life-Aufführung Neuer Musik. Es hat sich, verschärft in den letzten Jahren, eine extrem unterbelichtete Situation hergestellt. Viel zu wenig Interpreten und Interpreten-Nachwuchs sind vorhanden, die bereit sind, sich - jenseits materieller und prestigeartiger Beweggründe - für Neu-Komponiertes, Unerprobtes einzusetzen. Zum einen liegt das darin begründet, daß in der Ausbildung an den Musikhochschulen die Moderne nach wie vor ein Schattendasein führt, von Ausnahmen wie zum Beispiel der Unterricht des Komponisten Jörg Herchet in Dresden, auch der Initiativen des Pianisten und Komponisten Steffen Schleiermacher in Leipzig oder Studenteninitiativen in Berlin abgesehen. Es fehlt also der ideelle Boden, als Voraussetzung für die Auseinandersetzung mit der Sache um der Sache selbst willen. Denn, das ist der zweite Punkt, der zwar mit der Begrenzung der jüngeren Musikgeschichte mit Richard Strauss (zugespitzt gesagt) in der Ausbildung der Hochschulen und sonstigen Musikinstitute zusammenhängt, aber immer gravierender und verselbständigter erscheint: die kulturpolitische Umorientierung, Erweiterung des Musiklebens auf stärkeren Austausch, stärkere Öffnung hinsichtlich Gastspielen in den 80er Jahren hat, da sie gleichzeitig vorwiegend auf vordergründige ,presentazione' und Geld orientiert, auch den Negativerfolg. Interpreten, Komponisten, vor allem Jüngere, verfallen in verflachte und außerkünstlerische Motivationen. Sie wollen sich möglichst schnell künstlerisch profilieren, reisen, den begehrten Stellenwert im Musikbetrieb zu erlangen (alles legitim), aber am wenigsten verspricht ihnen dieses sowas Unattraktives wie Neue Musik, sofern sie experimentelles Gebiet betritt und wirklich Neues, auch im Verhalten zu den Noten und zum Rezeptionskontext fordert. Da ist auch das kurzatmige und zugleich langlebige Phänomen, daß sich ein junger Interpret und Komponist durch Bekannt- und Aufgeführtwerden in westlichen Gefilden erst rückwirkend tatsächlich im Inland etablieren kann.

Diese moralischen Punkte entstammen aber praktischen Verhältnissen, z.B. daß man für Uraufführungen von Stücken anspruchsvollerer Struktur viel Probezeit braucht, sowohl hochspezialisierte künstlerische Technik als auch einen angemessenen geschichtlich-sozialen Horizont sich erarbeiten und anwenden können muß; beides läuft der Schnellebigkeit des Musikbetriebes und zugleich der Unflexibilität der DDR-eigenen musikpolitischen Strukturen
entgegen. Zum Beispiel ist da die Degeneration der Rolle des Komponisten-Verbandes sprechend, ein aufgeblähter Verwaltungsapparat, der eher hemmt, wo es lediglich, also wirklich lediglich organisatorisch-praktisch zu fördern gelte. Ergebnis ist, daß trotz der Musik-Biennale, der DDR-Musiktage, trotz gewisser ausschließlich spezialisierter Konzertreihen und Podien alles in allem Neue Musik am Rande ,mitverkauft' wird, meist auch repräsentiert durch Stücke (der
'gemäßigten Moderne' sowie in deren Tradition stehender oder unverhohlen sich ,volksverbunden' gebender, zeitgenössischer Komponisten), die einen gewissen Erfolg vorausberechnen lassen. Aber selbst die wirkliche Sprengkraft, die Neue Musik haben kann, macht dann auch inzwischen keinen
kulturpolitischen Leitsatz und keinen Konzertsaal mehr wanken - man denke an die im vergangenen Frühjahr im Schauspielhaus Berlin stattgefundene Aufführung von Friedrich Schenkers Requiem für Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg ("Traum ... Hoffnung ... - Ein deutsches Requiem"). Ergebnis ist auch, daß es nur wenige, mehr oder weniger stark etablierte Interpretenvereinigungen (in Leipzig, Berlin, Halle, Weimar, Dresden) für Neue Musik gibt. Ähnlich sieht es hinsichtlich spezialisierter Gruppen für die Kammeroper oder das Musiktheater entgrenzter Formen aus: Interpretenensemble finden sich (und vergehen wieder) in Ansätzen (zur Zeit gibt es Bemühungen in Dresden im Tanztheater des Schauspielhauses; in Leipzig ausgehend von Initiativen des Komponisten Thomas Heyn; in Berlin von Seiten des Theater im Palast).

Den eklatantesten Einschnitt, - grelle Beleuchtung bildet für mich in der neuentstandenen Situation in den 80er Jahren hinsichtlich des Innenlebens und der Weiterentwicklung der Neuen Musik, hinsichtlich neuer Impulse, Lehrer-Schüler- Kontinuitäten, notwendiger Ablösung der Trägerschaften durch jüngere Generationen - daß zwei der besten und avanciertesten Komponisten, Nicolaus Richter de Vroe und Johannes Wallmann, nicht mehr in der DDR leben. Beide hatten eigenes Komponieren mit einem außergewöhnlichen Engagement für life-Struktur, für die Organisation flexibler, offener Interpretengruppen hohen Standards verbunden. Wallmann in Weimar und Richter de Vroe in Berlin hatten es zeitweise geschafft, für Aufführungen höchstartifizieller Musikliteratur wie z.B. Cage zu sorgen, sowie für Uraufführungen von DDR-Komponisten, die noch am Anfang standen und zugleich recht ungewöhnliche Wege einschlagen wollten. Über kurz oder lang aber überstieg die Aufreibung des Organisatorischen, der kraftfressende Versuch, inmitten ungenügender
Bedingungen (zudem meist außerkünstlerischer Natur) den Anspruch hoher Avanciertheit des Programms und zugleich ebensolcher interpretatorischer Qualität zu halten, den persönlichen Einsatz.

Steffen Schleichermacher, ebenfalls wie die beiden Genannten ein sehr guter Musiker, gelang es, indem er sich auf seine eigenen Interessen streng begrenzte, die Initiative zu halten: hierorts bisher gar nicht oder zu wenig bekannte Werke von Komponisten der russischen Avantgarde der 20er Jahre, von unbekannten Komponisten der westlichen klassischen Moderne aufzuführen sowie ebenfalls für Uraufführungen zu sorgen.

Gesamt betrachtet: ich würde die Situation eine verlangsamte Implosion nennen. Unmöglich ist es den vorhandenen Gruppen, das eigentliche interessante Potential zeitgenössischer Musik zu realisieren, das eine größere Relevanz hat als der klingende Musikbetrieb glauben machen will. Natürlich läßt sich die Kritik des Mißstandes nur zum Teil an die Musiker (bzw. die nicht vorhandenen Musiker) oder an die Komponisten selbst delegieren (gar hinsichtlich vielleicht mangelnder Flexibilität für die Selbstorganisation von Aufführungen eigener Werke - denn: auch die sich rühren, rennen dauernd gegen Wände, und nicht selten bleibt vor lauter unfreiwilligen Abstrichen vom Anspruch nichts mehr übrig). Sondern es verläuft die kulturpolitische Förderung (oder Gewährenlassen) von flexiblen Freiräumen materieller und ideeller Art, von Möglichkeiten des Ausprobierens kreativer Extravaganz und des Experiments, aber auch von stetig aufbauender Kontinuität, deren komplizierte Kunstprozesse auch dringend bedürfen, eben in viel zu starren Bahnen bzw. findet gar nicht statt - innerhalb der gegebenen musikkulturellen Strukturen (wo in der Regel Leute Entscheidungen treffen, die fachlich inkompetent sind und das, was sie fördern sollen, mit ihrer eigenen persönlichen Ästhetik "Würschtel, Bier und ein frisches Lied" bemessen), und außerhalb dessen.

Zum Beispiel stoßen die Versuche von Robert Linke, Kompositionen mit Video, Aktion und Malerei zu verbinden, Jakob Ullmanns computertechnisch-artifizielle Partituren und Anforderungen an die Instrumentalisten, auf ebenso materielle bzw. organisatorische Grenzen, wie bei der Auseinandersetzung mit der Bühne (Linke komponiert für Schauspiel, Ullmann mit einem rein gestisch gedachten Musiktheaterstück), die künstlerischen Borniertheiten im Fach, die eingefleischten Selbstverständniskategorien und das Schubfach-Denken des jeweiligen Genres stößt. Letztlich sind es immer ideelle Grenzen.

Natürlich sind die Beispiele nicht willkürlich, ich könnte mit selbem Recht andere aufführen. Erstens gefallen mir ihre Stücke, ihre Musik persönlich. Zweitens halte ich die beiden Komponisten in der Generation etwa Jahrgang 1960 für wichtig, und nicht wegen ihres (scheinbaren) Außenseitertums - Ullmann wird kaum aufgeführt, weil er "zu schwer" ist, Linke ordnet sich mit seinen synasthetischen Ambitionen und Aktivitäten nicht in den Kanon sanktionierter Werk- und Veranstaltungsformen ein - sondern wegen der Absolutheit ihrer Ansprüche und zugleich der Kraft, Zuständigkeit ihrer Musik; und insofern beleuchtet das Profil beider mir am deutlichsten die angerissene Situation. Die gesellschaftliche Förderung von Kunstprozessen unterliegt gewissen Kurzschlüssigkeiten (da wo investiert wird, ideell und materiell, soll auch der Soforteffekt, der gesellschaftliche Nutzen herauskommen - absurd! und erst recht für so spezialisierte, empfindliche Bereiche wie Neue Musik).

Seit Jahren ist eine Substanzentleerung hinsichtlich kreativen Potenzen zu beobachten. Ich meine künstlerisches Potential, das institutionelle Grenzen im positiven Sinne aufsprengt und im selben Sinne gesellschaftliche Grundfragen berührt. Verzeichne ich das für die avancierte neuere Musik als extrem, vermute und finde ich ähnliches in anderen Bereichen bestätigt. Natürlich gibt es das Mittelmaß, genügend Musikstrategen des Umfelds und genügend Komponisten können davon leben, fördern den Eindruck einer breiten Kultur täuschend ähnlich und hegen außerdem den Wahn, vorwärtsweisend und profilbildend zu sein.

Längst wäre eine zentrale Reform der Ausbildungsformen notwendig. Zeitgenössische Moderne muß mehr als ungeliebtes Pflichtfach oder Sprungbrett für exportträchtige Klassiker-Jungvirtuosen werden. Aber eigentlich fängt es schon bei dem gewissen musikalischen Analphabetismus an, den die Schulbildung überhaupt sich gestattet. Ich betone diesen Punkt deshalb penetrant, weil er nicht fern liegt, sondern die Hälfte der Wurzel ist. Die andere Hälfte wäre vielleicht das Bemühen um die verlorengegangene öffentliche Diskussion, um den öffentlichen Dialog, der selbst in den Fachkreisen vereinseitigt. Natürlich gibt es die Fach-Zeitschriften. Aber die Musikwissenschaftler machen sich zunehmend etwas vor, unfreiwillig in einen luftleeren Raum abgedrängt, wenn sie ihre öffentliche Reflexion hinsichtlich Werkstruktur, Interpretation, Aufführungsereignis, Individualbiographie nur ins Verhältnis zu einem abstrakten, in der Benennung seiner ursächlichen Mißstände und Verfestigungen tabuisierten gesellschaftlichen Kontext setzen. Anstatt der Entleerung auch mal an der Wurzel (leider ist das dann der Unterbau oder außerkünstlerische Seiten des Überbaus) zu entgegnen, und sei man noch so ungeübt darin.

Ursache und Wirkung sind bald nicht mehr auseinanderzuhalten, und es verwirrt sich der Kausalzusammenhang zwischen Borniertheit überindividueller Strukturen und Borniertheit in den Köpfen. 2 Was der russische Regisseur Anatolij Wassiljew während eines Gastspiels in Berlin (West) auf einer Pressekonferenz äußerte und auf sein Theater zu Hause bezog, nämlich daß das Problem nicht das heutige Theater sei, sondern was aus ihm werde in fünf Jahren, wenn die heutigen Inhalte und momentanen Formen verbraucht seien - d.h. wenn also der Boden für neue Inhalte und Substanzen abhanden geht - das läßt sich als angemessen perspektivische Fragestellung ebenso auf den Bereich Neuer Musik in Theater und Musiktheater bei uns beziehen (übrigens auch sehr scharf auf die szenographische und szenische Zukunft dieser Bereiche).

In der DDR hat die offizielle Rezeption der klassischen Moderne - also z.B. der Werke von Schönberg, Webern, Berg, Strawinsky, auch des frühen Prokofjew und Schostakowitsch der 20er Jahre, geschweige denn jener eines Ives oder Varese - sowie die offene Kenntnisnahme der westlichen Avantgarde nach 1950 (u.a. Boulez, Stockhausen, Nono, Ligeti und deren Schüler) erst ungefähr Mitte der 70er Jahre eingesetzt. In der jahrzehntelangen Ignorierung dieser jüngsten musikalischen Entwicklung und Tradition folgte die DDR-Kulturpolitik getreu stalinistischen Vorstellungen und Verdikten, die von fachlichen Vertretern aus dem Inland auch kräftig theoretisch unterstützt wurden. Man will das jetzt vergessen. Da also Aufführungen, Rundfunksendungen, Platten, Noten dieser Musik fehlten (letzteres gibt es auch erst sporadisch seit Anfang der 80er Jahre), fehlt diese Musik bis heute noch weitgehend im öffentlichen musikalischen Bewußtsein, im rezeptiven Bewußtsein überhaupt. Ein absurder Zustand.

DDR-Komponisten, solchermaßen bis Ende der 60er Jahre von Weltentwicklung eigentlich ausgeschlossen (u.a. die heute etablierten Vertreter der mittleren Generation), haben sich aber immer 'unter-der-Hand' mit modernen musikalischen Techniken und neuen Wegen des musikalischen Denkens auseinandergesetzt (durch das Studium von Noten, eigenständige handwerklich-ästhetische Auseinandersetzung, durch Schülerschaft bei solchen in der Geschichte noch verwurzelten Vorbildern und Initiatoren wie Hanns Eisler, Paul Dessau, Rudolf Wagner-Regeny). Und diese Generation von z.B. Friedrich Goldmann, Paul-Heinz Dittrich, Reiner Bredemeyer, Jörg Herchet, Siegfried Matthus, Georg Katzer - sowie Friedrich Schenker und Hermann Keller, die sich vor allem mit improvisatorischen Momenten beschäftigen - hat seit den 70er Jahren eine gültige eigenständige Moderne installiert, bemüht, hinter den Standard westlicher Avantgarde nicht mehr zurückzugehen, doch eigene Wurzeln darüber auch nicht wieder zu vergessen. Die, durch die Werke dieser Komponisten letztlich mitbewirkte Öffnung, sowohl hinsichtlich einer selbständigen Diskussion fortschrittlichen Materialdenkens, hinsichtlich neuen Parametern für Sinn und Formen zeitgenössischen Komponierens, und die kulturpolitische Öffnung der DDR nach draußen seit Anfang der 80er Jahre, das Bekanntwerden der Musik jener mittleren Generation im Ausland, die zunehmende Individualisierung dieser Komponisten im Laufe der 80er Jahre, taten das ihre.

Der Unterschied zur jüngsten Generation besteht nun vielleicht darin, daß sich die Vertreter derselben - die bereits genannten Ullmann, Linke, Richter de Vroe, auch Schleiermacher (die Schüler von Goldmann) und andere wie Helmut Zapf, Juro Metsk - aus dem allgemein verbindlichen Konsens einer DDR-eigenen Ästhetik und handwerklichen Entwicklungskontinuität (wenn es beides je gab) herauslösen. Zwar ist der Bezug zur politischen Ästhetik eines Dessau, Eisler, Brecht (vermittelt über die Lehrer-Schüler-Beziehung) in den Werken jüngster Neuer Musik auch aufgehoben, aber verschieden prägnant. Ob bewußt proklamiert oder unbewußt im praktischen ethischen und sozialen Verhalten - ästhetische Bezüge erstrecken sich längst auf Komponisten der älteren westlichen Elite wie Satie und Cage, auf jüngere wie Stockhausen, Boulez, Nono und Xenakis, auf die Philosophien beispielsweise des Ives, Thoreau, der Russen der 20er Jahre.

Natürlich ist dies nur eine Tendenz, die ich hier als die mir persönlich wesentliche benenne; es gibt diametrale wie den von Udo Zimmermann in Dresden ausgebildeten Nachwuchs, und es gibt in der Ästhetik vermittelnde Richtungen wie die Schüler Bredemeyers, Matthus' und Katzers. Um Wertungen zu vertiefen, sollte der Raum zum Vorstellen jeweiliger Stücke und Arbeiten sein, wozu ich, sozusagen in Fortsetzung, interessieren möchte.

Und noch in einem zweiten Punkt fußt vielleicht die Befindlichkeit jüngerer Komponisten, wenn sie denn ernstlich was von ihrem Metier wollen, wobei ich meine Befindlichkeit als etwa gleichaltrige Musikwissenschaftlerin subsumieren darf. Im selben Maße, wie die Werke, die kompositorische Aktivität, die Metier-gebundene Reflexion über Genregrenzen und tradierte Aufführungspraktiken empfindlich hinaustreiben, im selben Maße dehnt sich das Denken und Handeln über die bestätigten künstlerischen und musikpolitisch vorgegebenen Strukturen hinaus, zumindest besteht für einige keinesfalls mehr der Ehrgeiz einer Etablierung innerhalb derselben.

Die Begegnung und Auseinandersetzung mit avancierter Musik jeder Richtung, deren Aufgreifen je nach ästhetisch-künstlerischen und natürlich nicht ideologischen Kriterien geschieht, ist selbstverständlich geworden. Auch die politische Funktion von Kunst/Musik, von der Kunstmusik ist weitaus differenzierter zu sehen als es der sogenannte ,sozialistische Realismus' sieht. Ich gehe so weit, daß meiner Generation vielleicht die ständige unfruchtbare Kontra-Projektion (oder undifferenzierte Drauf-Projektion ebenso) auf den Westen, zentraleuropäische Phobien und der schwarz-weiß-Dualismus im Denken überhaupt abhanden gehen.

In meiner persönlichen Sicht, halte ich das für eine Chance, was die vorn angesprochenen Entfaltungsräume betrifft. Natürlich wäre genau zu unterscheiden: zwischen inhaltslosem, entpolitisiertem Pluralismus im Denken und Musikschreiben (sprich einer Postmoderne, die von der Moderne, auf die sie sich zu beziehen glaubt, nichts begriff, und insofern gar nicht so heißen dürfte) und andererseits einer bewußt durch Toleranz vermittelten Pluralität im Denken und Handeln (das wäre dann eine Postmoderne, die die europäischen Avantgarde-Bewegungen samt ihren politischen Intentionen und künstlerischen Innovationen begriffen aufzuheben und darin weiterzuführen verstünde).

Die Neue Musik stellt sich weniger insular dar, wenn ein Dialog einsetzt, der nicht nur die Oberfläche betastet, sondern der nach den Wirkungsbedingungen jeweils fragt.

 

1 Es herrscht seit 1917 aufgrund von Vereinseitigungen in der sozialistischen Kunsttheorie der Irrtum, Kunst für das Volk sei das, was dieses sofort versteht, was Lieschen Müller in ihrer momentanen Befindlichkeit bestätigt. Das ist zugespitzt. Aber zur Kunstrezeption gehört Wissen, bestimmte Konvention und Kontextstruktur, und das Wissen um deren Notwendigkeit, seit sich Menschen überhaupt gesellschaflich organisieren. D.h. es wird da nie Deckungsgleichheit geben, und der utopische Gehalt guter Kunst ist gerade dieses ,immer etwas weiter sein'.)

2 In einer frühen Fassung der 14. Szene von "Leben des Galilei" läßt Brecht die Virginia Montaigne zitieren: "Nicht die Dinge verwirren die Menschen, sondern die Meinungen über die Dinge." Galilei reflektiert: "Das ist vielleicht auch falsch. Wer verwirrt die Meinungen?" (Hier zitiert nach: Gespräch zwischen Wolfgang Heise und Heiner Müller, in: Brecht 88. Zum Dialog über die Vernunft am Jahrtausendende, Berlin 1989)

(aus KONTEXT 7, September 1989)

 


Andreas Koziol TEXTE

 

aus der hauptverwaltung

krusten von gesellschaftstorten,
oberschichten in drei worten
sind unbekömmlich wie vergänglich.
ihr nachgeschmack nicht lebenslänglich.
sie bricht, geschmäcker sind verschieden
zu toten wurzeln auf, die blüten
stilisieren das vergessen
von unverbrüchlichen interessen
an staatlicher kulissenschiebung
zu einer inhaltslosen übung
mit nervenenden, satzanfängen
plus zartgefühl in rauhen mengen.
die tänze um beziehungskisten
mit passionierten aktivisten
fordern mir den hintern ab.
(kein regelrechter arsch) ich hab
ihn in den rosen meiner achtung
vor den funktionen der umnachtung
des funktionärtums gern gesehn.
mein "spreche-deinen-stern-system"
entsagt den freuden der distanz
zum tod mit somnambuler militanz.
gespenst ist um, ich hülle meine stimme
ins traurige parfüm des regens
aus düsteren prognosen und besinge
die ungelegenheit des überlegens.

 

 

philosophie des oberwassers

berührte was mich tief im grund
dann wurde es zumeist bedrängt
von bildern die ich dafür fand
von bildern die man dafür hängt
daß sie gekommen sind, ich kam
sobald der fromme drang verflog
sich gleich daran zu hängen gleich
ins schwimmen oder sah kein land
und tauchte unter hielt den mund
und übte mich - dann wieder ob -
in schmetterling und toter mann

 

 

im namen der namen der chose

dein bester text, gut informierten kreisen
die schwarze meinung schriftlich zu beweisen
daß oben unten ist, gerät, kein rätselraten
zur folie für den fall aus alten unterlagen

mit sumpf und stil war ein gefühl umschrieben
als herz und haltung allzu dunkel blieben
wenn du dir luxus leistest, außer widerstand
gegen machtbeschattungslohn aus zweiter hand

dann den - daß du dein auge abwärts hältst
daß du dem boden einen schönen gruß bestellst
und dich getragen gibst, um alles aufzuheben
was vorfällt eh es heißt - ein vorfeldleben

noch eh materie in metaphern überführt ist
woran du sprachlos brennend interessiert bist
verwässert sich die wahrheit in den öden
funktionen eines binsenreims für jeden

folie für den fall du willst verstanden sein
:wahnsinn herbst und form: dein totenschein
erhöht, gesetzt, du willst noch unterschreiben
die höllendunkelziffer transzendierter pleiten

 

 

maienzieht - die menschwerdung meines abschieds
von den bäumen feiert eine innigliche stockung.
weil ich abgehauen bin vor festen stammesritualen
niemals ausgerissen wäre nur aus radikalen gründen
droht meiner phantasie zwar nun motivverdorrung
doch stehen galgenrumoresken flugs in gegenblüte.
fand keinen schlaf mit dem placebo meiner selbst,
dem traum von dir, den meine müdigkeit bemäntelt
mit einem ich-bezug aus wahrlich faseligem stoff
den du dir anmaßt alles oder nichts zu nennen.
geheimster wünsche schatten, alle feindbildflüchtig
vor freien zeiten in die zynische beschwörung
der stunde null, dem dummstag dämmerlicher utopie,
da die ästhetik reiner schmerzverkürzungstechnik
mein sehvermögen in den ärgsten schatten stellte
den je ein lichtblick auf den stand der dinge darf
scheint so die grenze meiner kränkbarkeit besiegelt
und teilt mit den verschnupften sätzen von mir weg
das schicksal unverbrüchlicher schlangenlinientreue
zum zeitdekor, den fieberkurven der gesinnungskrise.
so wahr der quell des lichts der welt das holz war
halt ich zur axt im wald, dem dickicht mir vorab,
die schwingen, platten lüsternissen was zu flüstern.
da übern strang zu phantasieren keine leistung ist
die der hohnempfängnis lohnte der sozialen stelle
hinterm komma nach der null in meinem herzen,
vertont fortuna mir den dienst am tauben punkte,
in satzungen der stummen gutenachtgesellschaft
gedichte einzuklagen - nornographische gebilde -
ist eine fahrige geschichte und vergleichsgebunden
an einen fahrschein selbst gemacht gekauft entwertet.
ein unding also - jeder schwarzfahrt gleiterscheinung.
im nacken des gesetzes ist ja gut geschwollen reden.
das bedürfnis auszusteigen noch ein wunsch zu schweben.
ein ornament des zorns, das bringt mich auf den teppich.
die große nebenrolle, unterm strang zu promovieren
hat der entrückentwicklung hehren fortschrittglaubens
zur masche doch die haut zu retten eins voraus:
ein engagement zum aufstand ihres horizonts

 

pastik und blumen

jungfräulicher rasen? - zu den unterlagen...
wie gewohnt mit deutschen ausflugsparadiesen
senkt die macht des ortes sozusagen
uns die nacht des wortes ins gewissen.
vorsicht blumen! wir vermuten
unter jeder wurzel eine elfenfalle.
gliedermann, ich sage dir im guten:
halte still. aus deiner musenkralle
blüht sonst spastik. viele fäden
führten romwärts. wurden abgekniffen.
jede plastik ist ein bruchstück eden.
habe lange nichts mehr aus der luft gegriffen.
aristotelessings. eine schöpfungskrise.
muß zusammenhängen mit dem knochenläuten.
mit machandelbäumen auf der wortspielwiese.
mit dem schlüsseldrama um den schluß für heute.

 

 

splittern von gedächtnisstützen
wegen überlasteter gesinnung
aphorismen die dich schützen
bis sie in den knochen sitzen
als vampire der spinalen stimmung

tanz in allen wunschruinen
nach der pfeife anstandslosen grauens
vor den phrasen, ihr rosinen
mir im kopf seid was sie schienen:
lichter in der hölle des vertrauens

in den augenblick zum ganzen
lider sprechen opfer der bescheidung
wortskelette, lettern tanzen
zum vergnügen der distanzen
zwischen allen formen der umschreibung

 

 

wege rücken auseinander, weit.
was ich dort zu suchen hatte, mit.
kraft, die sie mir einverleibte, leid
das ich stellvertretend für mich litt.

was ist faul daran, wenn ich mich leide
reißt der zeitvertreib die räume mit.
wo ich geh und steh und für dich schreibe
macht die ferne zu mir selbst den besten schnitt.

wo mit andern worten so mein traum sich teilt
komm ich seinetwegen niemals aus dem knick.
halb gekränkt und aber andrerseits geheilt
faul ich langsam raus aus deinem glück.

 

baroque balettriste

"die blume in der krone eines baums
entblättert ihren kopf dem wunschruin
sein schatten ist die wurzel eines traums
von einem goldfisch im gebet der königin

des herzens wunsch der eine katze war
mit augen die der wahre schlaf berührt
erwacht als vogel aus der tanzgefahr
mit einem spiegel der den tod gebiert

die krücke eines schattens eines traums
schlägt wurzeln im gebet der königin
die blume, das gewissen eines clowns
hält den kopf schon für ein lächeln hin"

 

ob wir nur so tun ist nicht die frage

die maske für den karneval der sinne, gedicht genannt, umspannt das ungesagte. es ist kein geheimnis, es liegt an uns, wie eine wüste im gewissen, wir schneiden mit der schärfe des details aus weisheitsbinsen flöten für den tanz des faktomanischen vampirs. in zimmern unsrer zeit sind wir vermutliche tapetentüren. wir führen in das labyrinth der monologe mit den schlüsseln zum gemeinwohl. alles, was uns aufstößt, spottet seiner perspektive. was unsrer perspektive spottet, geht uns ziemlich nah. wir dehnen unser wort in lächerliche fernen. dann: drehen wir die dehnung uns im munde um und: lärmen. gehetzte synonyme, die uns streifen, zaubern lächeln des bedauerns in die spannung unsrer lauer. der fasching der materie findet statt im umgreifbaren. wir sind noch ziemlich vorgefaßt und fühlen uns: genarrt. alles was uns narrte, spottet der bedeutung. wir "vögeln unser" deutsch in seinem buchstabilen käfig, und brechen stab für stab für eine rhythmus der befreiung von den schellen der bedeutung. die sonne der entfremdung gibt den dingen austauschbare namen. wir knien uns in den "schatten zwischen auge und objekt" und bitten unsrem sinnvertrauen ab. der zeitpunkt kommt in fluß, wir legen das umspannende uns an. jetzt sind wir unsichtbar und graben aus der wüste des details die ader für das ornament und geben ihr den pulsschlag des gewissens. wir stimmen für ein aufgeräumtes schweigen und verwechseln unsre träume mit den masken der materie aus dem chaos der ideen.

(aus KONTEXT 6, Juli 1989)

 

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