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Gustav Landauer Durch
Absonderung zur Gemeinschaft
Ungeheuerlich
und fast unaussprechbar groß ist der Abstand geworden,
der uns, die wir uns selbst als die Vorhut fühlen, von der
übrigen Menschheit trennt. Ich meine nicht die Entfernung
zwischen denen, die man gewöhnlich Gebildete nennt, und
den übrigen Massen. Die ist auch schon schlimm genug, aber
es ist nicht so weit her damit. Mancher geweckte Arbeiter, der
schon Berührungspunkte mit unserer Vorhut hat, ist durch
eine tiefere Kluft von dem gebildeten Philister getrennt.
Man muß es im Gefühl haben, wer zu dieser abgesprengten
Truppe, die eine Vorhut ist, sobald sie es sein will, gehört.
Nicht das Mehrwissen oder Mehrkönnen entscheidet, sondern
das andersgerichtete Interesse und die Lebensauffassung.
Dem Massenmenschen ist sein Platz und sein Bereich von den Erbmächten,
die von außen und auch von innen auf ihn einwirken, angewiesen:
er findet sich als Angehöriger einer Familie und einer bestimmten
Gesellschaftsschicht, er läßt sich ein bestimmtes
Wissen und einen bestimmten Glauben einpumpen, er wendet sich
einem bestimmten Erwerb zu, er ist evangelischer oder katholischer
Christ, deutscher oder englischer Patriot; Wichsefabrikant oder
Zeitungsredakteur. Die Autorität, die Sitte, die Moral,
das Herkommen seiner Zeit und seiner Klasse ist der Raum, in
dem er hin- und herpendelt.
Eine junge Generation ist hochgekommen, der all diese Überlieferungen
fragwürdig geworden sind. Man kann sie, wenn man Lust hat,
rubrizieren und einschachteln. Da gibt es Sozialisten und Anarchisten,
Atheisten und Zigeuner, Nihilisten und Romantiker. Die einen
sind mit Feuereifer ins Volk gegangen, um es zu heben, um es
zu wecken, um es zu läutern, um es zu Zorn und Empörung
anzureizen, um ihm Schönheit und Größe zu künden,
schließlich um es zu neuen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen
Verbänden zu organisieren. Die anderen, denen ebenfalls
alle heiligen Begriffe und Einrichtungen schwankend geworden
sind, haben andere Wege eingeschlagen: das Leben ward ihnen zum
Spiel, ihre Sinne tasteten in nervöser Sucht nach dem Erlesensten
und Ausgesuchtesten, sie wurden große Einsame oder kleine
Genüßlinge.
Nun sind wir, die ins Volk gegangen waren, von unserer Wanderung
zurückgekehrt. Einige sind uns unterwegs verloren gegangen,
bei einer Partei oder bei der Verzweiflung. Etwas haben wir mitgebracht:
einzelne Menschen. Einzelne Menschen, die wir aus dem Meer des
Alltags herausgefischt haben, mehr haben wir nicht gefunden.
Es sei denn eine Erkenntnis, die wir in Schmerzen und Kämpfen
erobert haben: wir sind zu weit voran, als daß unsere Stimme
von den Massen noch verstanden werden könnte. Wir fassen
das Leben zu einfach auf, als daß die Menschen aus ihren
verworrenen Irrgängen den Weg zu uns schlichten Tieren finden
könnten. Und wieder sind unsere Seelen zu fein und kompliziert,
als daß wir es da unten auf die Länge aushalten könnten.
Unsere Erkenntnis ist: wir dürfen nicht zu den Massen hinuntergehen,
wir müssen ihnen vorangehen, und das sieht zunächst
so aus, als ob wir von ihnen weggingen. Die Gemeinschaft, nach
der wir uns sehnen, die wir bedürfen, finden wir nur, wenn
wir Zusammengehörige, wir neue Generation, uns von den alten
Gemeinschaften absondern. Und wenn wir uns ganz gründlich
absondern, wenn wir uns als Einzelne in uns selber tiefst hinein
versenken, dann finden wir schließlich, im innersten Kern
unseres verborgensten Wesens, die urälteste und allgemeinste
Gemeinschaft: mit dem Menschengeschlecht und mit dem Weltall.
Wer diese beglückende Gemeinschaft in sich selber entdeckt
hat, der ist für alle Zeit bereichert und beseligt und endgültig
abgerückt von den gemeinen Zufallsgemeinschaften der Mitwelt.
Dreierlei Gemeinschaften
unterscheide ich: erstens die Erbmacht, als die ich mich selbst
finde, wenn ich tief genug in mich selbst und die Bergwerksschächte
meines Innern hineinsteige, um die paläontologischen Schätze
des Universums in mir zu heben, zweitens die andere Erbmacht,
die von außen her mich umklammern, beengen und einschließen
will, und schließlich drittens die freien momentanen Vereinigungen
der Einzelnen da, wo sie und ihre Interessen einander berühren.
Die erste dieser drei Gemeinschaften nennt man gewöhnlich
das Individuum, das aber, wie ich zeigen will, zugleich eine
Funktion oder Erscheinungsform des unendlichen Weltalls ist;
die zweite ist die Zwangsgemeinschaft der bürgerlichen Gesellschaften
und Staaten, die dritte Gemeinschaft ist die, die erst kommen
soll, und die wir Ersten gleich jetzt anbahnen und beginnen wollen.
Wenn man über
diese großen Fragen sich aussprechen will, wenn man aus
den Worten: Individuum, Gemeinschaft das herausholen will, was
für unser bestes Gefühl darin Wirkliches steckt, wenn
man von der Realität reden will, die wir hinter unseren
abstrakten Ausdrücken und Gattungsnamen postulieren, darf
man sich nicht scheu oder pfiffig an Berkeley, Kant oder Schopenhauer
vorbeidrücken. Geben wir es zu: wenn ich von meinem Subjektiven
ausgehe, wenn ich mein Gefühl, daß meine Individualität
eine isolierte Einheit sei, als Realität gelten lasse, dann
gebe ich damit rettungslos alle andern Realitäten preis.
Dann wird Raum und Zeit meine Anschauungsform, dann ist alle
Körperlichkeit, mein Hirn und meine Sinnesorgane eingeschlossen,
und du Leser erst recht eingeschlossen, ein gespenstisches Gespinst,
das ich Psyche mir fabriziert habe, dann ist ebenfalls alle Vergangenheit
nur eine Auseinanderlegung meines ewig gegenwärtigen Bewußtseins,
und alle entwicklungsgeschichtliche Erklärung zerfällt
damit in Unmöglichkeit. Diese Anschauung ist ewig unwiderlegbar,
und keine andere Anschauung ist beweisbar. Nur daß auch
die Voraussetzung, von der ich ausgehe, niemals zu erweisen ist:
mein inneres Gefühl, daß ich eine isolierte Einheit
sei, kann falsch sein, und ich erkläre es für falsch,
weil ich mich nicht mit der entsetzlichen Vereinsamung zufrieden
geben will. Ich muß aber wissen, was ich damit tue: ich
verlasse das Einzige, was mir von innen her sicher zu sein schien,
ich treibe hinaus in die hohe, wilde See der Postulate und Phantasien.
Ich verzichte auf die Gewißheit meines Ichs, damit Ich
das Leben ertragen kann. Ich baue mir eine neue Welt mit dem
Bewußtsein, daß ich keinen Grund habe, auf dem ich
baue, sondern nur eine Notwendigkeit. Solcher Zwang aber, den
das allgewaltige Leben übt, hat befreiende, jauchzenschaffende
Kraft in sich: ich weiß von jetzt ab, daß es meine,
eine selbstgeschaffene Welt ist, in der ich schaue, in die ich
wirke. Um nicht welteneinsam und gottverlassen ein Einziger zu
sein, erkenne ich die Welt an und gebe damit mein Ich preis;
aber nur, um mich selbst als Welt zu fühlen, in der ich
aufgegangen bin. Wie ein Selbstmörder sich ins Wasser stürzt,
so stürze ich mich senkrecht in die Welt hinab, aber ich
finde in ihr nicht den Tod, sondern das Leben. Das Ich tötet
sich, damit Weltich leben kann. Und so, mag es immerhin nicht
die absolute, das heißt doch wohl die losgelöste Wirklichkeit
sein, die ich mir schaffe, meine Wirklichkeit ist es, in mir
geboren, von mir bewirkt, in mir wirksam. An die Stelle der Abstraktion,
der tötenden, entleerenden und verödenden Abziehung,
setzen wir die Kontraktion, die Zusammenziehung all unserer inneren
Kräfte, und die Attraktion, die Hineinziehung des Weltalls
in unsern Machtbereich. Das wird gut sein, denn die Abstraktion
und das begriffliche Denken ist an der Endstation angelangt;
es wartet nur noch auf den Keulenschläger, der es zusammentrümmert.
Seit Kant kann das Begriffsdenken zu nichts mehr führen
als zum Totschlagversuch gegen die lebendige Welt; jetzt aber
bäumt sich endlich das Leben auf und tötet den toten
Begriff. Denn auch das Tote muß noch getötet werden.
An die Stelle der einen absoluten Welterklärung und der
qualvollen vergeblichen Versuche, ihrer habhaft zu werden, treten
Bilder der Welt, deren verschiedene ergänzend nebeneinander
herlaufen können, Bilder, von denen wir wissen, daß
sie nicht die Welt "an sich", sondern die Welt für
uns sind: eine Annäherung an das Jenseits unseres Ichs mit
Hilfe unseres Ichgefühls; ein Hinauslangen ins Bereich des
Übersinnlichen mit Hilfe unserer Sinne; ein Versuch, mit
dem ganzen Reichtum unseres Lebens, mit unseren Leidenschaften
und mit unserer tiefsten Stille, die Welt zu begreifen. Bei unseren
Versuchen, die Welt zu betasten und zu begreifen, sind wir schließlich
müde und genügsam geworden; anstatt sie uns einzuverleiben,
haben wir sie entleibt und sie in die leeren Appartements unserer
Assoziationen und Allgemeinbegriffe hineinkomplimentiert. Am
Eingang dieser aparten ungastlichen Gemächer, die wir von
den wohnlicheren Räumen unserer lustvollen Anschauungen
und unserer glanzgeschmückten Lebenstriebe sorgsam getrennt
halten, könnte der warnende Vermerk stehen: Nr. 0. Schlagen
wir jetzt einen anderen Weg ein: lassen wir die Welt durch uns
hindurchgehen, schaffen wir den Zustand der Bereitschaft, sie
in uns zu verspüren, erleben wir die Welt, lassen wir uns
von ihr begreifen und erfassen. Bisher fiel alles auseinander
in ein armes, schwächlich aktives Ich und eine unnahbar
starre, leblos passive Welt. Seien wir jetzt das Medium der Welt,
aktiv und passiv in Einem. Bisher haben wir uns begnügt,
die Welt in den Menschengeist, besser gesagt: in den Hirngeist
zu verwandeln; verwandeln wir jetzt uns in den Weltgeist.
Das können wir. Mit Recht hat ein alter Meister, der große
Ketzer und Mystiker Eckhart, gesagt, daß wir, wenn wir
vermöchten, ein kleines Blümchen ganz und gar, so wie
es in seinem Wesen ist, zu erkennen, damit die ganze Welt erkannt
hätten. Er selbst hat aber darauf hingedeutet, daß
wir niemals zu solcher absoluten Erkenntnis von außen her,
mit Hülfe unserer Sinne, die wir außen an unserem
Leibe hängen haben, gelangen können. "Gott ist
allezeit bereit, aber wir sind sehr unbereit; Gott ist uns nahe,
aber wir sind ihm ferne; Gott ist drinnen, aber wir sind draußen;
Gott ist zu Hause, wir sind in der Fremde." Und er zeigt
uns auch den Weg, man muß nur seine Gottesbildersprache
verstehen. Er erzählt von der Schwester Kathrei, der ekstatischen
Nonne, wie sie jubelnd ihrem Meister entgegenspringt: "Herr,
freuet Euch mit mir, ich bin Gott geworden!" Sie hatte alles
dessen vergessen, was je Namen trug, und war ganz fern aus sich
selbst und allen unterschiedenen Dingen herausgezogen worden.
Und als sie wieder zu sich kam, da stammelte sie erst: "Was
ich gefunden habe, das kann niemand in Worte fassen." Als
ihr aber endlich doch die Sprache ward, da kündete sie:
"Ich bin da, wo ich war, ehe ich ein Individuum wurde, da
ist bloß Gott und Gott. ... Ihr müßt wissen,
alles was man so in Worte faßt und den Leuten mit Bildern
vorlegt, das ist nichts als ein Mittel zu Gott zu locken. Wisset,
daß in Gott nichts ist als Gott; wisset, daß keine
Seele in Gott hineinkommen kann, bevor sie nicht so Gott wird,
wie sie Gott war, bevor sie ein Individuum wurde. ... Ihr sollt
wissen, wer sich damit genügen läßt, mit dem,
was man in Worte fassen kann: Gott ist ein Wort, Himmelreich
ist ein Wort; wer nicht weiter kommen will mit den Kräften
der Seele, mit Erkenntnis und mit Liebe, der soll mit Fug ein
Ungläubiger heißen. ... Es ist die Seele nackt und
aller namentragenden Dinge entblößt. ... Wisset, solange
der gute Mensch auf Erden lebt, so lange hat seine Seele Fortgang
in der Ewigkeit. Darum haben gute Menschen das Leben lieb."
Der Weg, den wir gehen müssen, um zur Gemeinschaft mit der
Welt zu kommen, führt nicht nach außen, sondern nach
innen. Es muß uns endlich wieder einfallen, daß wir
ja nicht bloß Stücke der Welt wahrnehmen, sondern
daß wir selbst ein Stück Welt sind. Wer die Blume
ganz erfassen könnte, hätte die Welt erfaßt.
Nun denn: kehren wir ganz in uns selbst zurück, dann haben
wir das Weltall leibhaftig gefunden.
Machen wir es
uns ganz klar, daß uns, sofern uns unser eigenes inneres
Wesen eine Wirklichkeit ist, alle differenzierte Materie in der
Tat ein Gespenst ist, das unser Auge, unser Tastsinn und die
Raumanschauung unseres Hirns sich als Außenwelt einbilden
(bildlich gesprochen; denn auch diese drei sind ja wiederum Materie!),
daß es für unseren inneren Sinn nur differenzierte
Psyche gibt, daß wir diese aber als Fordernde annehmen
müssen, sofern wir nicht unser schmales, lächerliches
Ich als einzig Wesenhaftes betrachten wollen. Aber vergessen
wir nicht, daß die Anerkennung der Welt ein Postulat unseres
Denkens, das als Diener unseres Lebens vorgeht, und der beseelten
Welt ein Analogieschluß dieses selben Denkens ist. Vergessen
wir es nicht, damit uns eine notwendige Stimmung nicht zum Dogma
oder zur sogenannten Wissenschaft werde. Und vergessen wir ferner
nicht, daß die "Weltbeseelung" gar nichts für
die Weltmoral oder für eine Moral, die aus einem Weltprinzip
abgeleitet werden könnte, beweist. Zu einem ethischen Dogma
oder einer sogenannten wissenschaftlichen Begründung der
Moral reicht unsere Weisheit noch am wenigsten. Und machen wir
es uns dann ferner klar wir wissen ja jetzt, was klar machen
heißt: um einer notwendigen Stimmung willen Befriedendes
zusammenträumen , daß Vergangenheit, Gegenwart
und Zukunft und ebenso Hier und Dort nur ein einzigeiniger ewiger
Strom sind, der vom Unendlichen zum
Unendlichen strömt. Es gibt dann für diese Welt, die
uns notwendig und darum wahrhaft ist, nicht eine Ursache, die
am einen Ende gewesen ist, und nicht eine Wirkung, die am andern
Ende gegenwärtig ist: derlei Annahmen gibt es nur im Reiche
der isolierten Körper, aber nicht in unserer wogenden Flut
der Seelenkräfte. Es würde zu weit führen, hier
zu zeigen, daß man auch in der reinen Körpermechanik
allmählich dahinter gekommen ist, daß es keine isolierten
Körper, keine Wirkung in die Ferne gibt. Das Bild des Fließens
und der Wellenbewegung ist ja auch im Körperlichen geläufig
(daß es daher genommen ist, versteht sich von selbst).
Die Molekular- und Äthertheorie gehört hierher, mag
man sie nun als hypothetische Einführung eines Hilfsbegriffs
oder als Ausrede auffassen. Überhaupt sei darauf hingewiesen:
es soll nicht geleugnet werden, daß man die Welt auch materialistisch
erklären kann, da es ja unendlich viele Annäherungsversuche
und Gleichnisse, unendlich viele Weltanschauungen, Spinoza sagte
gläubiger: unendlich viele Attribute Gottes gibt. Nur muß
man dann alles materiell auffassen und vom Psychischen ganz absehen;
denn eine Vermischung der beiden Bereiche geht nicht an, insofern
man niemals die Entstehung des Psychischen aus der Materie wird
begreiflich machen können. Das hat schon Spinoza gewußt.
Dagegen wissen wir erst seit Locke, Berkeley und Kant, daß
umgekehrt allerdings die Materie ohne den kleinsten Rest durch
die Psyche ausgedrückt werden kann, entweder als Vorspiegelung
meiner Individualseele, was oben abgelehnt wurde, oder, bildlich
gesprochen, als Teilseelen der Weltseele, was hier postuliert
wird. Diesen außerordentlichen Vorsprung hat die seelenhafte
Auffassung der Welt vor der materialistischen voraus. Andererseits
bedürfen wir wieder dringend der Erforschung des Materiellen,
damit die psychische Bildersprache vom Fleck kommen kann.
Denn wie armselig wäre unser Lallen von der Weltseele, wenn
wir nicht stets neue objektive Angaben unserer Sinne hätten,
die wir seelisch umdeuten können. Es ist ein verzwicktes
und mühsames Verhältnis, die Ehe zwischen uns und der
Welt: aber da wir uns zur Scheidung um des mancherlei Erfreulichen
willen nicht entschließen können, tun wir gut, uns
mit Heiterkeit und guter Miene darein zu finden; die unerquickliche
Episode des Keifens und Fluchens, die man Pessimismus nannte,
war nicht allzu erbaulich.
Wir sagen also: was wirkt, ist gegenwärtig; was wirkt, das
stößt und drängt, was wirkt, das übt eine
Macht aus, was eine Macht ausübt, ist da, was da ist, ist
lebendig. Es ist dieser Anschauung unfaßbar, daß
etwas, was längst tot ist, noch wirksam, das heißt
tätig sein soll. Jede Ursache ist lebendig, sonst wäre
sie keine Ursache. Es gibt keine toten Naturgesetze; es gibt
keine Trennung zwischen Ursache und Wirkung: diese beiden müssen
aneinander grenzen; Ursache-Wirkung ist ein Fließen von
Einem zum Anderen; und wenn das vielleicht um ein Winziges bereicherte
Andere wieder zum Einen zurückströmt und so ein ewiges
Hin- und Widerfluten entsteht, wird wohl das daraus, was man
Wechselwirkung nennt; denn so etwas gibt es, wenn auch die Starren
nichts davon wissen wollen. Die Materie ist starr und steif,
kein Wunder, daß die Materialisten es auch sind. Dieses
Hin und Her des ewig Lebendigen, in dem es kein Abgeschiedenes
mehr gibt, weil für Tod und Geschiedenheit kein Raum mehr
da ist, ist der Makrokosmos, dessen erschautes Zeichen Goethes
Faust zu dem Jubelruf treibt:
Bin ich ein Gott? Mir wird so licht!
Ich schau in diesen reinen Zügen
Die wirkende Natur vor meiner Seele liegen.
Die wirkende Natur die natura naturans des Goethe-Meisters
Spinoza, der sie von den Mystikern und Realisten des Mittelalters
übernommen hat.
Immer wieder stoßen wir auf diesen Hinweis, daß man
Gott werden, daß man, anstatt die Welt zu erkennen, die
Welt selbst werden oder sein kann. Es ist die tiefste Umdeutung
vielleicht der Christuslegende, vielleicht auch die tiefste Bedeutung
dessen, was Jesus selbst gelehrt hat, wenn Meister Eckhart den
Gott, der zugleich Menschenkind ist, zu uns sprechen läßt:
"Ich bin euch Mensch gewesen, wenn ihr mir nicht Götter
seid, so tut ihr mir Unrecht." Sehen wir zu, wie wir Götter
werden, wie wir die Welt in uns finden können.
Die Realisten
des Mittelalters sind erwähnt worden. Sie hießen Realisten,
weil sie die Universalien, die letzten leersten Abstrakta und
die Gattungsnamen, für Wirklichkeiten erklärten. Da
sie sich meist an Artefakta, an Erzeugnisse der Menschenhände
und Menschenköpfe, wie Topf, Tugend, Gott, Unsterblichkeit,
hielten, hatten ihre Gegner, die Nominalisten, ihnen gegenüber
leichtes Spiel, so schwer diese Oberflächlichen, Geistreichen
auch in ihrer tiefsinnigen und verrannten Zeit durchdrangen:
sie erklärten, diese Begriffe seien keine Realitäten,
sondern bloß Worte.
Die Nominalisten haben eine notwendige Säuberungsarbeit
vollbracht; sie beraubten Hirngespinste ihrer Realität und
Heiligkeit. Der letzte große Nominalist war Max Stirner,
der mit radikalster Gründlichkeit den Spuk der Abstrakta
aus den Gehirnen auszukehren unternahm. Die Essenz seiner Lehre
ist etwa in den Worten enthalten, die er nicht gerade so ausgesprochen
hat: "Der Gottesbegriff ist zu vernichten. Aber nicht Gott
ist der Erzfeind, sondern der Begriff." Er hat entdeckt,
daß alle tatsächliche Unterdrückung zuletzt von
den Begriffen und Ideen ausgeübt wird, die respektiert und
für heilig genommen werden. Mit unerschrockener, gewaltiger
und sicherer Hand hat er Begriffe wie Gott, Heiligkeit, Moral,
Staat, Gesellschaft, Liebe auseinandergenommen und lachend ihre
Hohlheit demonstriert. Die Abstrakta waren nach seiner glänzenden
Darstellung aufgeblasene Nichtigkeiten, die Sammelnamen nur der
Ausdruck für eine Summe von Einzelwesen. Der letzte Nominalist
setzte das konkrete Einzelwesen, das Individuum, als Realität
auf den entleerten Stuhl Gottes, der von nun an von dem Einzigen
und seinem Eigentum besessen wurde. Das war die Stirnersche Besessenheit.
Uns liegt nun die entgegengesetzte und darum ergänzende
Arbeit ob: die Nichtigkeit des Konkretums, des isolierten Individuums
nachzuweisen und zu zeigen, welche tiefe Weisheit in der Lehre
der Realisten steckt. Die Umwege, die in Jahrhunderten gemacht
wurden, waren nicht überflüssig, aber jetzt wird es
Zeit zu der Einsicht, daß es keinerlei Individuum, sondern
nur Zusammengehörigkeiten und Gemeinschaften gibt. Es ist
nicht wahr, daß die Sammelnamen nur Summen von Individuen
bedeuten; vielmehr sind umgekehrt die Individuen nur Erscheinungsformen
und Durchgangspunkte, elektrische Funken eines Großen und
Ganzen. Eine andere Frage ist freilich, ob die überlieferten
Gattungsnamen in ihrer bequemen Schablonenhaftigkeit auch nur
einigermaßen einen gemäßen Ausdruck für
die Gesamtheiten bilden, deren Momentblitze die Individuen sind.
Erinnern wir uns, daß es für uns keine gewesenen Ursachen
und keine toten Naturgesetze, keine transzendenten Prinzipien
mehr gibt. Wir kennen nur mehr immanentes Leben, gegenwärtige
Machtausübung. Wenn daher der Vertreter des Starren, der
Wissenschaftsmensch unserer Tage, uns sagt: Auf Grund der Vererbung
ist das neugeborene Individuum so wie es ist konstituiert, so
erwidern wir ihm: Wo ist denn diese Vererbung? Im Himmel oder
im Gewesenen? Wäre das tote, eherne, unbewegliche Gesetz
der Vererbung also der Vater oder so etwas wie der Pate eines
isolierten Lebewesens? Nein, es gibt weder die abstrakte Vererbung
noch das konkrete Individuum. Vererbung ist ein Verwesungs- und
Gewesenheitswort für etwas sehr Lebendiges und Gegenwärtiges.
Individuum ist ein Starres und Absolutes als Ausdruck für
ein sehr Bewegliches und Verbundenes. Bei der Vererbung handelt
es sich um eine sehr reale und stets gegenwärtige Macht,
die ausgeübt wird, um das Weiterleben der Vorfahrenwelt
in neuen Formen und Gestalten. Das Individuum ist das Aufblitzen
des Seelenstromes, den man je nachdem Menschengeschlecht, Art,
Weltall nennt. Treten wir von außen an die Welt heran,
dann sehen und tasten, riechen, hören und beschmecken wir
Individuen. Kehren wir aber bei uns selber ein, dann kann es
uns schließlich gelingen, über das autonome Individualgefühl
hinauszukommen: was wir sind, das sind unsere Vorfahren in uns,
die in uns wirksam, tätig, lebendig sind, die mit uns sich
an der Außenwelt reiben und wandeln, die aus uns heraus
und mit uns zusammen in unsere Nachkommen wandeln. Es ist eine
gewaltige Kette, die vom Unendlichen herkommt und ins Unendliche
weiterreicht, wenn auch einzelne Gliederchen abreißen und
umständlichere Wandlungen erleiden. Denn auch unsere Werke,
was wir wirken, solange wir leben, sind Teile, die uns mit dem
All verbinden, auch unser Leichnam ist eine Brücke, auf
der wir weiter in die Welt hineinschreiten. Wie Clemens Brentano
sagt: "Leben ist nichts als die Ewigkeit, die wir uns zueignen
dadurch, daß wir uns ein Stückchen von ihr mit einem
hinten vorgehaltenen Tod auffangen." Das Wort: "Alles
was lebt, stirbt", ist eine relative, aber triviale und
nichtssagende Wahrheit; ihm stellen wir den Satz entgegen: Alles
was lebt, lebt ein für alle Mal.
Wir haben gesehen, daß Materie und Körperlichkeit
nur sehr ungemäß und schon beinahe veraltete Ausdrücke
für das unendlich differenzierte Seelenfluten sind, das
man Welt nennt. Aber da diese neue Anschauung doch erst im primitiven
Entstehen ist und uns Worte dafür noch kaum zu Gebote stehen,
bleibt uns nichts übrig, als die alten Ausdrücke unter
Vorbehalt weiter anzuwenden. Das schadet auch nicht viel, da
ja all unsere Auseinandersetzungen nur bildmäßige
Annäherungsversuche, da sie ja immer unter Vorbehalt gegeben
sind, da wir ja mehrere parallele, ergänzende Weltanschauungen
in uns parat haben müssen, um unsere Welt zu bereiten. Betrachten
wir also unsere Einsicht einmal von dieser körperlichen
Seite und machen wir uns recht klar, daß es für uns
gar nichts Unumstößlicheres geben kann als diese Betrachtung,
wonach der einzelne Mensch, das Individuum, in einem unlösbaren
körperlichen Zusammenhang mit der verflossenen Menschheit
steht. Wohl reißt bei der Geburt die Nabelschnur, die das
Kind mit der Mutter verbindet, entzwei, aber haltbarer sind die
unsichtbaren Ketten, die den Leib des Menschen an seine Vorfahren
knüpfen. Was ist denn die Vererbung anders als eine fast
unheimliche, dann aber wieder so vertraute und innig bekannte
Macht, die die Ahnenwelt auf meine Leiblichkeit wie meinen Geist
ausübt, eine unentrinnbare Herrschaft? Was ist aber Macht
und Herrschaft anders als Gegenwart und Gemeinschaft? Wenn wir
Menschen eine glatte Haut ohne Wollhaar haben, ein nicht vorspringendes
Kinn, einen aufrechten Gang, so ist das eine Folge der Vererbung,
das heißt der Herrschaft, die heute noch nach sehr langen
Zeiträumen die ersten Menschen ausüben, die sich aus
dem Affentum erhoben haben, oder anders ausgedrückt: da
diese ersten Menschen in uns wirksam sind, leben sie insofern
noch in uns, und wir finden sie in uns, indem wir uns selber
empfinden. Denn man wird es doch endlich einsehen, daß
alle Wirkung Gegenwart erfordert und daß es keine gewesenen,
sondern nur lebende Ursachen gibt. Oder wenn man auf das schlechte
Wort Ursache verzichten will, dann kann man freilich sagen: die
Ursache ist tot, es lebe die lebendige Wirksamkeit! Und so kann
man das Wort Schopenhauers, wonach alle Wirklichkeit Wirksamkeit
sei, einmal umkehren und sagen: alle Wirksamkeit ist wirklich,
wirklich sind die großen Gemeinschaften und Zusammenhänge,
und was wirklich ist das weiß schon die schwäbische
Mundart das ist auch gegenwärtig und momentan. Wir
sind die Augenblicke der ewig lebendigen Ahnengemeinde. Der ewig
lebendigen und es kann nur gut sein, bei der Gelegenheit
darauf hinzuweisen, daß die Ewigkeit auch ein zeitlicher
Verlauf ist. Auch wenn Schopenhauer zeitlos sagt, meint er nichts
anderes als den unendlichen Verlauf der Zeit. Ich fürchte
sehr, daß wir, wenn wir den Versuch machen, die absolute
Zeitlosigkeit herzustellen, den Verlauf der Zeit aufzuheben,
und Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als eine Art stehenbleibende
Gleichzeitigkeit zu gewahren die Sprache verläßt
uns hier daß wir dann einfach das Bild des unendlichen
Raums vor uns produzieren. Wir können die Zeit räumlich
oder den Raum zeitlich ausdrücken, die Zeit vom Raum oder
den Raum von der Zeit verschlingen lassen; aber beide zu überwinden,
gelingt wohl auch der stärksten Konzentration und Versenkung
nicht. Alles Räumliche zeitlich auszudrücken, ist vielleicht
eine der wichtigsten Aufgaben kommender Menschen. Denn all unsere
Sprache ist quantitativ Raumsprache, qualitativ Gesichtssprache
der Baum, der Mensch, das Säugetier, all diese Begriffe
und erst recht die Konkreta sind auf Gesichtswahrnehmungen aufgebaut
es wäre gut, mit Hilfe des Gehörs alle Welt einmal
zeitlich zu vernehmen und zu sagen. Die Musik ist vielleicht
nur ein primitiver Anfang zu dieser neuen Sprache.
Die großen Erbgemeinschaften sind wirklich; denn die Vorfahren
wirken heute noch, müssen also lebendig sein. Längst
sind unsere menschlichen und tierischen Vorfahren um zunächst
nur von diesen zu reden fast bis auf die letzte Spur ausgestorben
und verschollen; in der über und über durchwühlten
Erde hat man nur armselige Reste gefunden. In uns selbst aber
leben diese paläontologischen Reliquien, diese verstorbenen
und ausgestorbenen Tiere, noch leibhaftig weiter. Es bedarf nur
des zweiten Gesichts, damit wir sie gewahren. Wir sind der Teil,
der von ihnen übrig geblieben ist, und unsere Kinder sind
ebensowohl ihre Kinder wie unsere Kinder. Die individuellen Leiber,
die von Anbeginn an auf der Erde gelebt haben, sind nicht bloß
eine Summe von abgesonderten Individuen, sie alle zusammen bilden
eine große, durchaus wirkliche Körpergemeinschaft,
einen Organismus. Einen Organismus, der sich ewig verwandelt,
der sich ewig in neuen Individualgestalten manifestiert. So wenig
unser Oberbewußtsein von dem mächtigen und realen
Seelenleben unseres angeblich unbewußten, nämlich
dem Oberbewußtsein unbekannten Trieb-, Reflex- und körperlich
automatischen Lebens weiß, so wenig wissen wir für
gewöhnlich von dem Vorfahrenleben und der großen Vorfahrenherrschaft
in uns. Und doch muß es uns unumstößlich sein,
auch das ist ein Postulat, ohne dessen Anerkennung uns das Leben
und die Welt gespenstisch wird alle Materie, alles außen
Wahrgenommene ist ein Gespenst daß alles was ist
für sich ist, das heißt bewußt ist. Est, ergo
cogitat so lautet unser kartesisches Grundwort. Nicht ein
abstrakter, toter Begriff ist uns daher die Menschheit; die Menschheit
ist das Wirkliche und Lebende, die einzelnen Menschen sind mitsamt
ihrer Bewußtheit die auftauchenden, wandelbaren und wieder
untergehenden, das heißt von neuem verwandelten Schattenbilder,
durch welche die Menschheit sichtbar wird. Die Menschheit, oder
besser gesagt, wir werden es noch sehen, das Weltall ist die
platonische Idee, das ens realissimum der Scholastiker. Wie der
Baum, wenn er in unfruchtbarem Boden steht, einen Zweig herabsenkt
in fruchtbares Erdreich: der alte Baum stirbt ab und vergeht,
der Schößling gedeiht und wird ein neuer Baum: so
stirbt auch der Mensch und stirbt doch wieder nicht; in seinen
Kindern, in seinen Werken lebt er selbst verwandelt und mit den
Kräften anderer Menschen vereinigt weiter.
Man könnte
sagen: sehen wir zunächst vom Körperlichen ab und halten
wir uns an das Geistige. Ich möchte freilich gleich abwehren:
nein, nein, das geht nicht. Wer in sich seelisch nur das Geistige
verspürt, das Eigenkörperliche aber nur äußerlich
sinnlich wahrzunehmen glaubt, der hat sich sein natürliches
Empfinden von Schuldogmen verderben lassen. Von innen her ist
Körper und Geist ganz und gar nicht zu trennen, beides ist
Seelenweise. Aber gehen wir einmal auf die künstliche Absonderung
ein, lassen wir uns den Einwand gefallen. Da sagt man: Erbmacht
und Artgeist im Individuum seien doch höchstens die Überlieferungen
der Sitte und Sittlichkeit, die Herdenmoral und dergleichen;
im übrigen aber sei doch das Individuum etwas für sich,
etwas Besonderes und scharf Abgegrenztes. Aber das Gegenteil
ist wahr. Es kann dahingestellt bleiben, wie weit Sitte und Tradition
vorangegangener Geschlechter schon ins Bereich des Angeerbten
übergegangen sind; zum größeren Teil aber wirken
sie als wesensandere Erbmacht von außen her, als Milieu
und Zufallsgemeinschaft der Autorität auf uns ein. Was aber
das Individuum ist, das ist etwas von Gottes Gnaden und Geburtswegen
Feststehendes, das ist die Erbmacht, die wir selbst sind, ist
der Charakter, der nur oberflächlich von außen her
nuanciert und zurechtgezogen werden kann. Je fester ein Individuum
auf sich selbst steht, je tiefer es sich in sich selbst zurückzieht,
je mehr es sich von den Einwirkungen der Mitwelt absondert, um
so mehr findet es sich als zusammenfallend mit der Welt der Vergangenheit,
mit dem, was es von Hause aus ist. Was der Mensch von Hause aus
ist, was sein Innigstes und Verborgenstes, sein unantastbares
Eigengut ist, das ist die große Gemeinschaft der Lebendigen
in ihm, das ist sein Geblüt und seine Blutgemeinde. Blut
ist dicker als Wasser; die Gemeinschaft, als die das Individuum
sich findet, ist mächtiger und edler und urälter als
die dünnen Einflüsse von Staat und Gesellschaft her.
Unser Allerindividuellstes ist unser Allerallgemeinstes. Je tiefer
ich in mich selbst heimkehre, um so mehr werde ich der Welt teilhaftig.
Habe ich denn aber die Organe, um diese Heimkehr in meine Tiefen,
um diese Findung meiner selbst bewerkstelligen zu können?
Kann diese Findung etwas anderes sein als die Empfindung, und
ist nicht die Empfindung, die ich von mir selbst habe, dieser
innere Sinn, im Gegensatz zu den klaren und deutlichen Eindrücken,
die mir die Sinnesorgane von außen her vermitteln, nur
ein dumpfes und unbestimmtes Allgemeingefühl? Die Gemeinschaft,
die ich künde, wäre etwa nur dieses gestaltlose, zerfließende
Allgemeingefühl, mit dem nichts anzufangen ist?
Seien wir nicht so stolz auf die Klarheit unserer Sinneseindrücke
und vergessen wir nicht, daß wir die Gemeinschaftswelt,
die ich meine, nicht wahrnehmen, sondern sein und leben wollen.
Die Deutlichkeit und Bestimmtheit unserer Wahrnehmungen kommt
eben von dem Zustand der Vereinzelung und Abgrenzung, der Individualisierung,
in den wir den Strom der Außenwelt versetzen müssen,
um seiner auf Umwegen habhaft zu werden. Und ebenso scheint es,
hat die Welt uns absondern und zu Individuen schaffen müssen,
um in uns aufblitzen und erscheinen zu können. Nur daß
wir in dieser Absonderung und in tiefster Einkehr bei uns selbst
die Welt leibhaftig und seelenhaft in uns finden und spüren.
Weil die Welt in Stücke zerfallen und von sich selbst verschieden
und geschieden ist, müssen wir uns in die mystische Abgeschiedenheit
flüchten, um mit ihr eins zu werden.
Wollen wir etwas Vergessenes wieder in unser Oberbewußtsein
hinaufzwingen, so besinnen wir uns. Wir haben dazu den psychischen
Apparat, den man Gedächtnis nennt. Dies Gedächtnis
aber dient nur für das Wenige und Oberflächliche, was
wir in unserem Individualleben erworben haben. Denn dieses rein
"Individuelle" ist das Oberflächlichste, Neueste
und Flüchtigste, während das im echten Sinn Individuelle
das Tiefste, Älteste und Unvergängliche ist: die Zwangstriebe
der Gemeinschaft, die aus dem Individuum hervorquellen. Der Meister
Eckhart sagt, Gott sei nicht mit dem Einzelmenschen eins, sondern
mit dem Menschtum, und dieses Menschtum, dieses Wertvolle am
Menschen, sei das, was allen Menschen gemeinsam sei. Das Hohe
und Erlesene ist für ihn das, was allen gemeinsam ist, was
er die Natur aller Menschen nennt. Man darf das nur nicht so
verstehen, daß man die zufällig und autoritär
zu stande gekommenen Übereinstimmungen auf der Oberfläche
der Mitmenschenherden als Moral aufs Postament setzt. Nicht dieses
ewig Gleichgültige, Oberflächliche und Philisterhafte
ist die von ihm gemeinte Natur aller Menschen, sondern das ewige
Erbteil, das Göttliche, die Übereinstimmung und Gemeinschaft,
die zu stande kommt, wenn jeder seine eigenste und echteste Besonderheit
findet und herausarbeitet. Denn diese in der Abgrundstiefe wurzelnde
Individualität das ist eben schon die Gemeinschaft,
das Menschtum, das Göttliche. Und wenn erst einzelne Individuen
sich selbst zur Gemeinschaft umgeschaffen haben, dann sind sie
reif zu den neuen Gemeinschaften der sich berührenden Individuen,
zu den Gemeinschaften derer, die sich vom Oberflächenbrei
abzusondern den Mut und die Not gefunden haben.
Diese in sich selbst versunkenen und von innen heraus neugeborenen
Individuen haben nun freilich für die Vorfahrenwelt und
Gemeinschaft in sich selbst kein Gedächtnis. Sie sind diese
Gemeinschaft, sie nehmen sie nicht als Äußeres wahr,
sie sind dieses Gedächtnis, sie besitzen es nicht. Wir sind
das Menschtum mit all unserem menschlichen Leben, wir sind die
Tierheit mit all unserer tierischen Brunst, die älter und
darum individueller ist als das bloß Menschliche, dem noch
das Oberflächenhafte anhängt. Menschlich ist unser
Begriffsdenken und unser Gedächtnis, tierisch, allgemeiner
und individueller zugleich, ist unser inbrünstiges Schauen
und unser Zeugen, unser Empfinden und all die Formen des Unterbewußtseins
und des körperlich-seelischen Erlebens. Und noch mehr Gemeinschaft,
noch allgemeiner, noch göttlicher, noch individueller sind
wir, sofern wir mehr sind als Tier, sofern uns das angeblich
Unorganische, das Unendliche, das Weltall selbst einverleibt
ist. Nur das unendliche All, die naturende Natur, der Gott der
Mystiker, kann im Sinne Berkeley's und Kant's Ich zu sich sagen.
Ich bin die Ursache meiner selbst, weil ich die Welt bin. Ich
bin die Welt, wenn ich ganz ich bin. Der Lauf des Entwickelungsstromes
kommt aus der Quelle, die in der Ewigkeit entsprungen ist, die
Kette ist nirgends abgerissen, nur kann freilich der Strom nicht
zurückfließen, und das Oberflächendenken unseres
Menschenhirns kann sich nicht auf den Grund zurückbesinnen,
auf dem es erwachsen ist, kann die Quelle nicht äußerlich
wahrnehmen, nicht als Objekt erkennen, die ihm im Innern selbst,
in der ewigen Gegenwart fließt, die es selbst als Teil
des Lebendigen ist. Aber wohl vernehmen wir in dem Tiefsten und
Wunderbarsten, was der Menschengeist zeugen kann, die Stimme
der Ewigkeit: die Musik ist die Welt noch einmal, Schopenhauer
hat es prachtvoll gesagt. Wohl finden wir diese Unendlichkeit
in uns selber, wenn wir Unendliche, wenn wir ganz wir selber
werden und unseren tiefsten Grund aus uns herausholen. Und noch
einen Weg zu diesem Unendlichkeitsgefühl gibt es, und er
ist der herrlichste von allen, und wir kennen ihn alle, sofern
nicht manche von der äußersten Verderbtheit und egoisierenden
Oberflächlichkeit der Zufallsgemeinschaft angefressen sind:
die Liebe. Die Liebe ist darum ein so himmlisches, so universelles
und weltumspannendes Gefühl, ein Gefühl, das uns aus
unsern Angeln, das uns zu den Sternen emporhebt, weil sie nichts
anderes ist als das Band, das die Kindheit mit den Ahnen, das
uns und unsere ersehnten Kinder mit dem Weltall verbindet. Es
liegt ein tiefer Sinn darin, daß die Bezeichnung für
das Gefühl der Gemeinschaft, die uns mit der Menschheit
verbindet Liebe, Menschenliebe dieselbe ist wie für
das Gefühl der Geschlechtsliebe, die uns mit den nachkommenden
Geschlechtern verkuppelt. Weh dem Unseligen, dem nicht sein ganzer
Mensch unter der Liebe erzittert, dem die Befriedigung beim Menschenzeugen
nichts weiter ist als ein Hautgefühl! Es ist die tiefste
und glühendste Welterkenntnis, die beste, die uns zu Teil
ward, wenn der Mann das Weib erkennt, wenn die Welt in einer
neuen Gestalt aufblitzen will und der Feuerblitz durch zwei Menschen
hindurchgeht.
Zu der Menschenliebe,
die ich mit unserm wurzelechtesten Leben in Beziehung gebracht
habe, scheint das, was ich im Eingang gesagt habe, von der Kluft,
die uns Neue von den Menschenmassen trennt, scheint auch das
Ende, auf das meine Gedanken losgehen, daß es not tut,
uns von den staatlich zusammengeschlossenen Volkshaufen abzusondern,
in Widerspruch zu stehen. In Wahrheit aber ist es klar, daß
alle jetzt lebenden Menschen, die zivilisierten wie die andern,
in ihrer Natur und ihrem Grunde so urverwandt mit uns sind, so
sehr von Haus Unsersgleichen, daß es schwer hält,
ihnen nicht als unsern Nächsten in Liebe zugetan zu sein.
Wie es aber oft mit Verwandten geht: sie stehen uns in ihrem
Kern und Eigensten nahe, und wir fühlen uns ihnen als Blutähnliche,
wir lieben sie, aber wir können nicht mit ihnen leben. Sie
haben ihre Menschheit mit staatlicher und gesellschaftlicher
Niedrigkeit und Verblödung, sie haben ihre Tierheit mit
Heuchelei und Sitte, mit Feigheit und Unnatur so gräßlich
entstellt und beschmutzt, daß sie kaum in ihren seltenen
Stunden der Beseligung oder des innersten Leids als sie selbst
aus ihren Masken emportauchen. Und sie haben sich den Weg zum
Weltall fast ganz versperrt; sie haben es vergessen, daß
sie sich in Götter verwandeln können. Wir aber wollen
Menschen sein, wir wollen Tiere sein, wir wollen Gott sein: seien
wir darum Helden. Aus Liebe zum jämmerlich verirrten Menschengeschlecht,
aus Liebe auch zu denen, die nach uns kommen, aus Liebe schließlich
zu unserem eigenen Allerbesten wollen wir von ihnen fortgehen,
wollen wir unser eigenes Leben und unsern eigenen Verkehr, wollen
wir unsere eigene Arbeit endlich für unseres Lebens Bedarf
uns schaffen. Fort vom Staat, soweit er uns gehen läßt
oder soweit wir mit ihm fertig werden, fort von der Waren- und
Handelsgesellschaft, fort vom Philistertum! Schaffen wir, wir
Wenigen, wir, die wir ein Jeder uns als Erbe von Jahrtausenden
fühlen, die wir Einfache und Unendliche zu sein empfinden,
wir, die wir Götter sind, eine kleine Gemeinschaft in Freude
und Tätigkeit, schaffen wir uns um als vorbildlich lebende
Menschen. Lassen wir all unsere Triebe aus uns heraus: den Quietismus
wie die rührige Betriebsamkeit, die Versunkenheit wie die
Festesfreude, den Arbeitsdrang wie den Luxus unseres Geistes.
Und machen wir es uns klar: es gibt keinen anderen Weg für
uns. Aus der Skepsis heraus ist dieser innige und bereite Glaube
geboren worden; als Verzweifelte wollen wir uns die höchste
Freudigkeit des Schaffens bereiten. Wer es schon in sich erlebt
hat, der weiß es: wer es in Jahren erfahren hat, daß
unsere Völker, wenn sie noch erweckt werden können,
nur durch religiöse Genialität, das heißt durch
das vorbildliche Leben der Tatmenschen, die ihr Alles daran setzen,
zum Aufschwung aus tiefster Gesunkenheit gebracht werden können,
dem sind all diese ernsten Dinge Lebensfragen geworden. Wir Wenigen,
wir Vorgeschrittenen denn Stolz tut not können
und wollen nicht mehr warten. Fangen wir an! Schaffen wir unser
Gemeinschaftsleben, bilden wir da und dort Mittelpunkte des neuen
Lebens, lösen wir uns los von der unsäglichen Gemeinheit
der Mitweltgemeinschaften. Und vor allem auch: unser Stolz muß
es uns wehren, von der Arbeit eben dieser Mitmenschen zu leben,
und ihnen dafür den feinsten Luxus oder auch den eklen und
überflüssigen Abfall unserer Hirne zu verkaufen. Lernen
wir arbeiten, körperlich arbeiten, produktiv tätig
sein. Und schenken wir dann den geliebten Menschenkindern die
erlesenste Blüte unseres Geistes. Möge sich die neue
Generation zusammenfinden, der diese Worte aus ernster Seelennot
entgegengebracht werden. Durch Absonderung zur Gemeinschaft,
das will sagen: Setzen wir unser Ganzes ein, um als Ganze zu
leben. Fort von der Oberfläche der autoritären Gemeinheitsgemeinschaft;
aus der Tiefe der Weltgemeinschaft heraus, die wir selber sind,
wollen wir die Menschengemeinschaft schaffen, die wir uns selbst
und aller Welt schuldig sind. Dieser Zuruf ergeht an alle, die
ihn verstehen.
(1900)
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