gustav landauer

die botschaft der titanic

ausgewählte essays

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Herausgegeben von Walter Fähnders und Hansgeorg Schmidt-Bergmann
304 Seiten / Format 205 x 125 mm
Französische Broschur
Ê 17,80
ISBN 3-931337-22-7

 

Inhalt

Durch Absonderung zur Gemeinschaft
Der Anarchismus in Deutschland
Anarchische Gedanken über Anarchismus
Zur Geschichte des Wortes "Anarchie"
Joseph Déjacque, zur Auferstehung eines Verschollenen
Peter Kropotkin
"Memoiren eines Revolutionärs" (Peter Kropotkin)
Dostojewski
Lew Nikolajewitsch Tolstoi
Strindberg
Walt Whitman
"De Profundis" (Oscar Wilde)
Die deutsche Multatuli-Ausgabe
Walter Calé
Hofmannsthals "Ödipus"
Puppen
Der gelbe Stein, ein Märchen
Vom Dilettantismus
Arbeitselig
Etwas über Moral
Gott und der Sozialismus
Sind das Ketzergedanken?
Martin Buber
Vom Krieg, ein Zwischengespräch
Die Botschaft der "Titanic"

Walter Fähnders/Hansgeorg Schmidt-Bergmann
"Utopien sind immer nur scheintot" Hinweise auf Gustav Landauer.

"Utopien sind immer nur scheintot", notierte Gustav Landauer 1907, der zu den orginellsten und eigenständigsten Köpfen des libertären Denkens und der sozialrevolutionären Bewegung in Deutschland gehörte. Die vorliegende Auswahl präsentiert rund zwei Dutzend Essays, Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, Vorträge und Rezensionen, darunter zeit- und kulturkritische Anmerkungen, politische Grundsatzartikel zum Anarchismus ebenso wie Schriften zu Literatur und Kunst, zum Judentum und zur Revolution in Deutschland. So unterschiedliche Themenbereiche wie die frühe Fundierung seines Anarchismus, den er in Opposition zum Geschichtsdeterminismus der wilhelminischen Sozialdemokratie formuliert, bis hin zu Porträts und Autorenprofilen wichtiger Theoretiker, Schriftsteller und Weggefährten wie Martin Buber, Fjodor Dostojewski, Peter Kropotkin, August Strindberg, Lew Tolstoi und Walt Whitmann ermöglichen in diesem Band Einblicke in das uvre eines ungemein produktiven Autors. Landauers Auseinandersetzung mit der Fin de Siècle und dem Ästhetizismus der Jahrhundertwende, so mit Hugo von Hofmannsthal, Oscar Wilde und den frühverstorbenen Walter Calé, dessen Profil in nuce ein Gesamtentwurf zur Kritik der Jahrhundertwende bietet, sowie einem Text aus Landauers literarischem Schaffen, wird hiermit wieder zugänglich.

Im Januar 1919, inmitten der revolutionären Prozesse, kommentiert Landauer sehr abwägend die Ereignisse, sieht auch schon die Gefahr eines Scheiterns der Revolution und entwickelt ein Vermächtnis, das in sich die verschiedenen Elemente seines Anarchismus zusammenfügt: "Eine politische Revolution in Deutschland stand noch aus; nun ist sie gründlich vollbracht, und nur die Unfähigkeit der Revolutionäre beim Aufbau der neuen Wirtschaft vor allem und auch der neuen Freiheit und Selbstbestimmung könnte schuld sein, daß eine Reaktion käme und die Einnistung neuer Gewalten des Privilegs. ... Das Chaos ist da; neue Regsamkeit und Erschütterung zeigt sich an; ... möge die Revolution lange leben und wachsen und sich in schweren, in wundervollen Jahren zu neuen Stufen steigern; möge den Völkern aus ihrer Aufgabe, aus den neuen Bedingungen, aus dem urtief Ewigen und Unbedingten der neue, schaffende Geist zuströmen, der erst recht neue Verhältnisse erzeugt; möge uns aus der Revolution Religion kommen, Religion des Tuns, des Lebens, der Liebe, die beseligt, die erlöst, die überwindet. Was liegt am Leben? Wir sterben bald, wir sterben alle, wir leben gar nicht. Nichts lebt, als was wir aus uns machen, was wir mit uns beginnen; die Schöpfung lebt; das Geschöpf nicht, nur der Schöpfer. Nichts lebt als die Tat ehrlicher Hände und das Walten reinen wahrhaften Geistes."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Gustav Landauer Durch Absonderung zur Gemeinschaft

Ungeheuerlich und fast unaussprechbar groß ist der Abstand geworden, der uns, die wir uns selbst als die Vorhut fühlen, von der übrigen Menschheit trennt. Ich meine nicht die Entfernung zwischen denen, die man gewöhnlich Gebildete nennt, und den übrigen Massen. Die ist auch schon schlimm genug, aber es ist nicht so weit her damit. Mancher geweckte Arbeiter, der schon Berührungspunkte mit unserer Vorhut hat, ist durch eine tiefere Kluft von dem gebildeten Philister getrennt.
Man muß es im Gefühl haben, wer zu dieser abgesprengten Truppe, die eine Vorhut ist, sobald sie es sein will, gehört. Nicht das Mehrwissen oder Mehrkönnen entscheidet, sondern das andersgerichtete Interesse und die Lebensauffassung.
Dem Massenmenschen ist sein Platz und sein Bereich von den Erbmächten, die von außen und auch von innen auf ihn einwirken, angewiesen: er findet sich als Angehöriger einer Familie und einer bestimmten Gesellschaftsschicht, er läßt sich ein bestimmtes Wissen und einen bestimmten Glauben einpumpen, er wendet sich einem bestimmten Erwerb zu, er ist evangelischer oder katholischer Christ, deutscher oder englischer Patriot; Wichsefabrikant oder Zeitungsredakteur. Die Autorität, die Sitte, die Moral, das Herkommen seiner Zeit und seiner Klasse ist der Raum, in dem er hin- und herpendelt.
Eine junge Generation ist hochgekommen, der all diese Überlieferungen fragwürdig geworden sind. Man kann sie, wenn man Lust hat, rubrizieren und einschachteln. Da gibt es Sozialisten und Anarchisten, Atheisten und Zigeuner, Nihilisten und Romantiker. Die einen sind mit Feuereifer ins Volk gegangen, um es zu heben, um es zu wecken, um es zu läutern, um es zu Zorn und Empörung anzureizen, um ihm Schönheit und Größe zu künden, schließlich um es zu neuen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verbänden zu organisieren. Die anderen, denen ebenfalls alle heiligen Begriffe und Einrichtungen schwankend geworden sind, haben andere Wege eingeschlagen: das Leben ward ihnen zum Spiel, ihre Sinne tasteten in nervöser Sucht nach dem Erlesensten und Ausgesuchtesten, sie wurden große Einsame oder kleine Genüßlinge.
Nun sind wir, die ins Volk gegangen waren, von unserer Wanderung zurückgekehrt. Einige sind uns unterwegs verloren gegangen, bei einer Partei oder bei der Verzweiflung. Etwas haben wir mitgebracht: einzelne Menschen. Einzelne Menschen, die wir aus dem Meer des Alltags herausgefischt haben, mehr haben wir nicht gefunden. Es sei denn eine Erkenntnis, die wir in Schmerzen und Kämpfen erobert haben: wir sind zu weit voran, als daß unsere Stimme von den Massen noch verstanden werden könnte. Wir fassen das Leben zu einfach auf, als daß die Menschen aus ihren verworrenen Irrgängen den Weg zu uns schlichten Tieren finden könnten. Und wieder sind unsere Seelen zu fein und kompliziert, als daß wir es da unten auf die Länge aushalten könnten. Unsere Erkenntnis ist: wir dürfen nicht zu den Massen hinuntergehen, wir müssen ihnen vorangehen, und das sieht zunächst so aus, als ob wir von ihnen weggingen. Die Gemeinschaft, nach der wir uns sehnen, die wir bedürfen, finden wir nur, wenn wir Zusammengehörige, wir neue Generation, uns von den alten Gemeinschaften absondern. Und wenn wir uns ganz gründlich absondern, wenn wir uns als Einzelne in uns selber tiefst hinein versenken, dann finden wir schließlich, im innersten Kern unseres verborgensten Wesens, die urälteste und allgemeinste Gemeinschaft: mit dem Menschengeschlecht und mit dem Weltall. Wer diese beglückende Gemeinschaft in sich selber entdeckt hat, der ist für alle Zeit bereichert und beseligt und endgültig abgerückt von den gemeinen Zufallsgemeinschaften der Mitwelt.

Dreierlei Gemeinschaften unterscheide ich: erstens die Erbmacht, als die ich mich selbst finde, wenn ich tief genug in mich selbst und die Bergwerksschächte meines Innern hineinsteige, um die paläontologischen Schätze des Universums in mir zu heben, zweitens die andere Erbmacht, die von außen her mich umklammern, beengen und einschließen will, und schließlich drittens die freien momentanen Vereinigungen der Einzelnen da, wo sie und ihre Interessen einander berühren. Die erste dieser drei Gemeinschaften nennt man gewöhnlich das Individuum, das aber, wie ich zeigen will, zugleich eine Funktion oder Erscheinungsform des unendlichen Weltalls ist; die zweite ist die Zwangsgemeinschaft der bürgerlichen Gesellschaften und Staaten, die dritte Gemeinschaft ist die, die erst kommen soll, und die wir Ersten gleich jetzt anbahnen und beginnen wollen.

Wenn man über diese großen Fragen sich aussprechen will, wenn man aus den Worten: Individuum, Gemeinschaft das herausholen will, was für unser bestes Gefühl darin Wirkliches steckt, wenn man von der Realität reden will, die wir hinter unseren abstrakten Ausdrücken und Gattungsnamen postulieren, darf man sich nicht scheu oder pfiffig an Berkeley, Kant oder Schopenhauer vorbeidrücken. Geben wir es zu: wenn ich von meinem Subjektiven ausgehe, wenn ich mein Gefühl, daß meine Individualität eine isolierte Einheit sei, als Realität gelten lasse, dann gebe ich damit rettungslos alle andern Realitäten preis. Dann wird Raum und Zeit meine Anschauungsform, dann ist alle Körperlichkeit, mein Hirn und meine Sinnesorgane eingeschlossen, und du Leser erst recht eingeschlossen, ein gespenstisches Gespinst, das ich Psyche mir fabriziert habe, dann ist ebenfalls alle Vergangenheit nur eine Auseinanderlegung meines ewig gegenwärtigen Bewußtseins, und alle entwicklungsgeschichtliche Erklärung zerfällt damit in Unmöglichkeit. Diese Anschauung ist ewig unwiderlegbar, und keine andere Anschauung ist beweisbar. Nur daß auch die Voraussetzung, von der ich ausgehe, niemals zu erweisen ist: mein inneres Gefühl, daß ich eine isolierte Einheit sei, kann falsch sein, und ich erkläre es für falsch, weil ich mich nicht mit der entsetzlichen Vereinsamung zufrieden geben will. Ich muß aber wissen, was ich damit tue: ich verlasse das Einzige, was mir von innen her sicher zu sein schien, ich treibe hinaus in die hohe, wilde See der Postulate und Phantasien. Ich verzichte auf die Gewißheit meines Ichs, damit Ich das Leben ertragen kann. Ich baue mir eine neue Welt mit dem Bewußtsein, daß ich keinen Grund habe, auf dem ich baue, sondern nur eine Notwendigkeit. Solcher Zwang aber, den das allgewaltige Leben übt, hat befreiende, jauchzenschaffende Kraft in sich: ich weiß von jetzt ab, daß es meine, eine selbstgeschaffene Welt ist, in der ich schaue, in die ich wirke. Um nicht welteneinsam und gottverlassen ein Einziger zu sein, erkenne ich die Welt an und gebe damit mein Ich preis; aber nur, um mich selbst als Welt zu fühlen, in der ich aufgegangen bin. Wie ein Selbstmörder sich ins Wasser stürzt, so stürze ich mich senkrecht in die Welt hinab, aber ich finde in ihr nicht den Tod, sondern das Leben. Das Ich tötet sich, damit Weltich leben kann. Und so, mag es immerhin nicht die absolute, das heißt doch wohl die losgelöste Wirklichkeit sein, die ich mir schaffe, meine Wirklichkeit ist es, in mir geboren, von mir bewirkt, in mir wirksam. An die Stelle der Abstraktion, der tötenden, entleerenden und verödenden Abziehung, setzen wir die Kontraktion, die Zusammenziehung all unserer inneren Kräfte, und die Attraktion, die Hineinziehung des Weltalls in unsern Machtbereich. Das wird gut sein, denn die Abstraktion und das begriffliche Denken ist an der Endstation angelangt; es wartet nur noch auf den Keulenschläger, der es zusammentrümmert. Seit Kant kann das Begriffsdenken zu nichts mehr führen als zum Totschlagversuch gegen die lebendige Welt; jetzt aber bäumt sich endlich das Leben auf und tötet den toten Begriff. Denn auch das Tote muß noch getötet werden. An die Stelle der einen absoluten Welterklärung und der qualvollen vergeblichen Versuche, ihrer habhaft zu werden, treten Bilder der Welt, deren verschiedene ergänzend nebeneinander herlaufen können, Bilder, von denen wir wissen, daß sie nicht die Welt "an sich", sondern die Welt für uns sind: eine Annäherung an das Jenseits unseres Ichs mit Hilfe unseres Ichgefühls; ein Hinauslangen ins Bereich des Übersinnlichen mit Hilfe unserer Sinne; ein Versuch, mit dem ganzen Reichtum unseres Lebens, mit unseren Leidenschaften und mit unserer tiefsten Stille, die Welt zu begreifen. Bei unseren Versuchen, die Welt zu betasten und zu begreifen, sind wir schließlich müde und genügsam geworden; anstatt sie uns einzuverleiben, haben wir sie entleibt und sie in die leeren Appartements unserer Assoziationen und Allgemeinbegriffe hineinkomplimentiert. Am Eingang dieser aparten ungastlichen Gemächer, die wir von den wohnlicheren Räumen unserer lustvollen Anschauungen und unserer glanzgeschmückten Lebenstriebe sorgsam getrennt halten, könnte der warnende Vermerk stehen: Nr. 0. Schlagen wir jetzt einen anderen Weg ein: lassen wir die Welt durch uns hindurchgehen, schaffen wir den Zustand der Bereitschaft, sie in uns zu verspüren, erleben wir die Welt, lassen wir uns von ihr begreifen und erfassen. Bisher fiel alles auseinander in ein armes, schwächlich aktives Ich und eine unnahbar starre, leblos passive Welt. Seien wir jetzt das Medium der Welt, aktiv und passiv in Einem. Bisher haben wir uns begnügt, die Welt in den Menschengeist, besser gesagt: in den Hirngeist zu verwandeln; verwandeln wir jetzt uns in den Weltgeist.
Das können wir. Mit Recht hat ein alter Meister, der große Ketzer und Mystiker Eckhart, gesagt, daß wir, wenn wir vermöchten, ein kleines Blümchen ganz und gar, so wie es in seinem Wesen ist, zu erkennen, damit die ganze Welt erkannt hätten. Er selbst hat aber darauf hingedeutet, daß wir niemals zu solcher absoluten Erkenntnis von außen her, mit Hülfe unserer Sinne, die wir außen an unserem Leibe hängen haben, gelangen können. "Gott ist allezeit bereit, aber wir sind sehr unbereit; Gott ist uns nahe, aber wir sind ihm ferne; Gott ist drinnen, aber wir sind draußen; Gott ist zu Hause, wir sind in der Fremde." Und er zeigt uns auch den Weg, man muß nur seine Gottesbildersprache verstehen. Er erzählt von der Schwester Kathrei, der ekstatischen Nonne, wie sie jubelnd ihrem Meister entgegenspringt: "Herr, freuet Euch mit mir, ich bin Gott geworden!" Sie hatte alles dessen vergessen, was je Namen trug, und war ganz fern aus sich selbst und allen unterschiedenen Dingen herausgezogen worden. Und als sie wieder zu sich kam, da stammelte sie erst: "Was ich gefunden habe, das kann niemand in Worte fassen." Als ihr aber endlich doch die Sprache ward, da kündete sie: "Ich bin da, wo ich war, ehe ich ein Individuum wurde, da ist bloß Gott und Gott. ... Ihr müßt wissen, alles was man so in Worte faßt und den Leuten mit Bildern vorlegt, das ist nichts als ein Mittel zu Gott zu locken. Wisset, daß in Gott nichts ist als Gott; wisset, daß keine Seele in Gott hineinkommen kann, bevor sie nicht so Gott wird, wie sie Gott war, bevor sie ein Individuum wurde. ... Ihr sollt wissen, wer sich damit genügen läßt, mit dem, was man in Worte fassen kann: Gott ist ein Wort, Himmelreich ist ein Wort; wer nicht weiter kommen will mit den Kräften der Seele, mit Erkenntnis und mit Liebe, der soll mit Fug ein Ungläubiger heißen. ... Es ist die Seele nackt und aller namentragenden Dinge entblößt. ... Wisset, solange der gute Mensch auf Erden lebt, so lange hat seine Seele Fortgang in der Ewigkeit. Darum haben gute Menschen das Leben lieb."
Der Weg, den wir gehen müssen, um zur Gemeinschaft mit der Welt zu kommen, führt nicht nach außen, sondern nach innen. Es muß uns endlich wieder einfallen, daß wir ja nicht bloß Stücke der Welt wahrnehmen, sondern daß wir selbst ein Stück Welt sind. Wer die Blume ganz erfassen könnte, hätte die Welt erfaßt. Nun denn: kehren wir ganz in uns selbst zurück, dann haben wir das Weltall leibhaftig gefunden.

Machen wir es uns ganz klar, daß uns, sofern uns unser eigenes inneres Wesen eine Wirklichkeit ist, alle differenzierte Materie in der Tat ein Gespenst ist, das unser Auge, unser Tastsinn und die Raumanschauung unseres Hirns sich als Außenwelt einbilden (bildlich gesprochen; denn auch diese drei sind ja wiederum Materie!), daß es für unseren inneren Sinn nur differenzierte Psyche gibt, daß wir diese aber als Fordernde annehmen müssen, sofern wir nicht unser schmales, lächerliches Ich als einzig Wesenhaftes betrachten wollen. Aber vergessen wir nicht, daß die Anerkennung der Welt ein Postulat unseres Denkens, das als Diener unseres Lebens vorgeht, und der beseelten Welt ein Analogieschluß dieses selben Denkens ist. Vergessen wir es nicht, damit uns eine notwendige Stimmung nicht zum Dogma oder zur sogenannten Wissenschaft werde. Und vergessen wir ferner nicht, daß die "Weltbeseelung" gar nichts für die Weltmoral oder für eine Moral, die aus einem Weltprinzip abgeleitet werden könnte, beweist. Zu einem ethischen Dogma oder einer sogenannten wissenschaftlichen Begründung der Moral reicht unsere Weisheit noch am wenigsten. Und machen wir es uns dann ferner klar ­ wir wissen ja jetzt, was klar machen heißt: um einer notwendigen Stimmung willen Befriedendes zusammenträumen ­, daß Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und ebenso Hier und Dort nur ein einzigeiniger ewiger Strom sind, der vom Unendlichen zum
Unendlichen strömt. Es gibt dann für diese Welt, die uns notwendig und darum wahrhaft ist, nicht eine Ursache, die am einen Ende gewesen ist, und nicht eine Wirkung, die am andern Ende gegenwärtig ist: derlei Annahmen gibt es nur im Reiche der isolierten Körper, aber nicht in unserer wogenden Flut der Seelenkräfte. Es würde zu weit führen, hier zu zeigen, daß man auch in der reinen Körpermechanik allmählich dahinter gekommen ist, daß es keine isolierten Körper, keine Wirkung in die Ferne gibt. Das Bild des Fließens und der Wellenbewegung ist ja auch im Körperlichen geläufig (daß es daher genommen ist, versteht sich von selbst). Die Molekular- und Äthertheorie gehört hierher, mag man sie nun als hypothetische Einführung eines Hilfsbegriffs oder als Ausrede auffassen. Überhaupt sei darauf hingewiesen: es soll nicht geleugnet werden, daß man die Welt auch materialistisch erklären kann, da es ja unendlich viele Annäherungsversuche und Gleichnisse, unendlich viele Weltanschauungen, Spinoza sagte gläubiger: unendlich viele Attribute Gottes gibt. Nur muß man dann alles materiell auffassen und vom Psychischen ganz absehen; denn eine Vermischung der beiden Bereiche geht nicht an, insofern man niemals die Entstehung des Psychischen aus der Materie wird begreiflich machen können. Das hat schon Spinoza gewußt. Dagegen wissen wir erst seit Locke, Berkeley und Kant, daß umgekehrt allerdings die Materie ohne den kleinsten Rest durch die Psyche ausgedrückt werden kann, entweder als Vorspiegelung meiner Individualseele, was oben abgelehnt wurde, oder, bildlich gesprochen, als Teilseelen der Weltseele, was hier postuliert wird. Diesen außerordentlichen Vorsprung hat die seelenhafte Auffassung der Welt vor der materialistischen voraus. Andererseits bedürfen wir wieder dringend der Erforschung des Materiellen, damit die psychische Bildersprache vom Fleck kommen kann.
Denn wie armselig wäre unser Lallen von der Weltseele, wenn wir nicht stets neue objektive Angaben unserer Sinne hätten, die wir seelisch umdeuten können. Es ist ein verzwicktes und mühsames Verhältnis, die Ehe zwischen uns und der Welt: aber da wir uns zur Scheidung um des mancherlei Erfreulichen willen nicht entschließen können, tun wir gut, uns mit Heiterkeit und guter Miene darein zu finden; die unerquickliche Episode des Keifens und Fluchens, die man Pessimismus nannte, war nicht allzu erbaulich.
Wir sagen also: was wirkt, ist gegenwärtig; was wirkt, das stößt und drängt, was wirkt, das übt eine Macht aus, was eine Macht ausübt, ist da, was da ist, ist lebendig. Es ist dieser Anschauung unfaßbar, daß etwas, was längst tot ist, noch wirksam, das heißt tätig sein soll. Jede Ursache ist lebendig, sonst wäre sie keine Ursache. Es gibt keine toten Naturgesetze; es gibt keine Trennung zwischen Ursache und Wirkung: diese beiden müssen aneinander grenzen; Ursache-Wirkung ist ein Fließen von Einem zum Anderen; und wenn das vielleicht um ein Winziges bereicherte Andere wieder zum Einen zurückströmt und so ein ewiges Hin- und Widerfluten entsteht, wird wohl das daraus, was man Wechselwirkung nennt; denn so etwas gibt es, wenn auch die Starren nichts davon wissen wollen. Die Materie ist starr und steif, kein Wunder, daß die Materialisten es auch sind. Dieses Hin und Her des ewig Lebendigen, in dem es kein Abgeschiedenes mehr gibt, weil für Tod und Geschiedenheit kein Raum mehr da ist, ist der Makrokosmos, dessen erschautes Zeichen Goethes Faust zu dem Jubelruf treibt:
Bin ich ein Gott? Mir wird so licht!
Ich schau in diesen reinen Zügen
Die wirkende Natur vor meiner Seele liegen.
Die wirkende Natur ­ die natura naturans des Goethe-Meisters Spinoza, der sie von den Mystikern und Realisten des Mittelalters übernommen hat.
Immer wieder stoßen wir auf diesen Hinweis, daß man Gott werden, daß man, anstatt die Welt zu erkennen, die Welt selbst werden oder sein kann. Es ist die tiefste Umdeutung vielleicht der Christuslegende, vielleicht auch die tiefste Bedeutung dessen, was Jesus selbst gelehrt hat, wenn Meister Eckhart den Gott, der zugleich Menschenkind ist, zu uns sprechen läßt: "Ich bin euch Mensch gewesen, wenn ihr mir nicht Götter seid, so tut ihr mir Unrecht." Sehen wir zu, wie wir Götter werden, wie wir die Welt in uns finden können.

Die Realisten des Mittelalters sind erwähnt worden. Sie hießen Realisten, weil sie die Universalien, die letzten leersten Abstrakta und die Gattungsnamen, für Wirklichkeiten erklärten. Da sie sich meist an Artefakta, an Erzeugnisse der Menschenhände und Menschenköpfe, wie Topf, Tugend, Gott, Unsterblichkeit, hielten, hatten ihre Gegner, die Nominalisten, ihnen gegenüber leichtes Spiel, so schwer diese Oberflächlichen, Geistreichen auch in ihrer tiefsinnigen und verrannten Zeit durchdrangen: sie erklärten, diese Begriffe seien keine Realitäten, sondern bloß Worte.
Die Nominalisten haben eine notwendige Säuberungsarbeit vollbracht; sie beraubten Hirngespinste ihrer Realität und Heiligkeit. Der letzte große Nominalist war Max Stirner, der mit radikalster Gründlichkeit den Spuk der Abstrakta aus den Gehirnen auszukehren unternahm. Die Essenz seiner Lehre ist etwa in den Worten enthalten, die er nicht gerade so ausgesprochen hat: "Der Gottesbegriff ist zu vernichten. Aber nicht Gott ist der Erzfeind, sondern der Begriff." Er hat entdeckt, daß alle tatsächliche Unterdrückung zuletzt von den Begriffen und Ideen ausgeübt wird, die respektiert und für heilig genommen werden. Mit unerschrockener, gewaltiger und sicherer Hand hat er Begriffe wie Gott, Heiligkeit, Moral, Staat, Gesellschaft, Liebe auseinandergenommen und lachend ihre Hohlheit demonstriert. Die Abstrakta waren nach seiner glänzenden Darstellung aufgeblasene Nichtigkeiten, die Sammelnamen nur der Ausdruck für eine Summe von Einzelwesen. Der letzte Nominalist setzte das konkrete Einzelwesen, das Individuum, als Realität auf den entleerten Stuhl Gottes, der von nun an von dem Einzigen und seinem Eigentum besessen wurde. Das war die Stirnersche Besessenheit.
Uns liegt nun die entgegengesetzte und darum ergänzende Arbeit ob: die Nichtigkeit des Konkretums, des isolierten Individuums nachzuweisen und zu zeigen, welche tiefe Weisheit in der Lehre der Realisten steckt. Die Umwege, die in Jahrhunderten gemacht wurden, waren nicht überflüssig, aber jetzt wird es Zeit zu der Einsicht, daß es keinerlei Individuum, sondern nur Zusammengehörigkeiten und Gemeinschaften gibt. Es ist nicht wahr, daß die Sammelnamen nur Summen von Individuen bedeuten; vielmehr sind umgekehrt die Individuen nur Erscheinungsformen und Durchgangspunkte, elektrische Funken eines Großen und Ganzen. Eine andere Frage ist freilich, ob die überlieferten Gattungsnamen in ihrer bequemen Schablonenhaftigkeit auch nur einigermaßen einen gemäßen Ausdruck für die Gesamtheiten bilden, deren Momentblitze die Individuen sind.
Erinnern wir uns, daß es für uns keine gewesenen Ursachen und keine toten Naturgesetze, keine transzendenten Prinzipien mehr gibt. Wir kennen nur mehr immanentes Leben, gegenwärtige Machtausübung. Wenn daher der Vertreter des Starren, der Wissenschaftsmensch unserer Tage, uns sagt: Auf Grund der Vererbung ist das neugeborene Individuum so wie es ist konstituiert, so erwidern wir ihm: Wo ist denn diese Vererbung? Im Himmel oder im Gewesenen? Wäre das tote, eherne, unbewegliche Gesetz der Vererbung also der Vater oder so etwas wie der Pate eines isolierten Lebewesens? Nein, es gibt weder die abstrakte Vererbung noch das konkrete Individuum. Vererbung ist ein Verwesungs- und Gewesenheitswort für etwas sehr Lebendiges und Gegenwärtiges. Individuum ist ein Starres und Absolutes als Ausdruck für ein sehr Bewegliches und Verbundenes. Bei der Vererbung handelt es sich um eine sehr reale und stets gegenwärtige Macht, die ausgeübt wird, um das Weiterleben der Vorfahrenwelt in neuen Formen und Gestalten. Das Individuum ist das Aufblitzen des Seelenstromes, den man je nachdem Menschengeschlecht, Art, Weltall nennt. Treten wir von außen an die Welt heran, dann sehen und tasten, riechen, hören und beschmecken wir Individuen. Kehren wir aber bei uns selber ein, dann kann es uns schließlich gelingen, über das autonome Individualgefühl hinauszukommen: was wir sind, das sind unsere Vorfahren in uns, die in uns wirksam, tätig, lebendig sind, die mit uns sich an der Außenwelt reiben und wandeln, die aus uns heraus und mit uns zusammen in unsere Nachkommen wandeln. Es ist eine gewaltige Kette, die vom Unendlichen herkommt und ins Unendliche weiterreicht, wenn auch einzelne Gliederchen abreißen und umständlichere Wandlungen erleiden. Denn auch unsere Werke, was wir wirken, solange wir leben, sind Teile, die uns mit dem All verbinden, auch unser Leichnam ist eine Brücke, auf der wir weiter in die Welt hineinschreiten. Wie Clemens Brentano sagt: "Leben ist nichts als die Ewigkeit, die wir uns zueignen dadurch, daß wir uns ein Stückchen von ihr mit einem hinten vorgehaltenen Tod auffangen." Das Wort: "Alles was lebt, stirbt", ist eine relative, aber triviale und nichtssagende Wahrheit; ihm stellen wir den Satz entgegen: Alles was lebt, lebt ein für alle Mal.
Wir haben gesehen, daß Materie und Körperlichkeit nur sehr ungemäß und schon beinahe veraltete Ausdrücke für das unendlich differenzierte Seelenfluten sind, das man Welt nennt. Aber da diese neue Anschauung doch erst im primitiven Entstehen ist und uns Worte dafür noch kaum zu Gebote stehen, bleibt uns nichts übrig, als die alten Ausdrücke unter Vorbehalt weiter anzuwenden. Das schadet auch nicht viel, da ja all unsere Auseinandersetzungen nur bildmäßige Annäherungsversuche, da sie ja immer unter Vorbehalt gegeben sind, da wir ja mehrere parallele, ergänzende Weltanschauungen in uns parat haben müssen, um unsere Welt zu bereiten. Betrachten wir also unsere Einsicht einmal von dieser körperlichen Seite und machen wir uns recht klar, daß es für uns gar nichts Unumstößlicheres geben kann als diese Betrachtung, wonach der einzelne Mensch, das Individuum, in einem unlösbaren körperlichen Zusammenhang mit der verflossenen Menschheit steht. Wohl reißt bei der Geburt die Nabelschnur, die das Kind mit der Mutter verbindet, entzwei, aber haltbarer sind die unsichtbaren Ketten, die den Leib des Menschen an seine Vorfahren knüpfen. Was ist denn die Vererbung anders als eine fast unheimliche, dann aber wieder so vertraute und innig bekannte Macht, die die Ahnenwelt auf meine Leiblichkeit wie meinen Geist ausübt, eine unentrinnbare Herrschaft? Was ist aber Macht und Herrschaft anders als Gegenwart und Gemeinschaft? Wenn wir Menschen eine glatte Haut ohne Wollhaar haben, ein nicht vorspringendes Kinn, einen aufrechten Gang, so ist das eine Folge der Vererbung, das heißt der Herrschaft, die heute noch nach sehr langen Zeiträumen die ersten Menschen ausüben, die sich aus dem Affentum erhoben haben, oder anders ausgedrückt: da diese ersten Menschen in uns wirksam sind, leben sie insofern noch in uns, und wir finden sie in uns, indem wir uns selber empfinden. Denn man wird es doch endlich einsehen, daß alle Wirkung Gegenwart erfordert und daß es keine gewesenen, sondern nur lebende Ursachen gibt. Oder wenn man auf das schlechte Wort Ursache verzichten will, dann kann man freilich sagen: die Ursache ist tot, es lebe die lebendige Wirksamkeit! Und so kann man das Wort Schopenhauers, wonach alle Wirklichkeit Wirksamkeit sei, einmal umkehren und sagen: alle Wirksamkeit ist wirklich, wirklich sind die großen Gemeinschaften und Zusammenhänge, und was wirklich ist ­ das weiß schon die schwäbische Mundart ­ das ist auch gegenwärtig und momentan. Wir sind die Augenblicke der ewig lebendigen Ahnengemeinde. Der ewig lebendigen ­ und es kann nur gut sein, bei der Gelegenheit darauf hinzuweisen, daß die Ewigkeit auch ein zeitlicher Verlauf ist. Auch wenn Schopenhauer zeitlos sagt, meint er nichts anderes als den unendlichen Verlauf der Zeit. Ich fürchte sehr, daß wir, wenn wir den Versuch machen, die absolute Zeitlosigkeit herzustellen, den Verlauf der Zeit aufzuheben, und Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als eine Art stehenbleibende Gleichzeitigkeit zu gewahren ­ die Sprache verläßt uns hier ­ daß wir dann einfach das Bild des unendlichen Raums vor uns produzieren. Wir können die Zeit räumlich oder den Raum zeitlich ausdrücken, die Zeit vom Raum oder den Raum von der Zeit verschlingen lassen; aber beide zu überwinden, gelingt wohl auch der stärksten Konzentration und Versenkung nicht. Alles Räumliche zeitlich auszudrücken, ist vielleicht eine der wichtigsten Aufgaben kommender Menschen. Denn all unsere Sprache ist quantitativ Raumsprache, qualitativ Gesichtssprache ­ der Baum, der Mensch, das Säugetier, all diese Begriffe und erst recht die Konkreta sind auf Gesichtswahrnehmungen aufgebaut ­ es wäre gut, mit Hilfe des Gehörs alle Welt einmal zeitlich zu vernehmen und zu sagen. Die Musik ist vielleicht nur ein primitiver Anfang zu dieser neuen Sprache.
Die großen Erbgemeinschaften sind wirklich; denn die Vorfahren wirken heute noch, müssen also lebendig sein. Längst sind unsere menschlichen und tierischen Vorfahren ­ um zunächst nur von diesen zu reden ­ fast bis auf die letzte Spur ausgestorben und verschollen; in der über und über durchwühlten Erde hat man nur armselige Reste gefunden. In uns selbst aber leben diese paläontologischen Reliquien, diese verstorbenen und ausgestorbenen Tiere, noch leibhaftig weiter. Es bedarf nur des zweiten Gesichts, damit wir sie gewahren. Wir sind der Teil, der von ihnen übrig geblieben ist, und unsere Kinder sind ebensowohl ihre Kinder wie unsere Kinder. Die individuellen Leiber, die von Anbeginn an auf der Erde gelebt haben, sind nicht bloß eine Summe von abgesonderten Individuen, sie alle zusammen bilden eine große, durchaus wirkliche Körpergemeinschaft, einen Organismus. Einen Organismus, der sich ewig verwandelt, der sich ewig in neuen Individualgestalten manifestiert. So wenig unser Oberbewußtsein von dem mächtigen und realen Seelenleben unseres angeblich unbewußten, nämlich dem Oberbewußtsein unbekannten Trieb-, Reflex- und körperlich automatischen Lebens weiß, so wenig wissen wir für gewöhnlich von dem Vorfahrenleben und der großen Vorfahrenherrschaft in uns. Und doch muß es uns unumstößlich sein, auch das ist ein Postulat, ohne dessen Anerkennung uns das Leben und die Welt gespenstisch wird ­ alle Materie, alles außen Wahrgenommene ist ein Gespenst ­ daß alles was ist für sich ist, das heißt bewußt ist. Est, ergo cogitat ­ so lautet unser kartesisches Grundwort. Nicht ein abstrakter, toter Begriff ist uns daher die Menschheit; die Menschheit ist das Wirkliche und Lebende, die einzelnen Menschen sind mitsamt ihrer Bewußtheit die auftauchenden, wandelbaren und wieder untergehenden, das heißt von neuem verwandelten Schattenbilder, durch welche die Menschheit sichtbar wird. Die Menschheit, oder besser gesagt, wir werden es noch sehen, das Weltall ist die platonische Idee, das ens realissimum der Scholastiker. Wie der Baum, wenn er in unfruchtbarem Boden steht, einen Zweig herabsenkt in fruchtbares Erdreich: der alte Baum stirbt ab und vergeht, der Schößling gedeiht und wird ein neuer Baum: so stirbt auch der Mensch und stirbt doch wieder nicht; in seinen Kindern, in seinen Werken lebt er selbst verwandelt und mit den Kräften anderer Menschen vereinigt weiter.

Man könnte sagen: sehen wir zunächst vom Körperlichen ab und halten wir uns an das Geistige. Ich möchte freilich gleich abwehren: nein, nein, das geht nicht. Wer in sich seelisch nur das Geistige verspürt, das Eigenkörperliche aber nur äußerlich sinnlich wahrzunehmen glaubt, der hat sich sein natürliches Empfinden von Schuldogmen verderben lassen. Von innen her ist Körper und Geist ganz und gar nicht zu trennen, beides ist Seelenweise. Aber gehen wir einmal auf die künstliche Absonderung ein, lassen wir uns den Einwand gefallen. Da sagt man: Erbmacht und Artgeist im Individuum seien doch höchstens die Überlieferungen der Sitte und Sittlichkeit, die Herdenmoral und dergleichen; im übrigen aber sei doch das Individuum etwas für sich, etwas Besonderes und scharf Abgegrenztes. Aber das Gegenteil ist wahr. Es kann dahingestellt bleiben, wie weit Sitte und Tradition vorangegangener Geschlechter schon ins Bereich des Angeerbten übergegangen sind; zum größeren Teil aber wirken sie als wesensandere Erbmacht von außen her, als Milieu und Zufallsgemeinschaft der Autorität auf uns ein. Was aber das Individuum ist, das ist etwas von Gottes Gnaden und Geburtswegen Feststehendes, das ist die Erbmacht, die wir selbst sind, ist der Charakter, der nur oberflächlich von außen her nuanciert und zurechtgezogen werden kann. Je fester ein Individuum auf sich selbst steht, je tiefer es sich in sich selbst zurückzieht, je mehr es sich von den Einwirkungen der Mitwelt absondert, um so mehr findet es sich als zusammenfallend mit der Welt der Vergangenheit, mit dem, was es von Hause aus ist. Was der Mensch von Hause aus ist, was sein Innigstes und Verborgenstes, sein unantastbares Eigengut ist, das ist die große Gemeinschaft der Lebendigen in ihm, das ist sein Geblüt und seine Blutgemeinde. Blut ist dicker als Wasser; die Gemeinschaft, als die das Individuum sich findet, ist mächtiger und edler und urälter als die dünnen Einflüsse von Staat und Gesellschaft her. Unser Allerindividuellstes ist unser Allerallgemeinstes. Je tiefer ich in mich selbst heimkehre, um so mehr werde ich der Welt teilhaftig.
Habe ich denn aber die Organe, um diese Heimkehr in meine Tiefen, um diese Findung meiner selbst bewerkstelligen zu können? Kann diese Findung etwas anderes sein als die Empfindung, und ist nicht die Empfindung, die ich von mir selbst habe, dieser innere Sinn, im Gegensatz zu den klaren und deutlichen Eindrücken, die mir die Sinnesorgane von außen her vermitteln, nur ein dumpfes und unbestimmtes Allgemeingefühl? Die Gemeinschaft, die ich künde, wäre etwa nur dieses gestaltlose, zerfließende Allgemeingefühl, mit dem nichts anzufangen ist?
Seien wir nicht so stolz auf die Klarheit unserer Sinneseindrücke und vergessen wir nicht, daß wir die Gemeinschaftswelt, die ich meine, nicht wahrnehmen, sondern sein und leben wollen. Die Deutlichkeit und Bestimmtheit unserer Wahrnehmungen kommt eben von dem Zustand der Vereinzelung und Abgrenzung, der Individualisierung, in den wir den Strom der Außenwelt versetzen müssen, um seiner auf Umwegen habhaft zu werden. Und ebenso scheint es, hat die Welt uns absondern und zu Individuen schaffen müssen, um in uns aufblitzen und erscheinen zu können. Nur daß wir in dieser Absonderung und in tiefster Einkehr bei uns selbst die Welt leibhaftig und seelenhaft in uns finden und spüren. Weil die Welt in Stücke zerfallen und von sich selbst verschieden und geschieden ist, müssen wir uns in die mystische Abgeschiedenheit flüchten, um mit ihr eins zu werden.
Wollen wir etwas Vergessenes wieder in unser Oberbewußtsein hinaufzwingen, so besinnen wir uns. Wir haben dazu den psychischen Apparat, den man Gedächtnis nennt. Dies Gedächtnis aber dient nur für das Wenige und Oberflächliche, was wir in unserem Individualleben erworben haben. Denn dieses rein "Individuelle" ist das Oberflächlichste, Neueste und Flüchtigste, während das im echten Sinn Individuelle das Tiefste, Älteste und Unvergängliche ist: die Zwangstriebe der Gemeinschaft, die aus dem Individuum hervorquellen. Der Meister Eckhart sagt, Gott sei nicht mit dem Einzelmenschen eins, sondern mit dem Menschtum, und dieses Menschtum, dieses Wertvolle am Menschen, sei das, was allen Menschen gemeinsam sei. Das Hohe und Erlesene ist für ihn das, was allen gemeinsam ist, was er die Natur aller Menschen nennt. Man darf das nur nicht so verstehen, daß man die zufällig und autoritär zu stande gekommenen Übereinstimmungen auf der Oberfläche der Mitmenschenherden als Moral aufs Postament setzt. Nicht dieses ewig Gleichgültige, Oberflächliche und Philisterhafte ist die von ihm gemeinte Natur aller Menschen, sondern das ewige Erbteil, das Göttliche, die Übereinstimmung und Gemeinschaft, die zu stande kommt, wenn jeder seine eigenste und echteste Besonderheit findet und herausarbeitet. Denn diese in der Abgrundstiefe wurzelnde Individualität ­ das ist eben schon die Gemeinschaft, das Menschtum, das Göttliche. Und wenn erst einzelne Individuen sich selbst zur Gemeinschaft umgeschaffen haben, dann sind sie reif zu den neuen Gemeinschaften der sich berührenden Individuen, zu den Gemeinschaften derer, die sich vom Oberflächenbrei abzusondern den Mut und die Not gefunden haben.
Diese in sich selbst versunkenen und von innen heraus neugeborenen Individuen haben nun freilich für die Vorfahrenwelt und Gemeinschaft in sich selbst kein Gedächtnis. Sie sind diese Gemeinschaft, sie nehmen sie nicht als Äußeres wahr, sie sind dieses Gedächtnis, sie besitzen es nicht. Wir sind das Menschtum mit all unserem menschlichen Leben, wir sind die Tierheit mit all unserer tierischen Brunst, die älter und darum individueller ist als das bloß Menschliche, dem noch das Oberflächenhafte anhängt. Menschlich ist unser Begriffsdenken und unser Gedächtnis, tierisch, allgemeiner und individueller zugleich, ist unser inbrünstiges Schauen und unser Zeugen, unser Empfinden und all die Formen des Unterbewußtseins und des körperlich-seelischen Erlebens. Und noch mehr Gemeinschaft, noch allgemeiner, noch göttlicher, noch individueller sind wir, sofern wir mehr sind als Tier, sofern uns das angeblich Unorganische, das Unendliche, das Weltall selbst einverleibt ist. Nur das unendliche All, die naturende Natur, der Gott der Mystiker, kann im Sinne Berkeley's und Kant's Ich zu sich sagen. Ich bin die Ursache meiner selbst, weil ich die Welt bin. Ich bin die Welt, wenn ich ganz ich bin. Der Lauf des Entwickelungsstromes kommt aus der Quelle, die in der Ewigkeit entsprungen ist, die Kette ist nirgends abgerissen, nur kann freilich der Strom nicht zurückfließen, und das Oberflächendenken unseres Menschenhirns kann sich nicht auf den Grund zurückbesinnen, auf dem es erwachsen ist, kann die Quelle nicht äußerlich wahrnehmen, nicht als Objekt erkennen, die ihm im Innern selbst, in der ewigen Gegenwart fließt, die es selbst als Teil des Lebendigen ist. Aber wohl vernehmen wir in dem Tiefsten und Wunderbarsten, was der Menschengeist zeugen kann, die Stimme der Ewigkeit: die Musik ist die Welt noch einmal, Schopenhauer hat es prachtvoll gesagt. Wohl finden wir diese Unendlichkeit in uns selber, wenn wir Unendliche, wenn wir ganz wir selber werden und unseren tiefsten Grund aus uns herausholen. Und noch einen Weg zu diesem Unendlichkeitsgefühl gibt es, und er ist der herrlichste von allen, und wir kennen ihn alle, sofern nicht manche von der äußersten Verderbtheit und egoisierenden Oberflächlichkeit der Zufallsgemeinschaft angefressen sind: die Liebe. Die Liebe ist darum ein so himmlisches, so universelles und weltumspannendes Gefühl, ein Gefühl, das uns aus unsern Angeln, das uns zu den Sternen emporhebt, weil sie nichts anderes ist als das Band, das die Kindheit mit den Ahnen, das uns und unsere ersehnten Kinder mit dem Weltall verbindet. Es liegt ein tiefer Sinn darin, daß die Bezeichnung für das Gefühl der Gemeinschaft, die uns mit der Menschheit verbindet ­ Liebe, Menschenliebe ­ dieselbe ist wie für das Gefühl der Geschlechtsliebe, die uns mit den nachkommenden Geschlechtern verkuppelt. Weh dem Unseligen, dem nicht sein ganzer Mensch unter der Liebe erzittert, dem die Befriedigung beim Menschenzeugen nichts weiter ist als ein Hautgefühl! Es ist die tiefste und glühendste Welterkenntnis, die beste, die uns zu Teil ward, wenn der Mann das Weib erkennt, wenn die Welt in einer neuen Gestalt aufblitzen will und der Feuerblitz durch zwei Menschen hindurchgeht.

Zu der Menschenliebe, die ich mit unserm wurzelechtesten Leben in Beziehung gebracht habe, scheint das, was ich im Eingang gesagt habe, von der Kluft, die uns Neue von den Menschenmassen trennt, scheint auch das Ende, auf das meine Gedanken losgehen, daß es not tut, uns von den staatlich zusammengeschlossenen Volkshaufen abzusondern, in Widerspruch zu stehen. In Wahrheit aber ist es klar, daß alle jetzt lebenden Menschen, die zivilisierten wie die andern, in ihrer Natur und ihrem Grunde so urverwandt mit uns sind, so sehr von Haus Unsersgleichen, daß es schwer hält, ihnen nicht als unsern Nächsten in Liebe zugetan zu sein. Wie es aber oft mit Verwandten geht: sie stehen uns in ihrem Kern und Eigensten nahe, und wir fühlen uns ihnen als Blutähnliche, wir lieben sie, aber wir können nicht mit ihnen leben. Sie haben ihre Menschheit mit staatlicher und gesellschaftlicher Niedrigkeit und Verblödung, sie haben ihre Tierheit mit Heuchelei und Sitte, mit Feigheit und Unnatur so gräßlich entstellt und beschmutzt, daß sie kaum in ihren seltenen Stunden der Beseligung oder des innersten Leids als sie selbst aus ihren Masken emportauchen. Und sie haben sich den Weg zum Weltall fast ganz versperrt; sie haben es vergessen, daß sie sich in Götter verwandeln können. Wir aber wollen Menschen sein, wir wollen Tiere sein, wir wollen Gott sein: seien wir darum Helden. Aus Liebe zum jämmerlich verirrten Menschengeschlecht, aus Liebe auch zu denen, die nach uns kommen, aus Liebe schließlich zu unserem eigenen Allerbesten wollen wir von ihnen fortgehen, wollen wir unser eigenes Leben und unsern eigenen Verkehr, wollen wir unsere eigene Arbeit endlich für unseres Lebens Bedarf uns schaffen. Fort vom Staat, soweit er uns gehen läßt oder soweit wir mit ihm fertig werden, fort von der Waren- und Handelsgesellschaft, fort vom Philistertum! Schaffen wir, wir Wenigen, wir, die wir ein Jeder uns als Erbe von Jahrtausenden fühlen, die wir Einfache und Unendliche zu sein empfinden, wir, die wir Götter sind, eine kleine Gemeinschaft in Freude und Tätigkeit, schaffen wir uns um als vorbildlich lebende Menschen. Lassen wir all unsere Triebe aus uns heraus: den Quietismus wie die rührige Betriebsamkeit, die Versunkenheit wie die Festesfreude, den Arbeitsdrang wie den Luxus unseres Geistes.
Und machen wir es uns klar: es gibt keinen anderen Weg für uns. Aus der Skepsis heraus ist dieser innige und bereite Glaube geboren worden; als Verzweifelte wollen wir uns die höchste Freudigkeit des Schaffens bereiten. Wer es schon in sich erlebt hat, der weiß es: wer es in Jahren erfahren hat, daß unsere Völker, wenn sie noch erweckt werden können, nur durch religiöse Genialität, das heißt durch das vorbildliche Leben der Tatmenschen, die ihr Alles daran setzen, zum Aufschwung aus tiefster Gesunkenheit gebracht werden können, dem sind all diese ernsten Dinge Lebensfragen geworden. Wir Wenigen, wir Vorgeschrittenen ­ denn Stolz tut not ­ können und wollen nicht mehr warten. Fangen wir an! Schaffen wir unser Gemeinschaftsleben, bilden wir da und dort Mittelpunkte des neuen Lebens, lösen wir uns los von der unsäglichen Gemeinheit der Mitweltgemeinschaften. Und vor allem auch: unser Stolz muß es uns wehren, von der Arbeit eben dieser Mitmenschen zu leben, und ihnen dafür den feinsten Luxus oder auch den eklen und überflüssigen Abfall unserer Hirne zu verkaufen. Lernen wir arbeiten, körperlich arbeiten, produktiv tätig sein. Und schenken wir dann den geliebten Menschenkindern die erlesenste Blüte unseres Geistes. Möge sich die neue Generation zusammenfinden, der diese Worte aus ernster Seelennot entgegengebracht werden. Durch Absonderung zur Gemeinschaft, das will sagen: Setzen wir unser Ganzes ein, um als Ganze zu leben. Fort von der Oberfläche der autoritären Gemeinheitsgemeinschaft; aus der Tiefe der Weltgemeinschaft heraus, die wir selber sind, wollen wir die Menschengemeinschaft schaffen, die wir uns selbst und aller Welt schuldig sind. Dieser Zuruf ergeht an alle, die ihn verstehen.

(1900)

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