johannes jansen / antje kahl

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72 Seiten / Format 210 x 140 mm
Französische Broschur
unbeschnittener Inhalt / Fadenheftung / Lesezeichen
Ê 15,35
ISBN 3-931337-23-5

 

Vorzugsausgabe
mit fünf Originalgrafiken
im Impressum signiert und numeriert
Auflage 100 Exemplare
Ê 65,15
ISBN 3-931337-24-3

 

Originalgrafik mit Motiv "Männer und Frauen"
Auflage 50 Exemplare
Ê 25,05

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der kleine Transvestit stand im sechsunddreißigsten Stockwerk auf einem Balkon und beobachtete die stechenden Augen der Vögel, die sich mitten im Trubel über die Reste seiner Mahlzeit hermachten, ausgezehrt gierig, als hätten sie eine Frage gestellt, und voller Fliegen in ihrem Gefieder, die Schutz suchten vor dem Wind aus den Testgeländen hinter der Bucht. Was die Tauben nicht fraßen, aßen die Bettler, die täglich und unter Aufbringung all ihrer Kräfte an der Fassade hochkletterten auf der Suche nach einer eßbaren Belohnung für ihren Kraftakt.
Er hatte also den Balkon voll und in dem Moment, da jemand an ihm vorbei flog (nach unten) mit einem Kanarienvogel in der Hand, dachte der kleine Transvestit an das Mädchen mit der leicht geöffneten Kerbe im Kopf. Während die Tauben und Bettler auf die Straße hinunterschauten und sahen, wie der Kanarienvogel den klumpenförmigen Körper seines Besitzers verzehrte, legte der Transvestit seine Hände auf den Kopf des Mädchens und spürte deutlich, unter dem dunklen Haar diese mit weicher Haut überzogene Kerbe. Er schob seine Daumen durch die Haut und den Spalt in ihrem Schädel, schloß seine Finger fest um ihren Kopf und brach ihn auseinander, ganz leicht wie eine angeschlagene Tasse. Er hatte sich auf die Palme gebracht wegen ihr, vor allem wegen der Geräusche, die sie heimlich, doch unüberhörbar, in den unmöglichsten Situationen hervorbrachte. Nun sah er den Horror, den sie die ganze Zeit mit sich herumtrug, und bevor die Fliegen aus dem Gefieder der Vögel den zerbrochenen Kopf entdeckt hatten, studierte er eingehend ihre in den Schädelhälften verborgenen Ängste. Immer, wenn sie die kleinen Viecher aus ihrem Bett stieß, dachte sie an das Wappentier ihrer Existenz. Über dem Geländer eines Treppenhauses, mitten im fragwürdigsten Bezirk ihrer Stadt, hing ein schlangenartiges Wesen in Schwarz, das aus unzähligen Gliedern bestand. Als sie die Treppe hinaufstieg, stieß sie wie zufällig an das Tier, so daß es in seine Einzelteile zerfiel, die sich als käferförmiges Viehzeug entpuppten und alles mit Beschlag belegten, ohne jedoch von anderen Personen zur Kenntnis genommen zu werden. Als die Tiere ihren Körper befielen, spürte sie ihr feuchtes Kneifen wie die Schweißstoß in jenem Moment, da sie ihre angeborene Lebensangst bemerkt hatte, die sie seither mit einer krampfhaften Härte zu tarnen wußte und Höflichkeit zuließ, einzig um Komplikationen zu meiden...
Irgend jemand hatte sie zu dieser seltsamen Party mitgenommen und nach zwei Drinks fiel sie in Ohnmacht. Noch in dem Moment, da sie das Bewußtsein verlor, ahnte sie, daß ihr etwas Giftähnliches in die Drinks gemischt worden war...
Als sie erwachte, sah sie sich von einigen ihr scheinbar bekannten und stark grinsenden Gestalten umgeben, die ihr zu bedeuten schienen, daß etwas Ausgefallenes mit ihr geschehen war. Sie begann lang anhaltend zu husten. Danach mußte sie hart aufstoßen und bemerkte, wie etwas Fußgroßes in ihr aufstieg und ihre Mundhöhle schmerzhaft ausfüllte. Sie konnte nicht feststellen, um was es sich handelte, obwohl es sich zu bewegen schien. Doch als ihr eines der grinsenden Geschöpfe einen Spiegel vors Gesicht hielt und sie ihren prallvollen Mund leicht öffnete, sah sie eine relativ untersetzte Maus mit speichelfeuchtem Fell, die sich durch ihren Umfang im Rachen des Mädchens eingeklemmt hatte, also weder nach unten noch nach vorn zu bewegen war. Sie überlegte, wie sie das Wesen aus ihrem Mund entfernen könnte. Die Maus zu zerkauen schien die einzige Möglichkeit, die nach Abwägung aller Umstände übrig blieb und während sie gemächlich ihre Zähne durch das Fell in die kleinen Sehnen und Knochen trieb, dachte sie darüber nach, wie das Tier in ihren Körper gekommen sein konnte. Es war nicht ganz einfach, da ihr ein Stück Erinnerung fehlte, doch nachdem sie die in Betracht kommenden Varianten durchgespielt hatte, glaubte sie zu wissen, daß ihr jemand die Maus vaginal eingeführt haben mußte als sie ohnmächtig am Boden lag. Sie war sich nicht vollkommen sicher, aber sie spürte ein leicht beunruhigendes Gefühl in der Scham.
... Und nun, da dieses ganze Dreckzeug auf dem Balkon verteilt lag, bekam der kleine Transvestit zum erstenmal eine Ahnung davon, warum sie ihn abgelehnt hatte... Ihn fror und er stieg in ihren Morgenrock, der wie immer an derselben Stelle hing.

 

 

Johannes Jansen Texte

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Seit je findet der Schrecken seine beiläufigste Gestalt in der Zeichnung. Der Schädel und die Sense ­ zehn Striche für den Schnitter Tod. Die Emblematik verband das Bild und die Worte. "Memento mori". Doch das Reich der Zeichen ist längst explodiert, die alten Zuordnungen funktionieren nicht mehr... In ihrem schwarz eingeschlagenen Handbrevier für paranoide Hochstapler und coole Apokalyptiker haben Antje Kahl und Johannes Jansen munter die graphischen Kürzel aus unseren bildbeschwerten Köpfen extrahiert und mitsamt prekär angepaßten Textbrocken zu kleinen, sozusagen postemblematischen Bomben aufgerüstet. Die fragmentarische Schreibweise und die schriftdurchschossene, vor Dichte vibrierende Art zu zeichnen des Johannes Jansen sind bereits seit ein paar Jahren bekannt. Jetzt hat er seinen Stil mit den lakonischeren und dekorativeren Bildformulierungen Antje Kahls gemischt. "Alpträume, leicht gemacht" könnte das Arbeitsmotto der beiden lauten... Das ist so schlicht und so mehrbödig, so komisch und so böse, so luftig und so schwarzgallig, so flach und so hintersinnig, daß es einem heiß und kalt den Rücken runterläuft. "Unsereins" heißt dieses literarische, graphische und typographische Kabinettstückchen ganz eigener Art, und hellsichtig preist es sich selbst an als "zweifelhaft künstlerisches in einer sehr vollkommenen Form (möglicherweise)". So ist es (augenscheinlich).

Hubert Winkels, Die Zeit


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